# taz.de -- Integration im Gentrifizierungs-Kiez: Deutsch-Türkisch für Anfänger
       
       > Eine Gruppe Akademiker schickt ihre Kinder auf eine Brennpunktschule. Sie
       > engagieren sich. Und die Migranteneltern reagieren.
       
 (IMG) Bild: An der Karlsgartenschule in Berlin-Neukölln lernen Kinder unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters in einer Klasse. Ihre Eltern verbindet nur wenig
       
       BERLIN taz | Als die gute Schule ihre Tochter nicht haben will, beschließt
       Susann Worschech, dass es Zeit ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
       Sie sitzt am Küchentisch ihrer Wohnung im Berliner Bezirk Neukölln, vor
       sich ein Schreiben der Evangelischen Schule in der Nähe, einer Grundschule
       mit hervorragendem Ruf, Hockey-AG und nach Einkommen gestaffeltem
       Schulgeld. „Es lagen uns aber so viele Anmeldungen vor, dass wir leider
       Ihre Anmeldung nicht mehr berücksichtigen konnten“, steht da.
       
       In diesem Moment im Herbst 2011 trifft Susann Worschech eine Entscheidung,
       die dazu führen wird, dass Fernsehteams sie interviewen und sie den
       Berliner Staatssekretär für Bildung trifft. Sie wird ihr Streit bescheren
       und Leute dazu bringen, sie als Eindringling zu betrachten.
       
       Susann Worschech, damals 32 Jahre alt, Soziologin, entscheidet sich, ihre
       fünfjährige Tochter Ella auf die öffentliche Schule um die Ecke zu
       schicken.
       
       Die Haustürklingel ist wieder kaputt, also kommt Susann Worschech aus dem
       vierten Stock nach unten und öffnet selbst. In Gummilatschen tritt sie aus
       der Tür, den Müllbeutel in der Hand, und schlängelt sich vorbei an
       Dutzenden Fahrrädern zu den Tonnen im Hof durch. „Wenn unsere
       Hausverwaltung auf Zack wäre, würde sie mal Fahrradständer einrichten“,
       sagt sie.
       
       Oben im Flur der Dreizimmerwohnung hängen zwei Fahrräder an der Wand,
       darunter stehen die Kinderräder. Sie wohnen hier zu fünft – die Kleinste
       ist anderthalb, ihr Sohn fast sechs. Und Ella, die in die zweite Klasse der
       Schule um die Ecke geht, ist mittlerweile sieben.
       
       ## Abgehängte neben Aufsteigern
       
       Die Schule um die Ecke ist die Karlsgarten-Schule. Eine normale staatliche
       Grundschule. Normal für Berlin-Neukölln. Mehr als 80 Prozent der Schüler
       kommen aus Einwandererfamilien. Kanakenschule sagten die Neuköllner in den
       90er Jahren, Ausländerschule sagen die Türken aus dem Kiez noch heute.
       Leute, die sozialisiert sind wie Susann Worschech, sagen: Brennpunktschule.
       
       Der Schillerkiez, die Gegend, in der Susann Worschech wohnt, gilt als
       sozialer Brennpunkt. Ein Haushalt hat hier im Durchschnitt knapp 1.700 Euro
       im Monat zum Ausgeben, jeder Vierte ist arbeitslos gemeldet.
       
       Susann Worschech und ihr Mann finden 2003 in Neukölln schnell eine Wohnung.
       Der ramponierte Ruf des Viertels und der angrenzende Flughafen Tempelhof
       halten die Mieten niedrig. Doch dann schließt der Flughafen und wird zu
       einer riesigen öffentlichen Grünfläche. Es kommen noch mehr Studenten,
       Künstler, Akademiker. Die Besitzer der Kneipen wechseln und bieten statt
       Berliner Kindl Bio-Zisch an. Soziale Kolonisierung nennen Soziologen das.
       
       Die Mieten steigen. Plötzlich steht die Gegend im Fokus von Leuten, die
       sich mit Gentrifizierung beschäftigen – der Aufwertung von Vierteln durch
       Verdrängung sogenannter A-Gruppen: Alte, Arme, Alleinerziehende,
       Arbeitslose, Ausländer.
       
