# taz.de -- Archäologen und ihre Helfer: Vier Meter fünfzig Vergangenheit
       
       > Was treibt Menschen dazu, sich Tag für Tag durch die Erde zu wühlen?
       > Besuch bei einer Grabung in Hamburg-Harburg.
       
 (IMG) Bild: Buddelt in Hamburg-Harburg: Archäologiehelfer Jan sucht mit einem kleinem Detektor nach metallischen Teilen.
       
       HAMBURG taz | Container liegen in Pfützen, eine Baggerschaufel beißt
       knirschend in die Zwischendecke eines Abbruchhauses. Hier, in der
       Schlossstraße in Hamburg-Harburg, soll ein neues Wohnquartier hochbetoniert
       werden. Doch bevor es so weit ist, ist die Geschichte dran. Abseits des
       arbeitenden Baggers ragt deshalb ein steif gezogenes weißes Partyzelt in
       den grauen Himmel. Der Weg hinein führt über eine zu Matsch zertretene
       Erdfläche und mündet vor einem Art Schachbrett aus Quadraten, in den Boden
       eingegraben. Dazwischen liegt als Begrenzung ein solides Dammsystem – die
       Flaniermeile des Archäologen.
       
       Von dort oben blickt Kay-Peter Suchowa, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim
       Projekt Schlossstraße, auf ein orangefarbenes Backsteinfundament, das in
       der dunklen Erde leuchtet. Er blickt auf angemodertes Holz, das endlich
       wieder Luft atmen darf, und auf eine Fläche mit Kopfsteinpflaster. Die
       einzelnen Steine sind nahezu plastisch freigekratzt. Es scheint eher das
       Bühnenbild eines Kopfsteinpflasters zu sein als etwas, das seit
       Jahrhunderten unter einer meterdicken Schicht Erde begraben lag.
       
       „Das war Holger“, sagt Suchowa. „Wenn ich etwas umsichtig gearbeitet haben
       will, macht Holger das. Der kann so schön putzen. Ich habe noch nie
       jemanden gesehen, der den Boden so glatt kriegt.“
       
       Holger steht ein paar Meter daneben und hört nicht. Er hält die Stufe einer
       Leiter fest umgriffen. Ein Kollege steigt zittrig hinauf in drei Meter Höhe
       und balanciert dabei einen Fotoapparat in der Hand. Alles, was sie finden,
       wird hier markiert, kartiert, fotografiert und zeitlich eingeordnet. Auch
       Holgers Kopfsteine, die aussehen wie geleckt. Dann kommen sie auf den Müll.
       Die Grabungen gehen weiter.
       
       „Wir haben uns nach oben gewohnt,“ sagt Suchowa. Etwa vier Meter fünfzig
       seit dem 13. Jahrhundert. Deshalb grabe man sich jetzt vier Meter fünfzig
       nach unten, eine Erdschicht nach der anderen, Kopfsteinpflaster oder nicht.
       Er zieht die Ringnadel aus seiner geschlossenen Faust. Normalerweise
       zeichnet er damit Erdschichten im Profil nach, um sie visuell miteinander
       zu verbinden und die Vergangenheit zu verstehen. Einfachere geistige
       Herausforderungen lassen sich damit aber auch verdeutlichen. Lehrstunde.
       
       Auf das sumpfige Moorland hier, sagt Suchowa, hätten die Menschen zuerst
       eine Lehmschicht gegen das Wasser gesetzt. Er ritzt einen horizontalen
       Strich in den Sandboden vor seinen Füßen. Danach häufte man einen Sandhügel
       an, im Falle einer Überschwemmung. Rrrrrzzzz, ein schwungvoller Halbkreis
       über die Lehmlinie. Darauf ein Haus. Er schwingt die Nadel. Nicht den
       Tierkot vergessen, irgendwann gibt es davon zu viel, dann steht der Morast
       zu hoch, sagt er, dann sind die „Trippen“ nutzlos, eine Art hochhackige
       Schuhe gegen Modder, der Schlick schwappe einfach in die Lederschuhe
       hinein. „Darauf hat keiner mehr Lust.“ Rzzzzzz, eine weitere Sandschicht
       drauf. Dann brennt das Haus ab. Weg ist es. Dann kommt auf den Brandbruch
       wieder Sand. Rzzzzzzz. Suchowa putzt die Ringnadel ab.
       
