# taz.de -- Erschossener Verdächtiger in Bayern: Der „Einzelfall“
       
       > Nach den tödlichen Schüssen auf André B. durch einen Zivilfahnder ist die
       > Gemeinde entsetzt. Das LKA redet Fälle von Polizeigewalt in Bayern klein.
       
 (IMG) Bild: Idyllisches Burghausen. Hier wurde von der Polizei ein Mensch erschossen.
       
       BURGHAUSEN taz | Der sechsjährige Aria sagte zu seiner Mutter: „Mama, die
       bringen uns um.“ In der Nacht schreckte er hoch, vor dem Fenster immer noch
       grelles Licht. „Sind sie noch da?“ Sebastian, fünf Jahre alt, redet nicht
       über das, was er gesehen hat. Er spielt mit seinen Plastikdinosauriern,
       wirft einen um. „Toter Mann.“
       
       Sein Bruder Alex, 15 Jahre alt, Baseballkäppi, weites T-Shirt und kurze
       Hosen, zuckt lässig mit den Schultern. „Kein Problem“, sagt er. Dann blickt
       er wieder auf seine Hände auf dem Küchentisch, zupft weiter an seinem
       Daumennagel rum. Was er gesehen hat? Er spreizt Daumen und Zeigefinger weit
       auseinander, streckt seinen Arm aus und spielt die Erschütterung nach, die
       bei einem Schuss durch den Körper geht. Dann hebt er zwei Finger. Es waren
       zwei Schüsse letzten Freitag.
       
       Aria, Sebastian und Alex spielten Fußball im Hof. Da rannte ein Mann um die
       Ecke, Andre B., 33 Jahre alt. Seine Freundin wohnt im gleichen Haus. Hinter
       ihm zwei Männer, einer holt eine Pistole raus, schießt einmal in die Luft.
       Nur ein paar Sekunden später der zweite Schuss. Er trifft Andre B. am
       Hinterkopf. „Pusch“ macht das Blut, wenn es aus dem Kopf schießt, erzählt
       der fünfjährige Sebastian später seiner Mutter.
       
       Der Schütze war ein Zivilfahnder. Er und sein Kollege verfolgten Andre B.,
       der erst vor knapp einem Jahr aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er fünf
       Jahre wegen Drogengeschichten saß. Jetzt lag wieder ein Haftbefehl wegen
       Drogenhandels gegen ihn vor. Andre B. dealte nicht mit Koks oder Crystal
       Meth, sondern mit Marihuana. Er war nicht bewaffnet, hat seine Verfolger
       nicht bedroht. Trotzdem schoss der Zivilpolizist. Andre B. starb, noch
       bevor der Notarzt kam.
       
       ## Schütze vom Dienst suspendiert
       
       Die Staatsanwaltschaft Traunstein ermittelt gegen den Schützen wegen
       fahrlässiger Tötung. Er hätte eigentlich auf die Beine gezielt, sagt er.
       Vom Dienst wurde er suspendiert. Das sei nicht als „Vorverurteilung“ zu
       verstehen, heißt es von seiner Dienststelle. Polizisten dürfen ihre Waffe
       benutzen, um eine Person, „die in amtlichem Gewahrsam zu halten oder ihm
       zuzuführen ist“, an der Flucht zu hindern. So steht es im bayerischen
       Polizeiaufgabengesetz. Dort steht allerdings auch, dass, bevor zur Waffe
       gegriffen wird, andere Maßnahmen „keinen Erfolg versprechen“ dürfen.
       
       Diese „anderen Maßnahmen“ scheinen in Bayern sehr schnell erschöpft zu
       sein. Von 2009 bis 2013 kamen in ganz Deutschland jedes Jahr zwischen 6 und
       8 Personen durch Schüsse von Polizisten zu Tode. Bayern war bis auf 2011
       immer mit dabei. Der Fall des Regensburger Musikstudenten Tennessee
       Eisenberg sorgte 2009 in ganz Deutschland für Empörung. Mit mindestens
       zwölf Schüssen durchlöcherten ihn Polizisten. Er hatte sie angeblich mit
       einem Messer bedroht. 2013 ereigneten sich sogar 3 von bundesweit 8
       Todesfällen im Freistaat. Trotzdem: Der tödliche Schuss in Burghausen –
       laut einem LKA-Sprecher ein „absoluter Einzelfall“.
       
