# taz.de -- Die Griechen und die Krise: Athen, da geht noch was
       
       > Junge Griechen in der Hauptstadt stemmen sich gegen die Dauerkrise. Weil
       > sie nichts mehr machen müssen, machen sie was sie wollen.
       
 (IMG) Bild: Sieht aus wie vor der Krise: Blick auf die Akropolis.
       
       ATHEN taz | Keine zwei Motorroller kommen in der engen Athener Seitengasse
       aneinander vorbei. Nicht mal, wenn Griechen sie steuern. Bis vor Kurzem
       jedoch war es hier so dunkel, stank es so nach Pisse, dass ohnehin niemand,
       auch kein streunender Hund, die Gasse freiwillig durchquerte.
       
       Jetzt steht Maria Petinakis dort an der Ecke und wartet mit ihrer
       Stadtführung, bis alle da sind. Dann erzählt sie von der Verwandlung der
       Gasse. Die Zuhörer halten ihre Handys vors Gesicht und fotografieren den
       Spalt zwischen den schmalen Häusern. Es werden schöne Fotos: kein Müll auf
       dem Boden, die Wände frisch getüncht, links und rechts hängen Bilder,
       manche in barocken Rahmen. Und alle paar Meter ragt eine Lampe in die
       Gasse, eine die nachts wirklich brennt.
       
       Die Athener haben also eine Straße aufgehübscht – das klingt nach einer
       homöopathischen Dosis Hoffnung, die nichts bringt. Nicht in Athen, einer
       Stadt in der Depression, wo politisches Chaos herrscht, wo so viele
       arbeitslos sind, wo die Innenstadt verslumt.
       
       Aber diese eine Gasse ist eins von vielen kleinen Projekten, mit denen sich
       die Athener gegen die Dauerkrise stemmen. Vor allem die Jungen erobern sich
       so ihre Stadt zurück. Die Bilder, die sie an die Wände in der Gasse
       nagelten, könnten auch in ihren Wohnzimmern hängen. Was sie damit sagen
       wollen: Wir sind hier zu Hause.
       
       Maria Petinakis ist 34, eine Frau in Stiefeln und engen Jeans, überm
       rechten Ohr hat sie die roten Locken wegrasiert. Sie organisiert diese
       Stadtführungen durch Viertel, die Fremde spätestens seit der Krise meiden.
       Heute ist sie mit Leuten der niederländischen Botschaft unterwegs. „Endlich
       mal gute Neuigkeiten“, sagt eine Diplomatin, „so etwas haben wir wirklich
       gebraucht.“ Sie hätten schon von der jungen Kunstszene Athens gehört, und
       sich gefragt, wo die sei.
       
       ## Freilichtmuseum Athen
       
       Dabei ist Kunst im Stadtzentrum unübersehbar. Sie ist auf Wände gemalt, auf
       Zäune, auf Züge. Legal, illegal. Fast jede Metro raus nach Piräus ist
       voller Graffiti. Es gibt Ecken, da sieht Athen aus wie ein Freiluftmuseum.
       Über die Häuser sind Bordüren und Sprüche gesprüht, bunt und politisch,
       „Anarchie“, „Revolution“, solche Worte. Im Sommer 2011, als riesige
       Proteste die Stadt lahmlegten, habe es sich wirklich wie Revolution
       angefühlt, sagen viele. In der Straßenkunst ist diese Stimmung
       festgehalten: „Welcome to Athens“ steht an der Fassade neben einer Bar, an
       der Petinakis mit ihrer Gruppe vorbeikommt. Die Buchstaben scheinen zu
       brennen, daneben ist ein Vermummter gemalt, der einen Molotowcocktail
       wirft.
       
       Seit fünf Jahren schrumpft die griechische Wirtschaft. Erst für dieses Jahr
       wird mit einem winzigen Wachstum gerechnet. 0,6 Prozent – sofern die
       Optimisten recht behalten. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent, die
       Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 60 Prozent. Das ist der schlechteste Wert
       in der gesamten EU. Dazu kommt, dass das Leben teurer geworden ist, die
       Mehrwertsteuer wurde von 19 auf 23 Prozent angehoben, immer wieder fallen
       Sondersteuern an.
       