       Der Mensch, wie er sich nach oben wohnt. 700 Jahre Geschichte in 30
       Sekunden. Suchowa schaut mit großen Augen auf seine Zeichnung, lächelt und
       legt dabei eine große Zahnlücke frei. Er mag seinen Beruf.
       
       Man nutze alle Sinne, sagt der 43-Jährige. Er darf die Funde anfassen, er
       riecht den alten Dung im Boden, er sieht die Farblinien der Erdschichten im
       Profil. „Und es ist alles total logisch. Da kommen Gefühle und Verstand
       zusammen. Das finde ich so schön.“ Schön. Er dehnt das Wort, wuchtet ein H
       hinein. „So schö-hön.“ Es gibt seiner Begeisterung Gewichtung.
       
       Der Beruf habe ihn zu einer höheren Achtsamkeit gegenüber allem geführt,
       sagt Suchowa. „Alles, was ich jetzt für die Vergangenheit mache, mache ich
       auch in der Gegenwart.“ Auf der Straße schaue er sich die Menschen an,
       welche Schuhe sie tragen und was diese wiederum über den sozialen Stand
       aussagen, über die Herkunft der Leute. Er selbst sei nämlich wurzellos.
       Seine Familie wurde im zweiten Weltkrieg aus Russland nach Deutschland
       verschleppt. Es mag „Fünf-Cent-Psychologie“ sein, sagt Suchowa, aber
       vielleicht interessiere er sich deshalb so für Geschichte. „Um mich selber
       irgendwie verorten zu können in Raum und Zeit.“
       
       „Bitte zwei Meter zur Seite!“ Klick. Der Kollege steigt vom „Panoramablick“
       hinunter. Das Kopfsteinpflaster ist abfotografiert, ohne Suchowa im Bild.
       Holger darf endlich die Leiter loslassen. Der 26-Jährige sieht müde aus,
       aber zufrieden. Er trägt einen Kapuzenpulli mit dem Namen einer
       Death-Metal-Band, zwischen dem gemütlichen Dreitagebart wachsen schwarze
       Piercings aus der Lippe.
       
       Friedhofsgärtner habe er eigentlich gelernt, sagt Holger. Nach sechs
       Monaten in einem Zweimann-Betrieb – „Ackern bis zum Umfallen“ – kam die
       Kündigung. Das Arbeitsamt beförderte ihn dann zum Grabungshelfer.
       Befördert, weil ihm die Arbeit gefällt. „Das ist wie’n kleiner Junge, der
       in der Sandkiste spielen darf, und man wird dafür bezahlt.“
       
       Es sei beruhigend, sagt er, dort unten in der Grube, wenn er den
       Fugenkratzer zwischen den Steinen hin und her zieht. „Die Zeit geht schön
       schnell rum, weil man nicht andauernd auf die Uhr guckt.“
       
       Fummelarbeit gefällt ihm. Zu Hause schnitzt Holger Dinge aus Holz. Einmal
       hätte er einen Totenkopf für den Gangschaltknüppel seines Autos
       angefertigt. Das Material war Eibe, ein besonders hartes Holz. Er habe
       wirklich lange daran gearbeitet, erinnert er sich. Aber er hätte zuvor auch
       lange gewartet. Zwei Jahre. Das Holz musste trocknen. „Ich bin ein
       geduldiger Mensch“, sagt er.
       
       Zwei Jahre muss in der Schlossstraße niemand warten, um etwas in den Händen
       zu halten. Während rechts von Holger ein Laufband Erde aus dem Zelt
       rattert, wartet ein Mann dort, wo die Erde in den freien Fall übergeht. Er
       stülpt gelbe Geschirrspülhandschuhe über und schwenkt dann einen Stock, an
       dessen Ende eine Art Tennisschlägerkopf sitzt, über den ansteigenden Haufen
       vor seinen Füßen. Qua-ak-ak-ak, qua-ak-ak-ak! Es klingt wie eine Ententröte
       auf Stoßatmung.
       
       Den ganzen Tag immer derselbe Sound? „Ne, ne. Je edler das Metall, desto
       höher der Ton.“ So funktioniert der Metalldetektor, sagt Jan. Er ist
       gelernter Garten- und Landschaftsgärtner. Ein unsicherer Beruf. Die
       Stellenausschreibung für seinen „Traumjob“ Archäologiehelfer kam ihm
       gelegen. Da gräbt man das ganze Jahr durch.
       