       Im Schillerkiez ist alles noch dicht beisammen. Hundehaufen neben
       Nobelwohnung, Abgehängte neben Aufsteigern.
       
       ## Sie wollen keine „biodeutsche Parallelwelt“
       
       Nur an den Schulen mischen sich die Welten nicht.
       
       „Es gibt Eltern, die karren ihre Kinder ins benachbarte Tempelhof, damit
       sie auf eine möglichst homogene Schule gehen, und leben hier in ihrer
       biodeutschen Parallelwelt“, sagt Susann Worschech. Sie hat sich an den
       Tisch in der Küche gesetzt, an dem sie vor zweieinhalb Jahren die Absage
       der Evangelischen Schule las. An die Enttäuschung kann sie sich noch gut
       erinnern.
       
       Die Nervosität hatte schon früher eingesetzt, Ella war gerade vier
       geworden. Die Nervosität vieler deutscher Eltern: Welche Schule kommt
       infrage? Wie weit darf sie entfernt sein? Oder doch lieber wegziehen?
       
       2006 schreiben die Lehrer der Rütli-Schule in Neukölln einen offenen Brief
       über alltägliche Gewalt und Verweigerung. Seitdem steht die Frage, wie gut
       eine Schule in Neukölln funktioniert, auch dafür, wie Integration in
       deutschen Großstädten gelingt.
       
       Susann Worschech ist gerade im Ausland, als ihr Mann anruft. Er erzählt
       begeistert vom Tag der offenen Tür an der Karlsgarten-Schule. Ihr sei fast
       der Hörer aus der Hand gefallen, sagt sie.
       
       ## Akademikereltern an die Ausländerschule
       
       Als die evangelische Schule später doch noch zusagt, steht Worschechs
       Entschluss bereits fest: Ich schicke Ella an die Karlsgarten-Schule. Aber
       nicht allein, und ich mache ein großes Ding draus.
       
       Sie gründet mit drei anderen eine Elterninitiative, organisiert Treffen mit
       Schulleiterinnen und Lehrern, lädt die Bildungssenatorin und die Presse
       ein. Die Geschichte von den deutschen Akademikereltern, die ihre Kinder an
       einer Ausländerschule anmelden, verkauft sich gut.
       
       „Warum flüchten wir in Schulen, die weit weg sind, anstatt hier und jetzt
       gemeinsam etwas zu verändern?“, schreiben die Eltern in einem Aufruf.
       
       Sie wollen eine „Kiezschule für alle“, so nennen sie ihre Initiative. Eine
       alte Utopie: Wenn alle gemeinsam lernen, lernen alle am besten. Wir wollen
       keine Parallelgesellschaften, ist eine Botschaft der Elterninitiative. Eine
       andere: Wenn unsere Kinder kommen, wird die Schule besser.
       
       ## Engagiert sind auch die anderen
       
       Dass es dort aber viele Eltern gibt, die schon lange davon überzeugt sind,
       dass ihre Kinder in eine gute Schule gehen, das haben Susann Worschech und
       die anderen damals übersehen.
       
       Eine Unachtsamkeit, könnte man sagen.
       
       Eine Herabwürdigung, sagt Halit Kamali.
       
       Halit Kamali ist der oberste Elternvertreter der Karlsgarten-Schule, seit
       2009. Er ist einer dieser Väter, die das Beste für ihre Kinder wollen und
       dafür sorgen, dass sie es auch bekommen. Als es Zeit ist, eine Schule für
       seine Tochter Melina auszusuchen, steht fest: Sie kommt nicht an eine
       staatliche, nicht hier in Neukölln. Er kennt den Direktor der Evangelischen
       Schule und lässt seine Tochter dort vormerken.
       
       Aber weil das Prozedere es so vorsieht, musste er Melina zuerst an der
       Karlsgarten-Schule anmelden. Dort trifft er Melinas spätere
       Klassenleiterin, die sagt: Geben Sie mir ein paar Wochen. Sie werden sehen,
       dass wir eine gute Schule sind. Kamali kommt ein Jahr lang fast jeden
       Vormittag mit seiner Tochter in die Klasse, um sich davon zu überzeugen.
       
