# taz.de -- Buchpreis-Gewinner Lutz Seiler: Der überhöfliche Star
       
       > Über Zweifel am eigenen Werk und das Schreiben als immerwährende
       > Baustelle: Mit Lutz Seiler unterwegs auf der größten Buchschau der Welt.
       
 (IMG) Bild: Charmant und konzentriert. Aber eben auch stets darauf bedacht, nicht in ein ungutes Licht gerückt zu werden: Lutz Seiler.
       
       Am Tag vor seiner Abreise wirkt Lutz Seiler irgendwie gelöst. Bei einem
       Kaffee im Innenhof des Frankfurter Messegeländes trägt er das Hemd, in dem
       er vor sieben Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hatte.
       Dunkelblau, mit dünnen weißen Streifen. Schließlich habe es ihm Glück
       gebracht. Er lächelt.
       
       Seit Seiler am vergangenen Montag für seinen Roman „Kruso“ mit dem
       Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, ist er der Star der Buchmesse. Er
       läuft von Interviews zu Lesungen, von Auftritten zu Empfängen. Wo er
       auftritt, bildet sich eine Menschenmenge. Er wird fotografiert, mit Handys,
       mit Profikameras. Ihm werden Fragen gestellt, viele, häufig dieselben. Ob
       der Roman autobiografische Züge habe. Ob Seiler bald Ehrenbürger von
       Hiddensee werde, der Insel, auf der „Kruso“ spielt. Wie seine Recherchen
       über die DDR-Flüchtlinge, die zwischen Hiddensee und der dänischen Insel
       Møn ertrunken sind, verliefen.
       
       ## Charmant, konzentriert – aber auch recht distanziert
       
       Gerade mal zwei Lücken sind in seinem Terminplan für die Buchmesse
       erkennbar – in vier Tagen. Seilers erster Messeauftritt, gleich am
       Eröffnungsmorgen auf dem „Blauen Sofa“ des ZDF, gehört zu den
       „Preisträger-Terminen“. Der Schriftsteller sitzt schon auf der Bühne, bevor
       Moderator Wolfgang Herles in Sichtweite ist. Seilers Blick sucht das
       Publikum ab, die Sitzplätze sind voll, viele Menschen schauen im Stehen zu.
       Er bleibt an einem ihm vertrauten Gesicht hängen. Es ist die
       Suhrkamp-Mitarbeiterin, die Seiler während der Messe auf alle
       Veranstaltungen begleitet und seinen Zeitplan managt.
       
       Als Moderator Herles schließlich kommt, beginnt er mit den üblichen Themen.
       Es geht um den historischen Hintergrund des Romans (Wende) und die Gattung
       (Abenteuerroman, kein Wenderoman). Dann schweift der Moderator langsam ab
       und fragt nach den vereinzelten Sexszenen im Buch („Da machen sie’s ja wild
       durcheinander …“) und ganz generell, ob die Sexualität in der DDR
       tatsächlich so frei war, „wie es immer heißt“. Seiler bleibt sachlich,
       spricht über seinen Protagonisten Ed, der am Anfang der Geschichte sehr
       unerfahren ist und „sexuell befreit werden“ müsse.
       
       Vielleicht sind es Situationen wie diese, die Seiler Journalisten gegenüber
       eher skeptisch stimmen. Nicht dass er unfreundlich wäre, im Gegenteil,
       Seiler ist ein überhöflicher Gesprächspartner, charmant und konzentriert.
       Aber eben auch recht distanziert und stets darauf bedacht, nicht in ein
       ungutes Licht gerückt zu werden. Das macht sich vor allem dann bemerkbar,
       wenn er gerade nicht auf einer Bühne steht.
       
       Es geht auf die Dachterrasse der Halle 3. Dort wird Seiler ein
       Magazinfeature für die Deutsche Welle drehen. Unterwegs holt er seinen
       blauen Militärrucksack hervor, versteckt sich kurz hinter einem Stand, um
       in Ruhe einen Schluck Wasser zu trinken. Ein Kritiker entdeckt ihn dennoch
       und fragt, ob er sich noch an ihn erinnern könne. Seiler sagt ja.
       
       ## Den Mischer laufen lassen
       
       Zwar ist „Kruso“ sein erster Roman, doch gilt Seiler nicht als Fremder im
       Literaturbetrieb. Seit Langem schreibt der 51-jährige gebürtige Geraer
       Gedichte, sein erster Lyrikband erschien vor knapp zwanzig Jahren. Seit
       1997 leitet er das literarische Programm des Peter-Huchel-Hauses in
       Wilhelmshorst. Seiler schrieb Essays, dann Erzählungen, und nun „Kruso“,
       eine Außenseitergeschichte vor historischem Hintergrund, mit
       Gedichtrezitationen und sehr starken Bildern. Poetisch eben, wie man es von
       einem Lyriker erwarten würde. Jeder Satz der 500 Romanseiten sei mit dem
       Ohr gehört, erzählt Seiler. Hundertmal wiederhole er einen Satz, um
       sicherzugehen, dass die Klangfolge stimme. „Prosa ist eine ganz andere
       Sache, sie braucht eine andere Haltung, andere Bewusstseinszustände als die
       Lyrik.“
       