       Jan ist in der Lüneburger Altstadt aufgewachsen, sein Großvater hatte dort
       ein Antiquitätengeschäft. Beides, das Geschäft und die französische
       Militärbesatzung der Stadt im vorletzten Jahrhundert, hat ihn für die
       Vergangenheit sensibilisiert. Er ist ins Fachwissen hineingewachsen.
       
       „Der erkennt einen Uniformknopf und weiß die Einheit“, schwärmt Suchowa.
       Quaak! Jan zückt einen Pinpointer aus der Hose. Ein Textmarker-dickes Gerät
       zur Feinortung. Er drückt es in den weichen Boden. Pieep, piep, da!
       Schwarze Erde bröckelt auf gelbe Handschuhe. „Nichts Spektakuläres, ein
       abgebrochener Nagel.“ Er fokussiert den Fund durch die dicken
       Brillengläser, geht hinüber zu einer Holzbohle und legt es zu den anderen
       Funden. Netzsenker, Waffenteile, Beschläge. Auch Armbrustbolzen. Eine Seite
       seines Mundwinkels wandert still nach oben. Er schmunzelt, nur für sich.
       Wie jemand, der einen Goldschatz gefunden hat und mit jemandem spricht, der
       nichts davon weiß. Es ist Freitag, kurz nach 12 Uhr. Feierabend macht er
       trotzdem.
       
       Vier Grabungen sind auf dem Gelände in der Harburger Schlossstraße bisher
       erschlossen. Aus einer, die bald dichtgeschoben wird, weil man dort bereits
       auf vier Meter fünfzig Tiefe ist, säuselt leise eine Klavier-Komposition.
       Es klingt nach Abschied. Unterhalb des Radios am Grubenrand hocken zwei
       Mitarbeiter. Der eine grübelt über einer Karte mit bunten Linien. Der
       andere starrt in die dunkle Erdwand vor sich. Über einige der
       Boden-Kompositionen herrscht offenbar noch Ratlosigkeit. Im Hintergrund
       gurgelt eine Pumpe Wasser aus der Grube. „Die Elbe“, sagt jemand. Die Zeit
       drängt. Es muss Sand drauf. Rzzz.
       
       Suchowa hat noch ein Jahr Zeit, dann kommen der Investor und das
       Wohnquartier. Er würde am liebsten noch vier Jahre weitergraben, sagt er.
       So wie die meisten hier. Auch ohne Zelt, im Regen, bei Wind. Sogar ohne
       Toilette.
       
       Der Archäologe sieht seinen Beruf in der gesellschaftlichen Tradition von
       Schamanen. Die seien einst verantwortlich gewesen für das historische
       Bewusstsein eines Stammes. Sie hätten erzählt, wo der Stamm herkam, was die
       Mitglieder gemacht haben, um der Gemeinschaft eine Identität zu verleihen.
       Heute sei das einfach nur spezieller. „Ich erzähle eben nur über die
       Geschichte, üm spirituelle Sachen kümmern sich andere.“
       
       Gerne würde Suchowa den Menschen öfters zurufen: „Hör doch mal“ und „Guck
       doch mal!“ Die heutige Orientierungslosigkeit, so seine Vermutung, habe
       viel damit zu tun, das man einfach nicht mehr über seine Herkunft Bescheid
       wisse. Es fehle die Identifikation. Dabei müsse man doch wissen, woher man
       komme, um entscheiden zu können, wohin man gehe. Das sei seine Philosophie.
       
       Der Archäologe steht auf seinem Flanier-Damm und schaut hinunter auf die
       quadratischen Grabungsflächen. Seine Augen werden groß. Dort drüben, er
       visiert die orangefarben leuchtenden Backsteine an. Könnte es das Fundament
       eines Brunnens sein? Er reibt mit dem Daumen an der Ringnadel auf und ab.
       Da ist sie wieder, die Zahnlücke.
       
       Nächste Woche will Suchowa unter die Backsteine schauen, aber vorher wird
       sie jemand freiputzen müssen. Holger. Danach wird wieder Erde über das
       Laufband rattern und Jan vor die Füße rieseln. Der Blick in die
       Vergangenheit ist etwas für geduldige Menschen.
       
       25 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) E. F. Kaeding
       
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 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
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