# taz.de -- Wachsende Zahl von Abiturienten: Die Angst vor Bildungsaufsteigern
       
       > Die Gruppe der Abiturienten wächst. Aber auch die Furcht vor einer
       > Akademikerschwemme und dümmeren Absolventen. Sinkt das Niveau?
       
 (IMG) Bild: Kriegen Abiturienten von heute Noten geschenkt?
       
       BERLIN taz | Lange schienen sie aus dem Verkehr gezogen: die taxifahrenden
       Germanisten. Doch sie kehren wieder. Alle Warnlämpchen blinken bereits.
       Letzte Woche beispielsweise bei der Vorstellung des nationalen
       Bildungsberichts.
       
       Im Bericht gibt es diese Grafik mit der blauen und der roten Linie. Die
       blaue beginnt um die Jahrtausendwende ganz oben und fällt über die Jahre
       ein klein wenig ab. Die rote startet viel weiter unten, klettert stetig und
       hat jetzt Berührung mit der blauen aufgenommen. Die blaue Linie steht für
       Ausbildung, die rote für Studium.
       
       Marcus Hasselhorn, Sprecher des Wissenschaftlerkollektivs, welches die
       Daten für die rote und die blaue und alle anderen Linien im Bericht
       zusammengetragen hat, befand die stetig steigende Studienanfängerzahl für
       „uneingeschränkt gut“. Doch die neben ihm sitzende Bundesbildungsministerin
       lächelte eher verkrampft und sprach davon, dass man Studium und duale
       Ausbildung in eine vernünftige Balance bringen müsse.
       
       Subtext: Wir stehen vor einer Akademikerschwemme. Die jungen Leute sollten
       doch lieber wieder mehrheitlich eine ordentliche Lehre machen, anstatt sich
       in ein brotloses Studium zu werfen.
       
       ## Nur auf dem Zeugnis besser?
       
       Auch an diesem Wochenende gingen die Lämpchen wieder an. Die Frankfurter
       Allgemeine Sonntagszeitung meldete, dass bei wachsender Abiturientenzahl
       die Noten immer besser werden, und verband diese Inflationswarnung mit der
       Behauptung, dass die Absolventen immer ungebildeter würden. Die kühne These
       stützt sich auf eine angebliche Studie des Instituts der Deutschen
       Wirtschaft. Das IDW hatte jedoch gar keine Studie gemacht, sondern
       lediglich die Pisa-Test-Ergebnisse 15-jähriger Schüler aus den Jahren 2003
       bis 2009 hochgerechnet.
       
       Aus den Pisa-Daten geht aber zunächst einmal hervor, dass sich Schüler im
       Lesen und in Mathematik seit dem Pisa-Schock-Jahr 2000 signifikant
       verbessert haben. Im Lesen betrug der Kompetenzzuwachs 13 Pisa-Punkte, in
       Mathe 10, was jeweils etwa dem Lernzuwachs eines Drittelschuljahres
       entspricht. Weil nun aber aus dem Pisa-Jahrgang 2009 heute die Hälfte an
       die Uni geht, und nicht mehr nur das obere Drittel wie 2000, sinkt der
       Durchschnitt der Erstsemester ab. So gesehen werden die Studienanfänger
       also dümmer.
       
       Das lässt sich auch durch andere Tests aber nicht belegen. Im Gegenteil:
       „Wir sehen Zuwächse in Lesen, in Mathe und in Naturwissenschaften“, sagt
       Dirk Richter, Wissenschaftler am Institut für Qualitätsentwicklung im
       Bildungswesen. Das IQB, wie es abgekürzt heißt, erstellte im Auftrag der
       Kultusministerkonferenz Bildungsstandards für alle Schulen und testet seit
       2009, ob diese erfüllt werden. Die Testergebnisse zeigen auch: „Die
       Leistungen am Gymnasium sind konstant, und das trotz größerer Heterogenität
       und sozialer Vielfalt“, sagt Richter. Allerdings: Getestet wird nur in der
       Mittelstufe. Für die Sekundarstufe II gibt es zwar Bildungsstandards,
       überprüft werden diese aber auf Wunsch der Kultusminister nicht.
       
       ## Vergleich mit den 50er Jahren
       
       Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm ist aber überzeugt: „Wenn wir mehr
       Gruppen in die Hochschulen lassen, sinkt nicht das Niveau, sondern das
       System wird gerechter.“ Klemm vergleicht die heutige Bildungsexpansion mit
       den 50er und 60er Jahren. Damals drängte eine neue Gruppe an die Gymnasien
       und von dort aus an die Hochschulen: die Mädchen. Sie wurden zuvor an die
       Mittel- oder Volksschule geschickt, während die Jungen ans Gymnasium
       durften. Inzwischen erwerben mehr junge Frauen einen Hochschulabschluss als
       junge Männer.
       
       Ähnliche Ängste kommen hoch, wenn die Arbeiterkinder und die Kinder von
       Einwanderern vermehrt neben den Zöglingen der Bildungsbürger in den
       Hörsälen Platz nehmen. „Es ist verwegen zu behaupten, dass das Niveau
       sinkt, wenn sich die Hochschulen für zusätzliche Gruppen öffnen“, meint
       Klemm.
       
       Aber die Sache mit den Noten? Besser werden sie tatsächlich. Berlins
       Abiturienten steigerten sich zwischen 2006 und 2012 im Mittel von einer
       Zwei minus (2,68) auf eine glatte Zwei (2,4). Die Quote der Durchgefallenen
       hat sich halbiert. In anderen Bundesländern war das Noten-Tuning nicht ganz
       so ausgeprägt, aber der Trend weist gleichfalls nach oben. Die gleiche
       Entwicklung ist im Studium zu beobachten: Der Wissenschaftsrat beklagte
       bereits vor zwei Jahren, dass es in manchen Fächern nur noch
       Einser-Studenten gebe.
       