       Wie konnte ein Polizist schießen, wenn Kinder im Hof waren? Auf einen
       Fliehenden, der ihn nicht bedrohte? Der „nur“ mit Marihuana dealte?
       
       ## „Das hast du nicht verdient, Bro“
       
       An dem Ort, wo Andre B. starb, stehen jetzt Grablichter, daneben weiße und
       rote Rosen und ein Zettel: „Du wirst uns fehlen, Andre. Das hast Du nicht
       verdient, Bro“. Eine Nachbarin beugt sich aus dem Fenster, zeigt in den
       Hof: Eine blaue Rutsche, ein rotes Bobbycar und Plastikstühle mit einem
       Tisch. „Da spielen Kinder, wir sitzen da und trinken unseren Kaffee. Was
       ist wenn wir in die Schusslinie kommen?“, sagt sie.
       
       Aria, der Sechsjährige aus Haus drei, erzählt, wie er zwischen dem ersten
       und zweiten Schuss noch „blitzschnell“ losgeflitzt ist, um den Ball zu
       holen. In Haus zwei zeigt die Mutter des Fünfjährigen mit den Dinosauriern
       auf einer Skizze vom Hinterhof, wo Sebastian saß, als der tödliche Schuss
       abgefeuert wurde: vor dem mittleren Eingang der drei Häuser, rechts von ihm
       der Polizist, links von ihm Andre B.
       
       „Es ist unbegreiflich“, sagt eine Mutter. Dass geschossen wurde, als ihr
       Sohn im Hof spielte, genauso wie das Verhalten der Polizisten nach dem
       tödlichen Schuss. Mehrere Nachbarn bestätigen, sie hätten keine erste Hilfe
       geleistet. Einer sei reglos über Andre B. gestanden, während sein Kollege
       im Hof herumlief und telefonierte. Noch bevor der Notarzt kam, soll der
       Körper von Andre B. mit einer Decke zugedeckt gewesen sein. Das LKA
       behauptet, der Polizist habe dem getroffenen Mann den Puls gefühlt und
       nichts mehr gespürt. Der Notarzt habe nur noch den Tod festgestellt und sei
       schnell zur Stelle gewesen.
       
       ## Notarzt ließ auf sich warten
       
       Auch da schütteln viele Anwohner den Kopf. Die Mutter von Sebastian holt
       ihr Handy aus der Tasche. Um 17.50 Uhr habe sie ihrer Mutter in der
       Dominikanischen Republik eine SMS geschrieben, kurz nach dem ersten Schuss.
       Als ihre Familie später anrief, zeigte ihr Handy 18.30 Uhr an. Ein Notarzt
       war da noch nicht im Hof, meint sie. Sieben Minuten vorher bat ihre
       Nachbarin ein Haus weiter ihre Freundin, mal auf die Uhr zu schauen. „Für
       mich lag der schon ewig da unten“, sagt sie. Das nächste Krankenhaus sei
       mit dem Auto aber höchstens sieben Minuten entfernt.
       
       Noch etwas kommt den Anwohnern komisch vor. In den Medien hieß es, die
       Fahnder hätten Andre B. zufällig bei einer Streifenfahrt erkannt. „Die
       haben auf ihn gewartet“, sagt eine Anwohnerin. Im Sommer sitzt sie oft auf
       ihrem Balkon mit dem großen orangenen Sonnenschirm. An dem Freitag hat sie
       sich geärgert, weil ein grauer Mercedes so blöd geparkt hatte. Sie merkte
       sich das Nummernschild: MÜ für Mühldorf, der Ort, an dem wohl die zivile
       Fahndungsgruppe des Schützen sitzt. Ein, zwei Stunden vor den Schüssen sei
       das Auto schon da gewesen. Wenn die Fahnder auf die Situation vorbereitet
       waren, warum haben sie dann so unbedacht gehandelt?
       