       Eigentlich ist Maria Petinakis Architektin, nur gibt es in der Krise nichts
       zu planen. Öffentliches Geld fließt in den Schuldenabbau, privates Geld
       außer Landes. Ein paar hundert Euro im Monat verdient sie noch in ihrem
       Architekturbüro – zu wenig. Also gründete sie zusammen mit Bekannten eine
       Agentur, die thematische Stadtführungen anbietet. Mal geht es um soziale
       Bewegungen, mal um Street Art, mal um Bars und Tavernen in Athen.
       
       ## Stadt der Geister
       
       Maria Petinakis und ihr Freund Dimitris Theorodopoulos wohnen in einem
       60er-Jahre-Bau mitten in der City. Im Innern ihres Häuserblocks ist ein
       Fleischmarkt, sie hört die Händler bis in ihrer Küche rufen. Und von ihrer
       Dachterrasse sieht man in die oberen Stockwerke des kantigen Neubaus
       gegenüber, früher eine Bank. Eines Tages trugen die Banker Pappkartons auf
       die Straße und kamen nicht mehr zurück. „Das Neonlicht brannte trotzdem
       wochenlang weiter“, sagt Theorodopoulos, „als arbeiteten Geister dort.“
       
       Er erinnert sich noch gut an den Augenblick, als er begriff, dass etwas
       schief lief. Er war gerade bei der Armee, stationiert in einer Kaserne
       irgendwo auf dem Land. Jeden Tag brachte ein Lieferant das Essen für die
       Soldaten, und eine Zeitung. Damals las er das erste Mal von der
       Investmentbank Lehman Brothers in den USA, von deren Bankrott. In den
       Zeitungen stand, Griechenland sei nicht von der Krise betroffen. Seine
       Kameraden guckten Fußball.
       
       Dimitris Theorodopoulos ist 34, ein Typ mit Kapuzenpullover und Bart. Auch
       er ist Architekt, auch bei ihm läuft es nicht. Was er jetzt macht, macht er
       unbezahlt: Theorodopoulos entwirft Bühnenbilder fürs Tanztheater. Das Geld
       sei knapp, „aber ich habe Gott nie um Geld gebeten“, sagt er. Logisch, dass
       die Sozialversicherung das anders sieht, Theorodopoulos konnte eineinhalb
       Jahre nichts einzahlen, 5.000 Euro sind noch offen, die stottert er jetzt
       ab. Hauptsache, sagt er, der Staat pfände sein Auto nicht, den kleinen,
       blauen, eingestaubten Ford, der ein paar Straßen weiter geparkt ist.
       
       Was Theorodopoulos wirklich nervt, ist, dass er kein Geld mehr hat, um zu
       reisen. Seit dem Ausbruch der Krise verlässt er Griechenland nicht mehr als
       Tourist, aber immerhin noch als Bühnenbildner, wenn das Tanztheater
       irgendwo eingeladen ist. So kam er in den letzten Jahren doch nach New
       York, Edinburgh und Moskau.
       
       ## Neuer Unternehmergeist
       
       Die Krise, in der so viele ihren Job verloren, ist für manche eine Chance.
       Für die Jungen, die Kreativen, die Städter. Jetzt, da sie nichts mehr
       machen müssen, tun sie das, was sie immer machen wollten. Maria Petinakis
       kennt viele dieser Geschichten: „Die Leute eröffnen Bars oder Läden oder
       machen Kunst.“ Hier und da hat sich der Spirit der Bürgerversammlungen, die
       in den schlimmsten Wochen der Krise jeden Tag stattfanden, in
       Unternehmergeist verwandelt.
       
       Auf einer ihrer Stadtführungen stellt sie Designer und ihre Produkte vor,
       sie führt durch die leicht abfallende Veikoustraße östlich der Akropolis,
       wo unter Bogengängen Laden an Laden liegt. Winzige Schneidereien mit
       ausgeblichenen Schildern, in denen alte Frauen tief über ihre Arbeit
       gebeugt sitzen, wechseln mit modernen Designershops ab.
       