       Eine Noteninflation also? „Quatsch. Schülerinnen und Schülern wird nix
       geschenkt“, sagt Ilka Hoffmann, die den Vorstandsbereich Schule bei der
       Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft führt. Sie glaubt, dass bessere
       Schulnoten auf besseren Unterricht zurückzuführen sind. „An den Gymnasien
       hat sich pädagogisch einiges getan. Schüler werden mehr gefördert“, meint
       Hoffmann.
       
       ## Eine Viertelmillion wird nicht ausgebildet
       
       Der Hamburger Uni-Präsident Dieter Lenzen behauptet sogar, dass die
       Klausuren mit der Einführung des Zentralabiturs in sechs Bundesländern
       leichter geworden seien. Vehement widersprechen die Sachsen, die bei den
       Matheaufgaben die Feder führten. Ja, im Vorfeld habe es Warnungen gegeben,
       dass der Anspruch sinke, bestätigt der Sprecher von Kultusministerin
       Brunhild Kurth (parteilos). „Die Probeklausuren vom Herbst bestätigen dies
       allerdings überhaupt nicht. Im Gegenteil: Hier fiel es auch Schülern aus
       Bayern zum Teil schwer, die Anforderungen zu erfüllen.“
       
       Ob sich diejenigen, die bestanden haben, sich dann für ein Studium oder für
       eine Ausbildung entscheiden, ist ziemlich egal. Gebraucht werden sie
       überall. Alle Studien zeigten, dass der Bedarf im oberen
       Qualifizierungssegment weiter steige, meint Klemm. „Es hat keinen Sinn, das
       duale System gegen das Studium auszuspielen. Der Skandal ist doch, dass wir
       eine Viertelmillion Jugendliche gar nicht ausbilden.“
       
       Laut aktuellem Bildungsbericht ist die Gruppe jener Jugendlichen, die
       keinen Ausbildungsplatz finden und nach der Schule im Übergangssystem
       landen, zwar gesunken. Doch 250.000 Jugendliche finden nach der Schule
       keinen Ausbildungsplatz und machen erst mal eine Maßnahme. Im
       Bildungsbericht warnen die Wissenschaftler davor, „dass hier
       Arbeitskräftepotenziale bereits frühzeitig verloren gehen, die angesichts
       der demografischen Entwicklung bald dringend gebraucht werden“.
       
       Die Zukunftsaussichten der Germanisten sind dagegen traumhaft. Ihr Anteil
       an allen Arbeitslosen liegt im Promillebereich. Es sei zu beobachten, dass
       Geisteswissenschaftler in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen
       zunehmend geschätzt werden, meint Arbeitsmarktexpertin Judith Wüllerich.
       
       Ergo: Die Germanisten können sich im Taxi weiterhin auf der Rückbank
       zurücklehnen. Was die Akademisierungsskeptiker im Rückspiegel sehen, ist
       wohl eher das Gespenst der Bildungsaufsteiger, die auf die Überholspur
       ausscheren könnten. Wie einst die Mädchen.
       
       18 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Universität
 (DIR) Studium
 (DIR) Abitur
 (DIR) Ausbildung
 (DIR) Migration
 (DIR) Armin Laschet
 (DIR) Ausbildung
 (DIR) Turbo-Abi
 (DIR) Inklusion
 (DIR) Prüfung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Bildungsstand in Deutschland: Zwischen hochgebildet und ungelernt
       
       Der neue Bericht „Bildung in Deutschland“ zeigt: Die Bildungsexpansion
       setzt sich fort. Teile der Bevölkerung sind ausgeschlossen.
       
 (DIR) AStA über Laschets „Notenwürfeln“: „Wir haben sowas noch nie gehört“
       
       Armin Laschet, Landeschef der NRW-CDU musste seine Lehrtätigkeit aufgeben.
       Er hatte „auf dem Postweg“ verschwundene Klausuren kreativ nachbenotet.
       
 (DIR) Zwischenbilanz beim Zentralabitur: Matheschwäche ausgemacht
       
       Hamburgs Schulsenator bewertet die einheitlichen Prüfungen positiv. Bloß an
       die allzu milden Mathe-Noten an den Stadtteilschulen müsse man noch mal
       ran.
       
 (DIR) Abschlüsse und Ausbildung: Muss man jetzt Metzger werden?
       
       Es mangelt an Fachkräften. Ein gutes Zeichen für alle, die eine Ausbildung
       anfangen. Wie wächst eine Generation mit der Aussicht auf Vollbeschäftigung
       auf?
       
 (DIR) Absenkung der Pflichtstunden: Entschleunigtes Turbo-Abitur
       
       Die Länder prüfen, ob sie die Wochenstunden bis zum Gymnasialabitur senken
       könnten. So würde die Mittelstufe entlastet.
       
 (DIR) Neuer Bildungsbericht: Die Deutschen werden klüger
       
       Immer mehr Deutsche haben laut neuem Bildungsbericht Abitur und beginnen
       ein Studium. Die soziale Frage ist ungelöst: Migranten bleiben abgehängt.
       
 (DIR) Studienabbrecher in Deutschland: Die Prüfungsfalle
       
       Von 100 Teilnehmern schafften nur 14 die Klausur im ersten Anlauf. Sollen
       Erstsemester abgeschreckt werden? Die Hochschulen widersprechen heftig.
       
 (DIR) Kritik an Hochschul-Umbau: Kürzen nach Plan
       
       „Unseriös“ sei der Wissenschaftsplan 2020, kritisiert die Linkspartei in
       der Bürgerschaft. Senatorin Quandte-Brand beschwichtigt.