# taz.de -- Kunst in der Türkei: Kritische Aussichten über Istanbul
       
       > Aus einer islamisch-konservativen ist eine reaktionäre Regierung
       > geworden. Das zeigt der Umgang mit der zeitgenössischen Kunst in der
       > Türkei.
       
 (IMG) Bild: Museumsbesucher in Istanbul.
       
       Kann sein, dass ich mich täusche, aber vor zwei, drei Jahren gab es nicht
       so viele Kopftuch tragende Frauen in dem gewaltigen Menschenstrom, der sich
       tagtäglich durch die Istiklal, Istanbuls Einkaufsmeile, wälzt. Der rasante
       Wirtschaftsboom hat zu einem fast schon prima Konsumverhalten, aber auch zu
       einer diffusen Unzufriedenheit geführt. Das Kopftuch wird enger geknüpft.
       Die Geschwindigkeit, mit der sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in der
       Türkei, vor allem in ihren Metropolen, verändert haben, war nicht nur dazu
       angetan, den Einzelnen besser zu stellen, sie hat auch gründlich
       verunsichert.
       
       Ein wetternder Patriarch – ängstlich, paranoid, geschichtsvergessen, brutal
       – kann mit seinen rückwärtsgewandten Parolen in einem Land, das sich in
       kurzer Zeit vom Drittland zur Wirtschaftsmacht emporgearbeitet hat,
       identitätsstiftend wirken. Viel bleibt dabei auf der Strecke, und rasch
       wird aus einer islamisch-konservativen eine islamisch-reaktionäre
       Regierung. Das lässt sich auch am Umgang mit der zeitgenössischen Kunst,
       der eigenen und der internationalen, ablesen.
       
       Natürlich gibt es Museen; die Kunstschätze des Osmanischen Reichs werden
       bewahrt, gepflegt und ausgestellt. Ein staatliches oder kommunales Museum
       für moderne und zeitgenössische Kunst gibt es nicht. Von jeher war es
       aristokratische Pflichtübung der Oberschicht zu sammeln und so die
       Einflüsse der arabischen, der zentralasiatischen und mediterranen Kultur
       anschaulich zu vereinen.
       
       Sammeln ist immer auch Prestige, dass es aber zur unverzichtbaren Aufgabe
       werden kann, haben etliche der Nachkommen aus diesen einflussreichen
       Familien erkannt, freilich auch in dem Bewusstsein, dass der derzeitige
       Ministerpräsident mit nicht nur uneigennütziger Unterstützung der großen
       Unternehmen und ihrer Bosse an die Macht gekommen ist.
       
       Da trifft es sich ausgezeichnet, dass man heute, wo das System Erdogan
       bedrohlich aus dem Ruder zu laufen scheint, bei der urbanen, global
       vernetzten Bevölkerungsschicht mit aktuellen, weltweit beachteten und
       gehandelten Kunstwerken punkten kann, mit Workshops,
       Artist-in-Residence-Programmen und allem, was sonst noch dazugehört. Ein
       verdienstvoller, sicherlich weithin erwünschter Ansatz, mit dem
       international gepflegten, gesellschaftlichen und kulturellen Standard
       Schritt zu halten, ist es allemal.
       
       ## Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee?
       
       Die nach wie vor wohl reichste Familie wirkt über die 1969 gegründete Vehbi
       Koç Foundation in humanitären und kulturellen Bereichen. Mehr als zehn
       Prozent der türkischen Wirtschaftsexporte sind der Koç Holding zuzuordnen.
       Das ist nicht nur viel, sondern macht auch unabhängig und ziemlich
       unangreifbar.
       
       Die Sammlungen der Koç-Familie sind nicht öffentlich zugänglich, 2010
       eröffnete die Foundation auf der Istiklal zwischen Klamottenläden und Cafés
       Ausstellungsräume, zeigt dort zeitgenössische Künstler, Marc Quinn etwa,
       Mona Hatoum oder Videos von Kutlug Ataman (ein bis vor Kurzem wichtiger und
       aufmüpfiger Mann, der sich in den jüngsten Auseinandersetzungen mit
       unfassbar verächtlichen Äußerungen auf die Seite der Regierung stellte und
       damit für immer diskreditierte).
       
       Mehil Fereli, Chefkurator von Koç Contemporary, beschreibt diesen Ort,
       Arter, als Versuchsanordnung des privaten Museums für zeitgenössische
       Kunst, das 2016 eröffnet wird. Ein Prestigeprojekt, das dem
       Ministerpräsidenten unverständlich bleiben könnte – der überlegt inzwischen
       lieber, ob er die 1934 säkularisierte Hagia Sophia mit größtmöglicher
       populistischer Wirkung vom Museum zur Moschee umwidmen und somit die
       angestrebte Verbindung von nationaler und religiöser Identität befeuern
       kann.
       
       Auch Ahmet Koçabiyik, Chairman der Borusan Holding, hat beschlossen, seine
       Sammlung zu zeigen. Der Firmensitz, eine Art Märchenschloss am Bosporus,
       beherbergt nach entsprechendem Umbau die mit Kunstwerken aus der Sammlung –
       überwiegend Gemälden, Skulpturen und Fotografie – bestückten Büros der
       Firmenleitung und bietet viel Platz für wechselnde Ausstellungen.
       