       ## Die alteingesessenen Eltern fühlen sich übergangen
       
       Man kann Halit Kamali einen Helikoptervater nennen. Einen, der schützend
       über seinen Kindern kreist.
       
       Im penibel aufgeräumten Wohnzimmer von Kamalis Eigentumswohnung schaut man
       vom weinroten Ledersessel auf einen großen Flachbildfernseher. Halit
       Kamali, Anfang vierzig, zurückgekämmte Haare, wohnte früher mal im
       Nachbarbezirk Kreuzberg. „Dort wurde alles Schickimicki, es zogen immer
       mehr Deutsche zu, eine reine Monokultur.“ Deshalb ist er vor acht Jahren
       nach Neukölln gezogen. „Hier fängt es mittlerweile auch schon an.“
       
       Zum Beispiel mit diesen deutschen Eltern, die kommen und anfangen, seine
       Schule umzukrempeln. „Die Eltern von der Kiezinitiative hatten mit allen
       gesprochen“, sagt Halit Kamali. „Aber nicht mit den alteingesessenen
       Eltern.“
       
       „Alteingesessene“, wird Susann Worschech später schnauben, wenn sie diesen
       Satz hört. „Wir wohnen hier seit zehn Jahren, wir sind ja wohl auch
       Alteingesessene.“
       
       Kamalis Familie zieht mit ihm nach Deutschland, als er zwei Jahre alt ist.
       Kurz vor der Einschulung schickt ihn sein Vater in die Türkei. Er macht
       seinen Abschluss, kommt wieder nach Deutschland und holt das Abitur nach.
       In einer Klasse für Kinder mit Migrationsgeschichte.
       
       Als er Elternvertreter an der Karlsgarten-Schule wird, organisiert Kamali
       eine Unterschriftensammlung für einen Zebrastreifen vor dem Schultor. Die
       Eltern merken: Wir können etwas bewirken. Kamali holt Dozenten an die
       Schule, die sie über ihre Rechte aufklären. Er findet: Eltern müssen
       frecher werden. In der Türkei verhalte man sich gegenüber Lehrern eher
       devot.
       
       ## „Kopftuchmütter“ und „Studenteneltern“
       
       Er baut einen offenen Elterntreff auf. Ein Raum im Erdgeschoss ist täglich
       geöffnet. Drei Mütter und ein Vater arbeiten dort. Sie vereinbaren für
       jene, die wenig Deutsch sprechen, Termine beim Schularzt und begleiten
       Klassen auf Ausflüge. Kamali nennen sie ihren Chef.
       
       Halit Kamali setzt sich an die Stirnseite des Tischvierecks im Elterntreff.
       „Ich rede jetzt mal Tacheles“, sagt er. „Wir haben hier einiges erreicht.
       Und dann kommen die Eltern von der Kiezschulinitiative und glauben, sie
       können tun, was sie wollen.“
       
       Halit Kamali und Susann Worschech treffen sich im Frühjahr 2012 in der
       Schule zum ersten Mal. Sie denkt: ein cooler, offener Typ. Er denkt: Toll,
       dass diese engagierten Eltern kommen.
       
       Zwei Jahre später zieht die Klassenleiterin von Susann Worschechs Tochter
       Ella die Stirn in Falten, wenn man fragt, wie sich die neuen und die alten
       Eltern begegnen. „Begegnen? Das ist doch wohl eher so –“, sie bewegt ihre
       linke Handfläche am rechten Handrücken vorbei. Ein Nebeneinander.
       
       Die einen sitzen im Elterntreff. Die anderen im Café Blume an der
       Straßenecke gegenüber.
       
       Das Café Blume ist der Treffpunkt der Kiezschulinitiative. Hier gibt es
       frischen Ingwer Tee für 2,50 Euro und Babyccino für 1,50 Euro. Im
       Elterntreff ist der türkische Tee umsonst.
       
       „Die Kopftuchmütter“, sagen die einen über die anderen. „Die
       Studenteneltern“, sagen die anderen über die einen. Deskriptive
       Zuschreibungen, die eine Distanz ausmessen.
       
