# taz.de -- Marcel Cohens Familiengeschichte: Die Stille in mir
       
       > „Raum der Erinnerungen“: Besuch bei Autor Marcel Cohen in Paris. Er hat
       > ein Buch über seine Familie geschrieben, die in Auschwitz gestorben ist.
       
 (IMG) Bild: Er ist der wohl höflichste Mensch der Welt: Marcel Cohen.
       
       Er war mit dem Kindermädchen spazieren. Als sie zurückkommen, verweigert
       die Concierge ihnen den Zugang ins Haus. Es war ein Sonntag im August 1943,
       Marcel ist fünfeinhalb. Von der anderen Straßenseite aus sieht er, wie
       seine gesamte Familie verhaftet und auf einen Lastwagen verfrachtet wird.
       Ohne dass die Polizisten es sehen, macht die Mutter ein Zeichen:
       Verschwindet. Die Nazis nahmen ihm seine Eltern, seine Schwester, seine
       Großeltern, zwei Onkel und eine Großtante. In seinem Buch „Raum der
       Erinnerung“ widmet Marcel Cohen jedem dieser Menschen ein Kapitel.
       
       Er hat alles aufgeschrieben, was er über sie weiß. Es ist nicht viel.
       „Dieses Buch ist aus Erinnerungen gemacht, und viel mehr noch aus
       Schweigen, aus Lücken, aus Vergessen“, schreibt Cohen. Der Autor zitiert
       Anekdoten und Erzählungen von Verwandten, die überlebt haben. Teils sind es
       abenteuerliche Geschichten, wie die des Nachbarn, der durch das Fenster in
       die verwüstete Wohnung steigt, um die Wertstücke der Familie zu retten.
       Teils sind es Kindheitserinnerungen, die Cohen durch kursive Schrift
       markiert. Er will nichts erfinden, nichts verfälschen.
       
       Der Autor wohnt mit seiner Frau Jacqueline im 7. Arrondissement, ganz in
       der Nähe vom Eiffelturm. Die Haustür lässt sich mit einem Code öffnen, eine
       sehr schmale verkrümmte Holztreppe führt in den ersten Stock. Dann steht
       man im Wohnzimmer der Cohens. An den Wänden hängen Radierungen von Gisèle
       Celan-Lestrange, die Celans waren Freunde. Auf dem Balkon steht ein
       Orangenbaum, die Sonne scheint. Alles strahlt Ruhe aus, und Stil. Wir
       setzen uns gegenüber vom Kamin auf ein schwarzes Ledersofa.
       
       Marcel Cohen ist 1937 geboren und wirkt viel jünger. Und: Er ist der
       höflichste Mensch der Welt. Er bedankt sich für das Interesse, nimmt sich
       Zeit, bietet Getränke an. Auf einem Silbertablett bringt er dann nicht nur
       Gläser, sondern auch einen Porzellanteller mit Zitronenscheiben. Das Buch
       ist weniger Literatur als vielmehr ein Stück Geschichte. Cohen erklärt
       seine Regeln: „Keine Recherche, keine Fiktion.“ Sonst verwandeln sich die
       Menschen in Figuren, und genau das will er nicht. Es ist die Wahrheit, die
       am meisten schockt. Deswegen lautet der Untertitel „Tatsachen“, eine
       Trilogie des Autors heißt ebenfalls „Faits“.
       
       ## Ein goldenes Armband mit dem Namen der Schwester
       
       Während des Gesprächs steht Cohen immer wieder auf und holt Bücher, eigene
       und andere. Auswendig zitiert er Stefan Zweig, Walter Benjamin, Jean-Luc
       Nancy, Augustinus. Und er bringt die Objekte, die im Buch abgebildet sind:
       eine kaputte Geige. Einen Eierbecher. Einen kleinen Spielzeughund, den der
       Vater aus gelbem Wachstuch nähte. Ein goldenes Armband mit dem Namen der
       Schwester. Mit Knoten, weil ihr Handgelenk so klein war. Cohen schüttelt
       die Geige, um ihr Inneres klappern zu hören.
       
       Den Eierbecher hatte die Mutter 1939 einer Freundin geschenkt. Diese
       bewahrte ihn 70 Jahre lang auf und gab ihn dann Cohen. Für ihn ist das der
       Beweis, dass Marie doch eine besondere Frau war. Zumindest für diese
       Freundin. Er schreibt: „Der kleine Eierbecher ist nicht nur die Konkretion
       einer Erinnerung. Ist es überzogen, in ihm die Qualität dieses Erinnerns
       schlechthin zu sehen? Seine Textur, etwas so Ungewisses wie den Widerschein
       einer Aura?“ Marie war 28, als sie deportiert wurde. „In dem Alter gibt es
       noch nicht viel über einen Menschen zu sagen.“
       
       ## Keine andere Gedenkstätte
       
       Cohen hebt die Schultern. Mit dem Buch wollte er einen „Ort für all die
       Widersprüchlichkeiten“ schaffen. Und für die Erinnerung. „Das Buch ist ein
       Grab“, sagt er. „Meine Eltern haben keine andere Gedenkstätte. Ich habe
       ihnen gegenüber damit eine Pflicht erfüllt.“ Außerdem will er, dass man die
       Opfer des Holocaust aus der Anonymität holt, ihre individuellen Geschichten
       erzählt, ihre Gesichter erinnert. Sechs Millionen ermordete Juden – die
       Zahl bleibe sonst abstrakt. Cohen schüttelt den Kopf. „Über Eichmann weiß
       man alles. Über seine Opfer weiß man nichts.“
       