       Seiler vergleicht das Romanschreiben mit einer Baustelle, auf der man sich
       jahrelang aufhalten müsse, um die Konstruktion zu Ende zu bringen. Man
       müsse den Mischer laufen lassen, in einer „kontrollierten Form der
       Abwesenheit“. In „Kruso“ geht es auch ums Arbeiten: Die Figuren Ed und
       Kruso machen den Abwasch einer Gasthausküche. Seilers Bildwelt ist dabei so
       reich, dass man das Besteck auf dem Grund des Spülbeckens klirren hören,
       den warmen Schaum spüren, die Essensreste riechen kann.
       
       Das Interesse an körperlicher Arbeit als literarischem Stoff kommt nicht
       von ungefähr. Der Schriftsteller hat selbst einst in der Küche des
       Gasthauses Klausner auf Hiddensee gespült und, wie seine Figur Ed, eine
       Lehre zum Maurer absolviert. Doch die Arbeitswelt hat sich seither massiv
       verändert. „Die Würde der Arbeit, die Würde des Werkzeugs, die Figur des
       Arbeiters, ist das jetzt alles weg?“, fragt sich Seiler. „Deutet es darauf
       hin, dass wir nun wirklich das Ende des mechanischen Zeitalters erreicht
       haben? Und was bedeutet das überhaupt für unsere Wahrnehmung und unser
       gesamtes Dasein, dass wir das elektronische Werkzeug, mit dem wir es heute
       zu tun haben, nicht mehr verstehen? Dass wir heute mit Dingen operieren,
       die wir nicht mehr selber reparieren können. Das ist ein völlig anderes
       Verhältnis zur Welt.“
       
       ## Ein wichtiger Erfolg für Suhrkamp
       
       Die erste Fassung von „Kruso“ schrieb Seiler mit Bleistift, auf einen
       Ringblock. Das helfe ungemein, weil er bis zuletzt alle Änderungen
       nachverfolgen könne und der ganze Erkenntnisprozess dokumentiert sei. Erst
       die zweite Fassung tippte er am Computer. „Ich habe auch bisher noch nichts
       gefunden, das die Vorteile dieser Technik auch nur annähernd erreicht“,
       sagt er.
       
       Gute Stimmung herrscht am Mittwochabend in der Villa Unseld, wo Seilers
       Verlag Suhrkamp jährlich seinen Kritikerempfang ausrichtet. Verlegerin Ulla
       Berkéwicz begrüßt in ihrer Eröffnungsrede alle anwesenden AutorInnen und
       gratuliert Seiler zu seiner Auszeichnung. Diese ist nicht zuletzt für den
       durch Inhaberstreitereien angeschlagenen Verlag ein wichtiger Erfolg. Auf
       den Preis folgen in der Regel hohe Auflagen. Der letzte Suhrkamp-Autor, der
       2008 gewann, war Uwe Tellkamp, und von seinem Roman „Der Turm“ wurden
       inzwischen fast eine Million Exemplare verkauft.
       
       ## Über die größte Qual des Schreibens
       
       Mit Suhrkamp-Lektorin Doris Plöschberger hat Seiler inzwischen an drei
       Büchern gearbeitet. Sie begleitet ihn zum Forum des Börsenvereins des
       Deutschen Buchhandels am Freitag, um über die Entstehung von „Kruso“ zu
       sprechen, „eine ideale Zusammenarbeit“, wie Plöschberger meint. Die größte
       Qual während des Schreibens habe Seiler die Wahl der Erzählperspektive
       bereitet. Noch kurz vor Fertigstellung des Romans sei er nachts aufgewacht
       und habe gedacht, er hätte doch besser in Ich-Form schreiben sollen. Die
       Entscheidung nahm ihm Plöschberger gerne ab, für sie war ganz klar, dass es
       beim personalen Erzähler bleiben sollte. Dass Seiler beim Interview häufig
       „man“ statt „ich“ sagt, ist vielleicht noch ein Überbleibsel dieser
       Unschlüssigkeit.
       
       Obwohl Seiler vor Verleihung des Buchpreises schon einhellig als Favorit
       ausgerufen wurde, spricht er selbst von dem „Wahnsinn“, wenn er die
       Auszeichnung meint, und beteuert, wie „spannend“ es bis zuletzt für ihn
       gewesen sei. Eine Dankesrede hatte er dennoch vorbereitet, und die war
       etwas Besonderes, weil sie sich um Dichter drehte, die bei einer solchen
       Verleihung meist in Vergessenheit geraten. „Das war kein Jammern“, sagt
       Seiler im Nachhinein, „sondern nur ein Hinweis darauf, dass der
       Literaturbegriff für Autoren ein anderer ist als jener, den diese Liste
       [Anm. d. Red: Shortlist] suggeriert. Und wenn ich das als Lyriker nicht
       mache, wer sollte es sonst tun?“
       
       13 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fatma Aydemir
       
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