# taz.de -- Brasilianischer Weltmeister über die WM: „Die Fans machen die Magie“
       
       > Das Turnier läuft für Brasilien besser als gedacht, sagt Raí, Kapitän der
       > Weltmeistermannschaft von 1994. Es werde ein Motor für Veränderungen
       > sein.
       
 (IMG) Bild: Ein Land putzt sich raus. Und auch Ex-Weltmeister Raí darf als Girlandenaufdruck wieder Teil des Spektakels sein.
       
       taz: Raí, sind heute die gleichen Zuschauer im Stadion wie bei früheren
       Weltmeisterschaften? 
       
       Raí: Es ist ein anderes Publikum. Früher waren das leidenschaftliche Fans,
       die auch ohne WM ins Stadion gegangen sind.
       
       Und heute? 
       
       Die Fifa hat eine Menge Kooperationen, also vergibt sie viele Einladungen
       an Firmen. Diese Entwicklung begann in den neunziger Jahren. Die
       Fußballweltmeisterschaft ist sehr beliebt, deshalb ist diese Entwicklung
       unvermeidlich. Aber man sollte versuchen, eine Balance zu finden. Ein Teil
       kann für die Elite reserviert sein, das ist einfach so. Aber ein Teil
       gehört auch dem Volk.
       
       Was hat das für Auswirkungen? 
       
       Die Fans sind Teil des Spektakels und nicht nur Zuschauer. Sie machen das
       Klima im Stadion aus; die Magie. Auch die brasilianischen Spiele werden
       teurer. Das können die Clubs nicht zulassen, sie müssen etwas unternehmen.
       Die Elitisierung des Fußballs ist ein neues Phänomen hier in Brasilien. In
       Europa ist das schon länger so.
       
       Waren die Demonstranten so wütend, weil mit öffentlichen Mitteln Stadien
       gebaut wurden, in die sie selbst nicht reinkönnen? 
       
       Nein, ich glaube die Proteste von letztem Jahr hatten eine andere
       Motivation. Kritik an Verkehr, Bildung und Gesundheit. Es war ein Zufall,
       dass sich der Ärger kurz vor der WM entlud. Die wahren Motive für die
       Proteste existieren noch immer. Deswegen werden die Proteste auch
       weitergehen.
       
       Nach der WM? Oder schon nachdem Brasilien rausgeflogen ist? 
       
       Diese Befürchtung hatte ich vorher auch. Aber jetzt ist Brasilien in der WM
       angekommen. Wir leben diese WM. Die Proteste könnten stärker werden als
       jetzt, wenn die Seleção rausfliegt, aber nicht wirklich so groß, dass das
       Event gestört wird.
       
       Was macht Sie so sicher? 
       
       Die WM hat viele positive Auswirkungen, die die Leute nicht erwartet haben.
       Das Zusammentreffen von Brasilianern und Ausländern auf den Straßen zum
       Beispiel. Brasilien wird diese Atmosphäre weiterleben, selbst wenn das Team
       ausscheidet.
       
       In Deutschland sind viele Fans persönlich beleidigt, wenn die deutsche
       Nationalmannschaft schlecht spielt. Wie ist das in Brasilien? 
       
       Die Fans in Brasilien sind optimistischer – sicher, weil die WM in
       Brasilien stattfindet. Selbst wenn Brasilien schlecht spielt, wie zum
       Beispiel gegen Chile, glauben die Brasilianer, das nächste Spiel wird
       besser. Das ist der Optimismus der Brasilianer. Das hat seine guten und
       schlechten Seiten.
       
       Und die Deutschen? 
       
       Ich habe gehört, dass die deutsche Mannschaft zu Hause sehr kritisiert
       wird. Aber für mich sind sie der Favorit auf den Titel. Deutschland wird
       wachsen, wenn sie gegen bessere Teams spielen – Teams, die die gleiche
       Verantwortung tragen.
       
       Sie haben sechs Jahre in Frankreich gespielt. Wie sehen Sie die
       französische Mannschaft? 
       
       Sie ist gut und spielt ruhiger als die deutsche. Frankreich kann gegen
       Deutschland gewinnen. Aber beim Titel haben die Deutschen mehr Chancen. Je
       weiter sie kommen, desto mehr behalten sie die Nerven.
       
       Brasilien hat bislang nicht überzeugt. Woran liegt dies? 
       
       Brasilien hat ein taktisches Problem im Mittelfeld. Luiz Gustavo ist für
       mich der beste Spieler des Teams, aber er wird gegen Kolumbien nicht dabei
       sein. Im Mittelfeld gibt es wenig Spieler. Vorne hingegen viele: Neymar,
       Hulk, Fred, Oscar. Das Mittelfeld müsste gestärkt werden.
       
       Das ist das einzige Problem? 
       
       Nein. Hinzu kommt der Druck. Es sind viele junge Spieler im Team. Und der
       Druck war noch nie so groß wie jetzt. Größer als 1994. Zuvor waren wir 24
       Jahre lang ohne Titel. Der Druck war sehr hoch. Aber jetzt, wo wir zu Hause
       spielen, ist es noch schlimmer.
       
