# taz.de -- Vorläufer der CSU-Deutschpflichtdebatte: Mathe für Ausländer
       
       > „Deutsch für Ausländer“ war mal Pflichtfach. Wenigstens konnten Kinder
       > dort lernen, was es heißt, Widerstand zu leisten.
       
 (IMG) Bild: Schöner Teppich!
       
       Ich habe einen Deutschkurs besucht. Anfang der Achtzigerjahre, im
       hessischen Flörsheim am Main, wo sich meine aus der Türkei eingewanderten
       Eltern niedergelassen hatten. Es war die Zeit, als vielen Ausländern,
       namentlich den Türken, dämmerte, dass ihr Aufenthalt in Deutschland länger
       dauern würde, als sie ebenso wie die Deutschen anfangs angenommen hatten.
       So holten viele erst dann ihre Kinder nach, die sie zurückgelassen oder zu
       Verwandten geschickt hatten. Für diese Kinder gab es „Deutsch für
       Ausländer“.
       
       Im Prinzip waren diese Kurse eine gute Sache, allemal besser als die
       separaten „Ausländerklassen“, die es zur selben Zeit beispielsweise in
       Berlin gab. (Jene Klassen hießen ganz offiziell so, anders als die quasi
       ausländerfreien Klassen oder gar Schulen, die es heute inoffiziell in
       Großstädten gibt und auf deren Elternabenden sich mindestens so viele
       Wähler der Grünen wie der CDU/CSU versammeln dürften.)
       
       Bei uns gab es nur „Deutsch für Ausländer“. Dort saß ich und sollte Sätze
       wie „Mein Name ist Ali“ aufschreiben. Nur verstand ich es nicht. Also den
       Stoff schon, nicht aber, weshalb er mir vorgesetzt wurde. Schließlich
       schrieb ich im regulären Deutschunterricht die besten Aufsätze und machte
       nur selten Fehler bei Diktaten. Doch danach fragte keiner. „Deutsch für
       Ausländer“ war Pflichtfach für alle Ausländer, ebenso wie der
       „Muttersprachliche Unterricht“, den es bei uns nur auf Türkisch gab. Von
       einem „Wahlfach“, wie es auf dem Zeugnis stand, konnte keine Rede sein.
       
       ## Alles auf Türkisch
       
       Türkisch war auch meine Muttersprache, meine Schwester und ich sprachen nie
       Deutsch mit unseren Eltern. Kinder lesen, wenn ihre Eltern lesen, sagen
       Leute, die diese Dinge erforschen. Kinder lernen, wenn ihre Eltern mit
       ihnen reden. Und noch etwas sagen sie und können das mit ganzen
       Lastwagenladungen von Statistiken belegen: Mehr als in jedem anderen
       entwickelten kapitalistischen Land ist in Deutschland der schulische Erfolg
       der Kinder von der Bildung der Eltern abhängig.
       
       Meine Eltern hatten in Jugoslawien, wo sie aufgewachsen waren, nur die
       Grundschule besucht. Dafür kam mein Vater Ende der Sechzigerjahre in
       Istanbul in Kontakt mit der 68er-Bewegung; über ihn politisierte sich auch
       meine Mutter, auch wenn sie nie so aktiv war wie er. Der revolutionäre
       Kampf wurde für meine Eltern der Schlüssel zur Bildung: erst die Klassiker
       des Marxismus-Leninismus, dann türkische und internationale Literatur und
       Geschichte, schließlich – und in kritischer Absicht – Religion. Aber alles
       auf Türkisch.
       
       Warum meine Eltern nur sehr wenig Deutsch gelernt haben – wobei mein Vater
       über den größeren passiven Wortschatz verfügt, während meine Mutter sich
       viel fließender unterhalten kann –, ist eine andere Geschichte. Für meine
       Schwester und mich war es jedenfalls entscheidend, dass in unserer Familie
       gelesen wurde. Lesende Arbeiter, im postnationalsozialistischen Deutschland
       eine exotische Erscheinung.
       
       Nur Deutsch habe ich von ihnen nicht gelernt. Wie ich es lernte, weiß ich
       nicht. Ich weiß nur: Als ich in den Kindergarten kam, einen katholischen
       übrigens, sprach ich nur Türkisch. Ein paar Jahre später, zur Einschulung,
       war mein Deutsch bereits besser als mein Türkisch. In „Deutsch für
       Ausländer“ war ich so gut platziert, wie es [1][Bruno Pezzey] und
       [2][Bum-kun Cha] in meinem Verein DJK Schwarz-Weiss Flörsheim gewesen
       wären.
       
       ## „Schämt euch, der Türke weiß es besser!“
       
       Für jene meiner türkischen, griechischen oder marokkanischen Mitschüler
       aber, die Sprachdefizite hatten, war dieser Kurs mit einem hohen Druck
       verbunden: Wem es nicht gelang, sich in kurzer Zeit für ausreichend
       befundene Deutschkenntnisse anzueignen, wurde in die Sonderschule
       abgeschoben, was damals nicht nur an meiner Schule so gewesen sein dürfte.
       
       Den beiden älteren Schwestern meines besten Freundes Veysel war es so
       ergangen. Nun sollte auch er in die Sonderschule. Mit diesem Bescheid hatte
       sein Vater endgültig genug. Obendrein war er im Zuge der damaligen Baukrise
       arbeitslos geworden. Nach dem „Rückkehrhilfegesetz“, [3][das die
       Kohl-Regierung bald nach Amtsantritt beschlossen hatte], ließen sich
       Veysels Eltern die „Rückkehrhilfe“ sowie ihre eigenen Rentenbeiträge
       auszahlen und kehrten in die Türkei zurück. Heute arbeitet Veysel als
       Lehrer im kurdischen Diyarbakir. Auch seine Schwester Aysel wurde Lehrerin
       – sie unterrichtet in Istanbul Deutsch.
       