       Warum haben sie überhaupt geschossen? Es wäre sicher nicht die einzige
       Möglichkeit für sie gewesen, Andre B. zu fassen. Obwohl er wusste, dass
       gegen ihn ein Haftbefehl vorlag, versteckte er sich nicht. Er ging mit
       seinen Kumpels an den See, saß mit seiner Freundin im Kino-Café in der
       Stadt. Jeden Tag war er im Fitnessstudio.
       
       ## „Die haben einfach kein Herz“
       
       Die Fahnder wussten, wo die Wohnung seiner Mutter ist, bei der Andre B.
       wohnte. Sie hatten dort schon vergeblich nach Drogen gesucht. Sie kannten
       auch die Wohnung seiner Freundin Karo S., zu der er an seinem Todestag
       wollte.
       
       Karo S. steht vor ihrer Haustür. Die 20-Jährige ist hübsch, in ihrer Nase
       steckt ein kleiner, silberner Knopf, ihre rotblonden Haare hat sie in einem
       Dutt auf dem Kopf zusammengebunden. Seit circa eineinhalb Jahren waren sie
       und Andre B. ein Paar. Sie wollten zusammenziehen. „Es ist einfach nur
       krank“, sagt sie und in ihren Augen ist mehr Wut als Trauer. Ihr Freund
       hätte keiner Menschenseele etwas getan, sagt sie. Als sie zu ihm lief,
       hielten sie die Polizisten zurück. „Die haben einfach kein Herz.“ Sie
       blickt auf ihre Füße, tritt mit einem auf die Zehenspitzen des anderen,
       will nichts mehr sagen. Doch eins noch: Der Schütze soll die gleiche Strafe
       bekommen wie jeder andere Mensch. „Nur weil sie Uniform tragen, sind sie
       nichts Besseres“, sagt sie.
       
       ## Anwalt rechnet mit Bewährungsstrafe
       
       Der Anwalt von Andre B., Erhard Frank, weiß es besser. Noch zwei Tage bevor
       er starb, saß Andre B. ihm in seinem lichtdurchfluteten Büro gegenüber.
       Jetzt vertritt Frank seine Mutter. Sie will, dass ihr Anwalt mindestens
       drei Jahre Haft für den Mann fordert, der ihren Sohn erschoss. Frank muss
       lachen. „Der kriegt maximal eine Bewährungsstrafe“, sagt er. Falls es
       überhaupt zur Anklage kommt.
       
       Laut Tobias Singelnstein, Rechtsprofessor an der FU Berlin, passiert das
       nur bei 3 Prozent aller Verfahren, in denen Polizisten sich wegen
       Körperverletzung im Amt verantworten müssen. „Kollegen decken sich häufig
       gegenseitig“, sagt er. In anderen Bundesländern sei es schon lange
       Standard, dass die betroffene Dienststelle nicht in eigener Sache
       ermittelt. In Bayern gilt das erst seit 2013. Seitdem übernimmt das LKA die
       Fälle. Doch auch dort ermitteln Polizisten gegen Polizisten und haben wohl
       „mehr Verständnis“ als Mitarbeiter einer unabhängigen Behörde, meint
       Singelnstein. „Damit Polizeigewalt auch innerhalb der Polizei geächtet
       wird, braucht es gesellschaftlichen Druck“, sagt er.
       
       Die Burghauser versuchen alles, dass nicht in Vergessenheit gerät, wie
       Andre B. starb. Eine Woche nach seinem Tod kamen rund 200 zu einer stillen
       Mahnwache zusammen. Mit Hunderten von Grablichtern erinnerten sie an den
       „Einzelfall“ Andre B.
       
       3 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lisa Schnell
       
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