       ## Die Kluft im Klassenzimmer
       
       Die meisten Frauen, die um ein langes Tischviereck im offenen Elterntreff
       sitzen, tragen tatsächlich Kopftuch und ziehen ihre schwarzen langen Mäntel
       im Schulhaus nicht aus. Sie reden untereinander Türkisch. Eine Frau hat
       süßes Gebäck mitgebracht und reicht es herum.
       
       Von der Kiezschulinitiative haben einige noch nie gehört. „Das ist die, wo
       die Eltern ihre Kinder an die Ausländerschule schicken“, sagt eine. Waren
       sie schon mal beim Stammtisch der Kiezschulinitiative? Die Frauen schütteln
       die Köpfe. Und kommen die Eltern der Initiative manchmal hier vorbei? Noch
       mal Kopfschütteln. Sie seien willkommen. Aber man sei hier eben nur bis
       zwei, wenn die Studenteneltern arbeiten. Danach warte der Haushalt.
       
       Ihre Kinder gehen gemeinsam zur Schule. Fünf Tage die Woche lernt Susann
       Worschechs Tochter Ella mit Ahmed und Khan, Miriam und Iren. Der Abstand
       zum Sitznachbarn beträgt weniger als eine Stuhlbreite. Da ist aber eine
       Kluft. Sie verläuft entlang eines sehr unscharfen Begriffspaares:
       bildungsnah und bildungsfern.
       
       Als die Elterninitiative „Kiezschule für alle“ im Sommer des Jahres 2012
       zur Diskussion in die Karlsgarten-Schule einlädt, ist ein Thema: Wie können
       Förderkonzepte für die unterschiedlichen Bedürfnisse bildungsferner und
       bildungsorientierter Familien mit und ohne Migrationshintergrund aussehen?
       
       Die Bildungsorientierten fragen sich: Wie können die Kinder voneinander
       profitieren? Können sie das überhaupt?
       
       ## Eine Frage der Bücher
       
       Die Begriffe bildungsnah und bildungsfern tauchen vor mehr als zehn Jahren
       auf. Damals untersuchen Forscher, wie sich das Elternhaus auf Leistungen
       auswirkt. Sie finden ein Maß, das mehr erklärt als der Bildungsabschluss
       der Eltern oder deren Gehaltsklasse: die Anzahl der Bücher im Haushalt.
       Schüler aus Haushalten mit mindestens zwei Regalen voller Bücher haben
       gegenüber Schülern in Haushalten mit weniger als einem Bücherbrett einen
       Wissensvorsprung von gut zwei Schuljahren.
       
       Susann Worschech schließt gerade ihre Doktorarbeit über Demokratieförderung
       in der Ukraine ab. Zuletzt las sie „Eisenkinder“, ein Sachbuch über die
       Jugend der Wendegeneration. Zu Hause stehen in den Regalen etwa 800 Bücher.
       Worschech ist ein klarer Fall von Bildungsnähe.
       
       Halit Kamali hat sein Studium nicht beendet und arbeitet für eine
       Hausverwaltung. Seine Bücher lagern in Kartons, ein paar stehen im Regal im
       Schlafzimmer. Früher habe er viel gelesen, alles von dem kurdischen Autor
       Yasar Kemal etwa. Zuletzt fehlte die Zeit. Ist Kamali jetzt bildungsfern
       oder bildungsnah?
       
       Für beide steht außer Frage, dass ihre Töchter Abitur machen werden. „Auf
       jeden Fall“, sagt Worschech. „Ich werde schon dafür sorgen“, sagt Kamali.
       
       Der Stadtforscher Sigmar Gude hat vor drei Jahren die
       Sozialstrukturentwicklung in Teilen von Neukölln untersucht. Er fragte die
       Leute unter anderem, was ihnen wichtig sei. „Bildung stand bei fast allen
       Eltern an erster Stelle.“ Auch bei jenen, die selbst kaum zur Schule
       gegangen seien, sagt Gude. „Eltern, die wenig Deutsch sprechen, wissen aber
       oft nicht, wie sie ihre Kinder am besten fördern können.“
       