       Doch auch für mich blieb „Deutsch für Ausländer“ nicht ohne
       Erkenntnisgewinn. Ich lernte, dass es etwas gab, das mich von meinen
       Klassenkameraden unterschied. Sie waren Deutsche. Nicht, dass dieser
       Unterschied sonst keine Rolle gespielt hätte, wir verabredeten uns manchmal
       zu dem, was wir „Länderspiele“ nannten: „Ausländer gegen Deutsche“ auf dem
       Pausenhof. Aber das war Fußball, jeder konnte gewinnen, und das war nur
       manchmal. „Deutsch für Ausländer“ war immer.
       
       Dort lernte ich noch etwas: Dass man gegen Ungerechtigkeit Widerstand
       leisten kann. Das bedeutet hier: dass man schwänzen kann. Gelangweilt vom
       Stoff und genervt von den frühmorgendlichen Extrastunden, begannen mein
       marokkanischer Freund Mustafa und ich, „Deutsch für Ausländer“ zu
       schwänzen. „Unerhört!“, schimpfte Frau K., als sie davon erfuhr. Das sagte
       sie immer, wenn sie sich über etwas wirklich ärgerte, in zischendem Ton,
       jede Silbe einzeln betonend. „Un-er-hört! Wir zahlen Steuern, damit ihr
       Deutsch für Ausländer besuchen könnt, und ihr schwänzt. Un-er-hört!“
       
       ## Als erster Türke aufs Gymnasium
       
       Nur einmal sagte sie nicht „un-er-hört“: Als ich ihre Frage nach
       irgendwelchen hessischen Mittelgebirgen als Einziger richtig zu beantworten
       wusste, brüllte sie die Klasse an: „Schämt euch, der Türke weiß es besser
       als ihr!“
       
       Doch Frau K. meinte es nicht böse mit mir, jedenfalls nicht immer. Zum Ende
       der vierten Klasse wollte sie mir eine Empfehlung fürs Gymnasium
       aussprechen. Sie besuchte sogar meine Eltern: „Ihr Sohn wäre der erste
       Türke, den wir aufs Gymnasium schicken“, sagte Frau K. Ich übersetzte es
       meinen Eltern, keiner am Tisch empfand diese Formulierung als
       despektierlich.
       
       Meine Eltern überließen mir die Wahl. Ich aber hatte keine Lust, jeden
       Morgen früher aufzustehen und mit der S-Bahn zum Gymnasium nach Wiesbaden
       zu fahren. Das war nur was für die Streber. So kam ich nicht als erster
       Flörsheimer Türke aufs Gymnasium, sondern an die Gesamtschule.
       
       Eine echte Gesamtschule war das nicht, unterrichtet wurde in getrennten
       „Schulzweigen“, nur bei Sport, Werken und in der Pause waren alle zusammen.
       Allerdings wurde erst ab der siebten Klasse getrennt. In den beiden unteren
       Jahrgangsstufen gab es nur in Mathe und Englisch nach Leistung getrennte
       Kurse. Ich war in beidem nicht so gut wie in Deutsch, für die A-Kurse
       reichte es trotzdem.
       
       In der Zwischenzeit musste es sich bis ins Kulturministerium
       herumgesprochen haben, dass es Ausländerkinder gab, die Deutsch konnten.
       Womöglich zeigte sich auch der Einfluss der Grünen, die in dem Jahr, in dem
       ich auf die weiterführende Schule kam, in Hessen an die Regierung
       gelangten, ihre erste Beteiligung an einer Landesregierung überhaupt.
       
       ## Problemfälle wie wir
       
       Warum auch immer, jedenfalls wurden die Ausländerkinder, die keine
       Sprachprobleme hatten, nun von der Teilnahmepflicht an „Deutsch für
       Ausländer“ entbunden – und mussten stattdessen „Mathe für Ausländer“
       besuchen. Mathe für Ausländer! Nicht einmal die Lehrerin nahm das ernst.
       
       Ich habe keine Ahnung, was man sich im Ministerium dabei gedacht hat. Ich
       weiß aber, welche Wirkung spätestens diese Veranstaltung hatte:
       Stigmatisierung und Disziplinierung. Othering würden Anhänger des
       Postkolonialismus sagen. Wir bekamen das Gefühl: Wir sind anders. Wir sind
       Problemfälle, die einer Sonderbehandlung bedürfen. Und zwar alle.
       
       Dieses Gefühl war also schon da, als die Anschläge und Pogrome der frühen
       Neunzigerjahre einsetzten. Prägende Erlebnisse. Doch ich war zuvor schon
       Hippie, dann Punk und Autonomer, „Integration“ hat mich nie interessiert.
       Vielleicht ist das ja die größtmögliche Integration. So oder so,
       [4][jedenfalls ist auch das eine andere Geschichte].
       
       Danach, nach diesen furchtbaren Jahren nach der Wiedervereinigung, begannen
       die Dinge sich allmählich zum Besseren zu wandeln. Aber dieses Gefühl,
       einer Sonderbehandlung unterworfen zu werden, ist sofort wieder da, bei
       jeder [5][bescheuerten Idee irgendwelcher Politiker], bei jeder zweiten
       Talkshow, bei der immergleichen Debatte über die sogenannte Integration.
       Das ist das eigentlich Fatale an solch schwachsinnigen Ideen wie zuletzt
       jener aus der CSU. Nicht dass man befürchten müsste, dies könnte ernst
       werden. Sondern das Gefühl, dass Mathe für Ausländer nie aufgehört hat.
       
       12 Dec 2014
       
       ## LINKS
       
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