       Einer dieser neuen Läden heißt Fabrika, Evrydiki Tsistraki hat ihn vor zwei
       Jahren eröffnet. Seitdem verkauft sie selbstgemachten Schmuck aus
       verbogenem Metall, Broschen aus Keramik und bunte Filztaschen. Sie hat es
       einfach gemacht – ohne detaillierten Businessplan. Ob es ihren Laden in ein
       paar Jahren noch geben wird, weiß sie nicht. Tsistraki ist 35 und hat
       gerade ihr erstes Kind geboren. Sie hat was riskiert. „Aber“, sagt sie,
       „das größere Risiko wäre, nicht getan zu haben, was ich wollte.“
       
       Wie sie denken viele. Es ist der Krisenzeitgeist: Do it yourself. Ihr
       Schmuck ist teurer als die Massenware, trotzdem gibt es gerade jetzt Leute,
       die lieber vom Nachbarn kaufen als vom gesichtslosen Global Player.
       
       Maria Petinakis führt die Niederländer nun auf einen sandigen Platz, der
       eingefasst ist von bemalten Brandmauern. Bis 2009 parkten hier Autos, jetzt
       ist es ein Garten. Studenten und Aktivisten setzten bunte Mosaike in den
       Boden, legten Beete an, pflanzten ein paar Palmen, ein paar Büsche. „Jeden
       Mittwoch kommen sie, um den Garten zu pflegen“, sagt Petinakis. Dann gibt
       sie jedem, der bei ihrer Stadtführung dabei ist, einen Zettel, auf dem
       griechische Graswurzelprojekte stehen: Leute, die für Obdachlose Essen
       kochen, sich für Flüchtlinge einsetzen oder Lobbyarbeit fürs Fahrradfahren
       machen. Die Liste ist lang, die Schrift winzig.
       
       Aber Petinakis verteilt nicht nur Flyer, sie macht auch mit. Ständig fährt
       sie mit ihrer schweren gelben BMW-Maschine durch Athen – im Stakkato Gas
       gebend, bremsend, hupend – um etwas zu organisieren. Das Wochenende über
       hat sie mit ein paar Bekannten Möbel aus Holzpaletten gezimmert, um eine
       tote Straßenecke in Metaxourgio zu einem Ort zu machen, an dem man sich
       setzen möchte, anstatt seinen Müll abzuladen.
       
       ## Gestoppte Gentrifizierung
       
       Metaxourgio ist ein Bezirk im Westen der Innenstadt, der mitten in der
       Gentrifizierung steckte, als die Krise den Trend stoppte. Jetzt müssen die,
       die hier wohnen, selbst für den Aufschwung sorgen. Als Maria Petinakis –
       unter dem Arm ein Verlängerungskabel – im Café gegenüber fragt, ob sie
       Strom für die Stichsäge haben kann, winkt der Besitzer sie herein.
       
       Einen Tag zuvor hat Petinakis das Colour Festival, das ein paar Straßen
       weiter stattfand, mitorganisiert. Auf einem Platz vor einer Bauruine
       trommelte eine Sambaband und weil es das Colour Festival war, bewarfen sich
       die Leute mit Farbpuder, das Münder und Wimpern verklebte.
       
       Es war längst dunkel, als Maria Petinakis und Dimitris Theorodopoulos nach
       Hause gingen – sie mit rostrotem Gesicht, er mit blauem Bart. Auf dem
       Heimweg kamen sie an jungen Leuten vorbei, die in einer Seitenstraße
       Sirtaki tanzten, immer im Kreis, die Hände auf den Schultern der Nachbarn.
       Die Musik ist fröhlich, und traurig zugleich. Umstehende lehnen rauchend an
       kurzen Motorhauben oder trinken Raki aus Plastikbechern, die sie sich aus
       der Bar nebenan holen. „Mal ehrlich“, sagt Dimitris Theorodopoulo, „du
       kannst doch nicht die ganze Zeit über die Krise nachdenken.“ Er reiht sich
       ein, dreht sich mit den anderen in die Nacht hinein. Mitten in Athen, in
       einer schlecht ausgeleuchteten Gasse.
       
       13 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Krex
       
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