       ## Wer bestimmt die Regeln?
       
       Auf der Liste der Elternvertreter ist jeder dritte Name deutsch. Unsere
       Bildungseltern, sagen Lehrer. Die hätten ruckzuck an zwei Wochenenden alle
       Horträume gestrichen. „Unsere türkischen und arabischen Eltern sind es
       gewohnt, sich rauszuhalten“, sagt eine Lehrerin. „Ja, wenn’s ums Backen
       geht, sind sie dabei.“ „Wir können nicht nur backen“, sagt Kamali im
       offenen Elterntreff. Seine Hand fährt in die Luft, die silberne Kette an
       seinem Arm klirrt. Wie Trottel würden Lehrer die türkischen Eltern mitunter
       behandeln. Er hebt die Stimme: „Sie verstehen. Ihr Kind. Morgen um acht
       Uhr. Schule.“ Klar, es sei schwierig gewesen, türkische oder arabische
       Eltern als Elternvertreter zu gewinnen. Aber man müsse den Weg eben etwas
       ebnen.
       
       Sevil Tosun hat bereit Unterschriften für den Zebrastreifen gesammelt, zum
       Beginn des Schuljahres organisiert sie erneut eine Unterschriftensammlung
       mit. Eine Frau, die selbst nur fünf Jahre zur Schule ging, zwei Kinder und
       ihren Mann versorgt und für einen Stundenlohn von 1,50 Euro im offenen
       Elterntreff arbeitet. Als im Herbst die Stundenpläne verändert werden, geht
       sie auf die Barrikaden.
       
       Eine Arbeitsgemeinschaft aus Eltern, Lehrern und Erziehern hatte seit dem
       Frühjahr beratschlagt, wie für die Kinder, die im Hort nachmittags
       Arbeitsgemeinschaften besuchen, mehr Zeit zum Mittagessen organisiert
       werden könnte. Das Ergebnis: Die Unterrichtszeit wird für alle um 10
       Minuten verlängert. Vor allem Eltern der Kiezschulinitiative nahmen an den
       Sitzungen teil, ihre Kinder besuchen den Hort. Die Mehrheit der türkischen
       und arabischen Kinder geht um halb zwei nach Hause. Ihre Eltern erfahren
       von den neuen Stundenplänen erst, als sie in Kraft treten.
       
       „Früher gab es hier keine Probleme. Erst als die kamen“, sagt Sevil Tosun
       im Windschatten des Schulhauses stehend, die Hände in den Manteltaschen
       vergraben.
       
       Es ist ein Streit darum, wer die Regeln für wessen Alltag macht.
       
       ## Die Idee von der Doppelspitze
       
       In diese angespannte Zeit fällt der Termin der ersten
       Gesamtelternversammlung im September vergangenen Jahres. Kamali steht zur
       Wiederwahl. Aber Susann Worschech hat einen anderen Vorschlag: Sie will
       eine Doppelspitze mit Vertretern der neuen und der alten Eltern. Die
       Doppelspitze kennt sie von den Grünen. Da besteht sie in der Regel aus
       einem Mann und einer Frau. Weil es 50 Prozent Frauen in der Gesellschaft
       gibt, sollen sie auch die Hälfte der Führungspositionen bekommen, so die
       Logik. An der Karlsgarten-Schule kommen 15 Prozent der Schüler aus
       deutschen Familien. Unter den anderen 85 Prozent sind türkische, arabische,
       polnische, rumänische und bulgarische Kinder. Unter anderem.
       
       Als Worschech am Abend der Versammlung den Konferenzraum betritt, fällt ihr
       auf, dass ungewöhnlich viele Eltern da sind. Sie stellt ihren Antrag vor
       und begründet ihn mit Kommunikationsproblemen und unterschiedlichen
       Bedürfnissen. Danach meldet sich Kamali zu Wort: Ja, es gebe
       Kommunikationsprobleme, aber die ließen sich so nicht lösen. „Für eine
       Doppelspitze stehe ich nicht zur Verfügung“, sagt er.
       
       Es scheint in diesem Moment, als sei die Kluft zwischen den Eltern
       unüberbrückbar.
       