       Deswegen habe er auch den Prix Wepler angenommen. Im Buch beschreibt Cohen,
       wie die Mutter immer einen großen Bogen um die Brasserie Wepler machte. In
       dem Café saßen Tag und Nacht deutsche Soldaten. Wenn Marie sich ohne den
       gelben Stern auf die Straße wagte, pfiffen sie ihr hinterher, als Jüdin
       wurde sie beschimpft. Auch der Sohn mied das Café. Die Jury entschied sich,
       ihm den Preis zu verleihen – trotz des Risikos, dass der Autor nicht zur
       Übergabe erschiene. Die Zeremonie findet im Café Wepler statt. Aber der
       Autor sah es als Chance und betrat das Café – mitsamt dem Foto seiner
       Mutter. „Voilà.“
       
       Jedem der acht Kapitel stellt Cohen ein Foto voran. Von der kleinen
       Schwester gibt es keins. Die Geburtsurkunde und das goldene Armband sind
       die einzigen Zeichen ihrer Existenz. Nach der Verhaftung im August 1943
       lebt Monique gemeinsam mit der Mutter im überfüllten Hôpital Rothschild.
       Die Nazis warten, bis die Säuglinge das „erforderliche Mindestalter“ für
       Auschwitz erreicht hätten. Der Schock, die Angst, dazu Mangel an Schlaf,
       Privatsphäre, Lebensmitteln und Hygiene – die Mutter altert innerhalb
       kürzester Zeit. Büschelweise verliert sie ihr Haar. Diffuse Alopezie lautet
       die Diagnose im Nachhinein, der Autor hat Dermatologen gefragt.
       
       Auch Parfümeure, Violinisten und einen Instrumentenbauer bittet Cohen um
       Hilfe. Wie ein Detektiv will Cohen der eigenen Erinnerung auf die Spur
       kommen. Dazu benutzt er unter anderem seinen Geruchssinn. „Der erste
       Geruch, den wir kennenlernen, ist der Hals unserer Mutter“, sagt er. Das
       geht tief. Er schließt die Augen und schnuppert an einem imaginären Parfüm.
       Das Eau de Cologne seines Vaters hat er tatsächlich wiedergefunden. Die
       Musiker sollen die Fotos beurteilen, auf denen der Vater Geige spielt.
       Cohen kann sich nicht erinnern, ihn je spielen gehört zu haben. Während der
       Besetzung wäre es fatal gewesen, auf sich aufmerksam zu machen.
       
       Beide Eltern wuchsen in der Türkei auf und besuchten französische
       Gymnasien. In der Familie sprachen sie Ladino, die romanische Sprache der
       sephardischen Juden, so waren sie dreisprachig. Frankreich war das Land
       ihrer Träume, es war „das Land Racines, der Aufklärung und der Revolution
       von 1789, die den Juden die Bürgerrechte gewährte“, schreibt Cohen. 1939
       will sich der Vater als Freiwilliger melden. Erst als ihm gesagt wird, die
       französische Armee brauche keine Juden, lernt er das Land auch anders
       kennen.
       
       Cohen erzählt die Geschichten seiner Eltern, sich selbst hält er im Buch
       zurück. Für ihn ist der Autor jemand, der sieht und zeigt. Szenisch spielt
       er seine Rolle nach und weist Richtung Küche: „Habt ihr das gesehen? Habt
       ihr das verstanden?“ Alles, was er sagt, klingt ernst, bedacht. „Aber ich
       spreche auch über mich, denn es ist viel Stille in dem Buch. Und diese
       Stille, die ist in mir.“ Marcel überlebt nur dank der resoluten Concierge,
       dem Kindermädchen, das ihn auf dem Land versteckte, und einem Freund der
       Eltern, der dem Jungen falsche Papiere beschaffte.
       
       ## Vier Pfennig pro Kilometer
       
       Es geht ihm um die Tatsachen, betont Cohen noch einmal. Zum Beispiel den
       Fakt, dass die Juden ihre Fahrt nach Auschwitz selbst bezahlen mussten.
       Vier Pfennig pro Kilometer, für Kinder galt der halbe Preis. Kleinkinder
       unter vier Jahren fuhren umsonst. Wie Primo Levi ist Cohen der Meinung,
       dass Auschwitz nie aufgehört habe: Bis heute müssen in China die
       Angehörigen die Todesstrafe bezahlen. Auf der ganzen Welt werde der Mensch
       als „Ressource“ gehandelt. Auch in den Lagern sprachen die Nazis nicht von
       den Juden als Menschen, sondern als „Stücke“.
       
       Er zieht die Konsequenzen und schreibt das Buch. So wehrt er sich nicht nur
       gegen das Vergessen, sondern auch gegen das ständige Abschieben von
       Verantwortung und gegen die Behandlung der Menschheit als Masse. Jede der
       acht Personen beschreibt er als Individuum. Er erinnert, wie die Großmutter
       Sultana sich Luft zufächelt. Die Geste, wenn die Mutter den Stern verbirgt.
       Den Schwindel, wenn der Vater ihn auf die Schultern hebt. Es sind wenige,
       einfache Bilder, und es ist eine schlichte Sprache. Das ist es, was am
       meisten trifft.
       
       14 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Catarina von Wedemeyer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
       
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