       Am Wochenende flanieren die Besucher an den Schreibtischen entlang, blicken
       übers Wasser auf die Hügel und sehen – derzeit – New Media Art aus dem
       SFMoMa (San Francisco), darunter Klassiker des Videoveteranen Bill Viola
       oder, auf der Terrasse, eine Acht-Kanal-Audioskulptur von Bill Fontana.
       Borusan hat den Schwerpunkt der Sammlung strikt auf Medienkunst verlagert,
       was ihr eine gesonderte Position im Reigen der dem Publikum geöffneten
       Privatsammlungen verleiht.
       
       Auch hier wird mit einer Reihe von Experten zusammengearbeitet, die New
       Yorker Kuratorin Kathleen Forde ist für die Wechselausstellungen zuständig
       und nutzt ihre Kontakte zu den amerikanischen Museen. Man ist professionell
       und hebt sich nicht zuletzt dadurch von denen ab, die Kunst kaufen, sich
       aber, oftmals ungenau beraten, auf dem Kunstmarktparkett reichlich unsicher
       bewegen.
       
       Vorreiter waren Sevda und Can Elgiz, die 2001 das erste Non-Profit-Projekt
       mit zeitgenössischer Kunst starteten. Niemand widmete sich zu jener Zeit in
       musealem Kontext den Hervorbringungen aktueller türkischer Künstler. Aus
       dem Projekt wurde 2005 ein Museum, in dem die Schlüsselwerke der Sammlung,
       Arbeiten von Julian Schnabel, Cindy Sherman, Andy Warhol, Gilbert & George
       etc., vorgestellt wurden. In den Wechselausstellungen mussten junge, meist
       türkische Künstler Paroli bieten.
       
       Ein ganz besonderes Anliegen ist der eigens auf einer riesigen Terrasse
       arrangierte Skulpturengarten mit sorgfältig ausgewählten Arbeiten junger
       Künstler. Dieser Fokus ist schon deshalb spannend, weil es im Islam bis
       heute ein zwiespältiges Verhältnis zur Darstellung von Gegenständen gibt,
       „die Schatten werfen“.
       
       ## Impulse für Istanbul
       
       Vor dem Büroturm stehen zwei Steinskulpturen von Mehmet Aksoy, dem
       international, vor allem in Deutschland bekannten Bildhauer. Sein in der
       Stadt Kars 2006 errichtetes, 30 Meter hohes „Denkmal der Menschlichkeit“,
       das zur Versöhnung zwischen Armeniern und Türken mahnt, ließ Erdogan 2011
       einreißen; er fand es monströs. Das Entsetzen war groß. Aksoys auf
       Elgiz-Firmengrund aufgestellte Figuren sind unantastbar, der Unternehmer,
       der viel zur herausragenden wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt, sowieso.
       
       Unter diesen Bedingungen ist zu begrüßen, dass der Kunstbetrieb, zumindest
       was die aktuellen Strömungen betrifft, in den Händen (und Köpfen) säkular
       und laizistisch ausgerichteter, dabei wohlhabender und weltläufig
       agierender Bürger ist, die in der Regel eine hervorragende internationale
       Ausbildung genossen haben. Elite im besten Wortsinn, vorausgesetzt, sie
       wird nicht von Ataman’schen Metamorphosen heimgesucht.
       
       Doch das ist zumindest von denen, die sich ihre Unabhängigkeit einigermaßen
       bewahrt haben, nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Biennale und die
       Ausstellungen in dem Privatmuseum Istanbul Modern, gegründet und geleitet
       von den Eigentümern eines Pharmakonzerns, bringen regelmäßig Impulse in die
       Stadt. SALT, eine von Banken installierte Kulturinstitution mit
       Forschungsabteilungen, Bibliothek und Ausstellungsprogramm, schert sich
       nicht um die fehlende Aufmerksamkeit irgendwelcher Autoritäten, sie agiert
       fakultäts- und länderübergreifend.
       
       Da passt es auch ins Bild, dass ein junger Anwalt und Sammler, Spross einer
       kunstsinnigen Familie, die in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindende
       Messe für zeitgenössische Kunst Artinternational (26.–28. 9.) mit ins Leben
       rief. Mehmet Ali Bakanay kennt die Messen weltweit, weiß um die Gefahren,
       wenn kommerzielle Aspekte die Oberhand gewinnen. Eine gute Messe, sagt er,
       könne auch ein wichtiger Schritt der Annäherung sein, der künstlerischen
       und der gesellschaftlichen, denn sie sei immer auch ein Ort des Austauschs.
       Unter den gut 80 Ausstellern sind die wichtigsten Galerien Istanbuls, Rodeo
       etwa, NON, Mana, Rampa und Empire Project, einige deutsche Vertreter wie
       Kuckei und Kuckei und Global Player wie Lisson aus London. Ein
       ambitioniertes Projekt mit Potenzial, das der zu disparat aufgestellten,
       ein wenig bräsigen Contemporary Istanbul (13.–16. 11.) den Wind aus den
       Segeln nehmen könnte.
       
       Kann sein, dass ich mich täusche, aber eines Tages könnte der türkischen
       Regierung auf ihrem gnadenlos unüberlegten Weg in die Isolation doch noch
       auffallen, dass die Kunst nicht nur Stimulans des intellektuellen
       Establishments und der Jungen ist, sondern das ideale Instrument der
       Aufklärung und Kritik. Kann sein, dass das dann schon der Augenblick ist,
       in dem sie alles verloren hat.
       
       8 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annegret Erhard
       
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