       Im zweiten Stock der Karlsgarten-Schule geht die Tür zum Klassenraum der
       Gruppe 2.1 auf. Susann Worschechs Tochter Ella und ihre Freundin Madita
       drängeln sich gleichzeitig rein, ihre Jack-Wolfskin-Ranzen stoßen
       aneinander. Sie ziehen ihre Arbeitshefte heraus. Madita ihres für die
       erste, Ella das für die zweite Klasse. In der Karlsgarten-Schule werden die
       Klassen eins bis drei zusammen unterrichtet. Als Hausaufgabe musste Ella
       ein Rätsel schreiben. „Es ist ein Mensch. Es hat ein Pferd. Es sitzt auf
       einem Sattel“, liest sie vor. Christiane Fleischmann, ihre Lehrerin, lobt.
       
       Neben dem Lehrertisch kniet ein Junge und liest gedehnt einzelne Wörter.
       Für Fleischmann ist es die Sternstunde des Tages. „Jetzt hat es tatsächlich
       klick gemacht“, sagt sie. Der Jüngste von acht Geschwistern, lernt in der
       dritten Klasse doch noch lesen.
       
       ## Die Kinder sortieren sich nach Elternhaus
       
       Man merke, wenn Eltern ihren Kindern vorlesen, sagt Fleischmann. „Diese
       Kinder kommen mit einem Vorsprung in die Schule, den die anderen kaum noch
       aufholen.“ Unfair sei das. „Aber wir als Schule können das nicht
       ausgleichen.“
       
       Sie deutet auf einen türkischen Jungen aus, wie sie sagt, sehr, sehr
       schwierigen Verhältnissen. „Der kann alles“, sagt sie. „Aber er ist eine
       Ausnahme.“ Als die Pause beginnt, wartet Ella auf Ronja, Madita und Yasmin.
       Omur und Kevin sind schon auf den Hof gerannt. Die Kinder sortieren sich
       nach Elternhaus. Woran das liegt, kann Fleischmann nicht sagen. „Ich weiß
       auch nicht, warum sie noch nie zu einem Geburtstag eingeladen wurde und
       immer noch kaum Deutsch spricht“, sagt Fleischmann und zeigt auf ein
       Mädchen, dessen schwarzer Zopf fast bis zur Hüfte reicht. „Ist doch auch
       ein nettes, kluges Mädchen.“
       
       Die Eltern der Kiezinitiative stellten sich vor, dass sich die Schule, wenn
       sie ihre Kinder dort anmelden, in einen Ort gelebter Integration
       verwandelt. Aber Unterschiede leben fort. Auch in ihren Kindern.
       
       Susann Worschech beobachtet, dass ihre Tochter vor allem mit Kindern
       befreundet ist, die auch mal klettern gehen und eine Geo-Mini im Abo haben.
       
       Am Geld liegt es nicht. Die Worschechs kommen gerade so über die Runden,
       vielen anderen Eltern aus der Kiezschulinitiative geht es ähnlich.
       
       Auch die Herkunft ist nicht der entscheidende Faktor. Manche Kinder der
       Initiative haben einen türkischen Vater, andere eine libanesische Mutter.
       
       Wichtiger scheint, was der Soziologe Pierre Bourdieu einst als kulturelles
       Kapital bezeichnete, dazu zählt auch Bildung. Es trennt die, die viel davon
       haben, von denen, die weniger haben.
       
       ## Schritte der Annäherung
       
       Dann gibt es aber doch wieder Momente, wie den warmen Tag im Spätsommer, an
       dem die Elternvertreter einer Klasse fragen, wer Lust auf ein Picknick hat.
       Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen nach Unterrichtsschluss auf Decken im
       Park, während ihre Kinder spielen.
       
       Erste Zeichen einer Annäherung.
       
       In der Elternvertretersitzung, in der der Streit zwischen Susann Worschech
       und Halit Kamali eskaliert, wird am Ende die Doppelspitze abgelehnt. Die
       Kopftucheltern überstimmen die Studentenfraktion. Als Worschech
       anschließend direkt gegen Kamali antritt, verliert sie deutlich. Wird dann
       aber in den Vorstand gewählt.
       
       „Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so auf den Schlips getreten fühlt“,
       sagt Susann Worschech.
       
       „Die Mehrheit hat nun mal Migrationshintergrund. Das ist doch ein blödes
       Signal: Wir sind deutsch, wir sind da, wir wollen, wir können, wir
       kriegen“, sagt Halit Kamali.
       