       Ist der Druck auch so so groß, weil die Spieler Angst haben, dass bei ihrem
       Ausscheiden ein Bürgerkrieg ausbricht? 
       
       Das glaub ich nicht. Der Druck ist sportlich. Brasilien muss immer
       gewinnen, der zweite Platz ist nie genug. Sie haben keine Angst vor einer
       Revolte. Aber sie wollen 200 Millionen glücklich machen.
       
       Was können Sie als ehemaliger Weltmeister den Spielern raten? 
       
       Den Druck kann man nicht vermindern. Aber sie sollten versuchen, sich auf
       ihre Arbeit und auf sich zu konzentrieren, einander helfen, keine Presse
       lesen, keine Hilfe von außen suchen. Die Mannschaft hat mit Felipe Scolari
       einen Trainer, der sehr gut motivieren kann und der jetzt nur noch ein paar
       taktische Einstellungen ändern muss. Sie haben noch nicht die beste
       Strategie.
       
       Einige aktuelle Nationalspieler haben sich im letzten Jahr mit den
       Protesten solidarisiert. Aber es gibt keine Spieler, die so politisch aktiv
       wären wie Sie oder Ihr Bruder Sócrates. Wieso? 
       
       Die besten der brasilianischen Spieler sind noch sehr, sehr jung. Um die 22
       Jahre. Und sie haben keinen politischen Hintergrund. Das kann aber noch
       kommen. Es gibt aber viele Sportler in Brasilien, die sich engagieren, mehr
       als in anderen Ländern. Wir haben eine Stiftung gegründet, „Atletas pelo
       Brasil“. Mehr als 60 Sportler haben sich zusammengetan, um politisch aktiv
       zu sein. Viele kommen vom Fußball, aus verschiedenen Generationen. Mit
       unseren politischen Aktionen haben wir schon einige Gesetze geändert.
       Natürlich wäre es schön, wenn Spieler aus der aktuellen Seleção mitmachen
       würden. Aber wir sollten ihnen nicht noch mehr Verantwortung zumuten.
       
       Was ist der Grund dafür, dass die brasilianischen Sportler so engagiert
       sind? 
       
       Keine Ahnung. Es gab einige Sportler, Fußballer vor allem, die zu
       Vorbildern wurden. Alfonsinho, Sócrates, ich denke, auch ich werde heute so
       gesehen. Nachdem ich 1998 die Stiftung „Gol de Letra“ gegründet habe, die
       sich für die Bildung sozial schwacher Kinder einsetzt, fingen viele andere
       Sportler an, Projekte zu gründen. Eine Kultur, die von einigen begründet
       wurde und nach und nach wächst. Außerdem ist man sich in Brasilien der
       enormen Kraft zur Veränderung, zur Mobilisierung, zur Kommunikation, die
       der Sport haben kann, bewusster. Und diese Kraft kann man nutzen, um
       Ergebnisse für die ganze Gesellschaft zu erzielen.
       
       4 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sunny Riedel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) WM 2014
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Protest
 (DIR) Fußball
 (DIR) WM 2014
 (DIR) Brasilien
 (DIR) WM 2014
 (DIR) Samba
 (DIR) WM 2014
 (DIR) Brasilien
 (DIR) WM 2014
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Pro & Kontra Winke Winke bei der WM: Hochnotpeinlich oder große Geste?
       
       Kaum sehen sich die Fans in den WM-Stadien auf den Monitoren, winken sie in
       die Kamera. Bescheuert oder gut so?
       
 (DIR) Brasilien im Halbfinale: Der Star ist ersetzbar
       
       Beim Sieg gegen Kolumbien verletzt sich Neymar, das Turnier ist für ihn
       beendet. Für Brasiliens existenziellen Powerfußball ist er ohnehin
       verzichtbar. Anders als Hulk.
       
 (DIR) WM-Viertelfinale Brasilien – Kolumbien: Brasilien mauert sich ins Halbfinale
       
       In einem zerfahrenen Spiel siegt letztlich der WM-Gastgeber gegen
       Kolumbien. Die Cafeteros können nicht an ihre bisherigen Leistungen
       anknüpfen.
       
 (DIR) Samba-Star über Fußball und Musik: „Kein Ort ist perfekt“
       
       Brasiliens Samba-Jazz-Star Sérgio Mendes, 73, über seinen Hit „Mas que
       nada“, seine Karriere und die Schönheit des Fußballs.
       
 (DIR) WM-Kolumne Ordem e Progresso: Copacabana vs. Gevelsberg
       
       Schön ist es am Strand in Rio, aber in Westfalen hat die Kirmes begonnen.
       Unlösbare Identitätskonflikte eines Autors mit zwei Heimaten.
       
 (DIR) Staatliche Willkür gegen WM-Proteste: Ohne Standards auf der Copacabana
       
       Jede noch so kleine Demo gegen die WM wird von der brasilianischen Polizei
       brutal attackiert. Die Protestler reagieren mit phantasievoller
       Deeskalation.
       
 (DIR) Religion in Brasilien: Von Wundern und Besessenheit
       
       Die afrobrasilianische Religion hat rund zwei Millionen Anhänger. Bei einer
       Candomblé-Feier fallen auch Touris in Trance. Und sie bietet obskure
       Einblicke.