       Immerhin gibt es seit dem Streit in der Elternversammlung nun regelmäßige
       Vorstandstreffen, in denen sich neue und alte Eltern besprechen. Im Café
       Blume, dem Stammlokal der Kiezschulinitiative. Von den fünf Mitgliedern des
       Vorstands sind an diesem Winterabend drei erschienen: Halit Kamali bestellt
       ein Bier, Susann Worschech einen Ingwertee. Die dritte Frau nichts.
       Worschech teilt mehrere Seiten mit Argumenten für einen neuen Vorschlag zur
       Organisation des Schulhorts aus. Ihr Ingwertee wird kalt, während sie den
       Plan verteidigt. Kamali wärmt sein Bierglas mit beiden Händen und hält
       dagegen. Die andere Frau sagt kaum etwas.
       
       ## Ein Schlagabtausch, doch der Ton hat sich verändert
       
       Nach einer Stunde verabschieden sie sich, Kamali deutet eine kleine
       Verbeugung an und berührt Susann Worschech kurz am Ellenbogen, die streicht
       sich die Haare aus dem geröteten Gesicht.
       
       Wer hat gewonnen? „Na ich“, sagt Worschech später und lacht. – „Ich hab
       Susann überzeugt“, sagt Kamali.
       
       Die Treffen sind immer noch ein Schlagabtausch, aber etwas im Ton hat sich
       verändert.
       
       „Jemand, der klare Kante zeigt, ist mir lieber als Muttis, die meinen, wir
       müssen uns alle liebhaben“, sagt Susann Worschech.
       
       „Ich finde viele ihrer Ideen gut“, sagt Halit Kamali.
       
       Noch anderthalb Schuljahre wird seine Tochter die Karlsgarten-Schule
       besuchen. Spätestens dann wird er den Vorsitz der Elternvertretung abgeben.
       „Dann brauchen wir auch keine doppelte Spitze mehr“, sagt er spöttisch.
       
       Dann werden Eltern der Kiezinitiative die Elternvertretung übernehmen?
       
       Sollen sie, sagt Halit Kamali.
       
       1 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Deutsches Bildungssystem: Mehr Rütli-Schüler? Ja, bitte!
       
       Die deutschen Bildungspolitiker haben in den vergangenen Jahren gelernt,
       dass Durchlässigkeit ein Wert ist. Doch Problemschulen gibt es immer noch.
       
 (DIR) Vom Problemfall zur Vorzeigeschule: Der Rütli-Effekt
       
       2006 stand die Rütlischule für gescheiterte Integration. Nun entlässt sie
       ihre ersten Abiturienten. Die meisten haben einen Migrationshintergrund.
       
 (DIR) Häusliche Gewalt: Vor den Kopf geschlagen
       
       Die Initiative BIG leistet Präventionsarbeit an Schulen. Jetzt stellen
       Mittelkürzungen des Senats das Projekt infrage – obwohl der Bedarf nach
       Hilfe groß ist.
       
 (DIR) Konflikt auf der Krim: Ukrainische Einheit belagert
       
       Tausende Bewaffnete haben den Stützpunkt der 36. Brigade bei Simferopol
       umzingelt. Nato-Generalsekretär Rasmussen warnt Russland vor der Eskalation
       der Lage.
       
 (DIR) Steigende Mieten: „Die Menschen sind existenziell bedroht“
       
       Gentrifizierung betrifft nicht mehr nur einzelne Viertel, sondern
       flächendeckend die ganze Stadt, sagt die Forscherin Ilse Helbrecht. Sie
       zeigt: Betroffene versuchen in ihrem Umfeld zu bleiben - auf Kosten der
       Wohnqualität.
       
 (DIR) Gentrifizierung: Das Milieu wehrt sich
       
       Anwohner von Alt-Treptow beantragen Milieuschutz gegen hohe Mieten. Immer
       mehr Bezirke greifen zu diesem Mittel, obwohl ein direkter Nutzen fraglich
       ist.
       
 (DIR) Gentrifizierung in Kreuzberg: Schulen in der Ethnofalle
       
       Gut verdienende Zuzügler verändern die Mischung an den Grundschulen in der
       Innenstadt. Davon profitieren viele Schulen, aber längst nicht alle Kinder.