# taz.de -- Michael Mansfield über staatliche Willkür: „Die Leute sind die Arroganz leid“
       
       > Man darf dem Staat nicht trauen, auch wenn man unschuldig ist, sagt der
       > Jurist Michael Mansfield. Whistleblowern wie Edward Snowden ist er
       > dankbar.
       
 (IMG) Bild: Doreen und Neville Lawrence beharren seit 20 Jahren auf Gerechtigkeit
       
       taz: Herr Mansfield, der Mord am schwarzen Londoner Teenager Stephen
       Lawrence vor 20 Jahren gilt als eines der wichtigsten Themen britischen
       Rechtsgeschichte: Der britischen Polizei wurde „institutionalisierter
       Rassismus“ vorgeworfen, was zu grundlegenden Diskussionen geführt hat, bis
       heute. Wieso flackert dieser Fall immer wieder auf? 
       
       Michael Mansfield: Der Grund hierfür liegt an der Hartnäckigkeit der Eltern
       von Stephen Lawrence, Doreen und Neville. Sie waren von Anfang an
       unzufrieden mit der Art und Weise, wie sie von der Polizei behandelt
       wurden. Anstatt zu verschwinden oder aufzugeben, stellten sie immer mehr
       Fragen. Ihre Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt: Als 1997 Labour an die
       Macht kam, gab es einen öffentlichen Untersuchungsausschuss.
       
       Sie meinen den Macpherson-Ausschuss, der zwischen 1998 und 1999 stattfand? 
       
       Ja, in diesem Ausschuss stellte ich im Namen der Eltern viele Fragen, und
       der Richter bemerkte, wie inkompetent die Ermittlungen geführt worden
       waren. Er wollte herauskriegen, wieso. Es gab zwei Möglichkeiten:
       institutioneller Rassismus, was die Polizei jahrelang nicht zugab. Oder:
       die normale Korruption, die man in zahlreichen Institutionen findet. Der
       Richter sprach 70 Empfehlungen aus, die den Fall Lawrence zu einen
       Präzedenzfall machten.
       
       Das zeigte, dass auch normale Menschen etwas verändern können, wenn sie
       wirklich an eine Sache glauben und beharrlich bleiben. Und 2012 wurden
       endlich zwei Männer für den Mord an ihrem Sohn verurteilt. Dieser wohl
       bekannteste Gerichtsfall Englands ist für mich in die Geschichte
       eingegangen.
       
       Und er ist noch immer nicht Geschichte. Erst im vergangenen Juni behauptete
       ein ehemaliger Geheimagent, er sei beauftragt worden, der Lawrence-Familie
       Dreck anzustecken, und Scotland Yard habe mit einer Spezialeinheit die
       Trauergäste der Familie ausspioniert. Das löste in Großbritannien eine
       Welle des Entsetzens aus … 
       
       Nach über 40 Jahren praktischer Arbeit überrascht mich nicht mehr viel.
       Aber ich bin auch nicht komplett abgestumpft. All dies schockierte mich
       sogar sehr, denn es ging weit über die üblichen Grenzen hinaus. Hier wurde
       eine respektable Familie unterminiert. Aber es geht eigentlich um noch viel
       mehr. Schauen Sie sich den Fall Edward Snowden an, der als ein Spion
       verfolgt wird, obwohl der aufdeckte, wie viele Informationen staatliche
       Behörden über vollkommen unschuldige Menschen ansammeln, unter der
       Begründung der Terrorbekämpfung. Als dies zuerst bekannt wurde, sagten
       viele Menschen: Na ja, macht nichts, selbst wenn es zu weit ging, warum
       soll man sich aufregen, wenn man unschuldig ist?
       
       Der Lawrence-Fall zeigt sehr deutlich, dass man sich Sorgen machen muss,
       selbst wenn man unschuldig ist. Wenn du zur falschen Zeit am falschen Ort
       bist oder in seltsame Umstände verwickelt wirst, die den Staat irgendwie
       bedrohen, dann behandelt dich der Staat fast wie die Stasi. Es müsste jetzt
       einen neuen Lawrence-Untersuchungsausschuss geben. Der Fall Lawrence
       entlarvt bis heute die undemokratische Arbeitsweise mancher unserer
       Institutionen.
       
       Warum bis heute? Wieso lag die Bespitzelung der Lawrences nicht schon im
       ersten Untersuchungsausschuss auf dem Tisch? 
       
       Weil wohl irgendjemand in der Polizei beschloss, dass diese Informationen
       nicht bekannt werden sollten. Es scheint, dass die britische Geheimpolizei
       nicht nur in diesem Fall so agiert hat. Es sind auch legale Organisationen
       wie Umweltschützer infiltriert worden. In einem Fall zeugte ein Agent sogar
       ein Kind mit einer Aktivistin. Das ist wie die Stasi im ehemaligen
       Ostdeutschland. Bürger auf der ganzen Welt sagen heutzutage, dass sie genug
       von alle dem haben. Ägypten, Brasilien, Italien, Spanien, Griechenland,
       auch in Großbritannien haben die Leute genug davon, getäuscht zu werden.
       
       Also geht es im Fall Lawrence wie auch im Fall Snowden im Grunde um
       institutionalisierte Verantwortungslosigkeit? 
       
       Genau das sagte immer Doreen Lawrence, die Mutter des Mordopfers Stephen.
       Ihr und ihrem Mann wurde immer wieder versprochen, dass man den Dingen auf
       den Grund gehen werde. Sie gibt sich mit solchen Versprechungen nicht mehr
       zufrieden. Offene und gewissenhafte Untersuchungen sind die Fundamente
       einer wahrhaften Demokratie. Doreen Lawrence merkt, genau wie Menschen
       überall auf der Welt, dass sie getäuscht wird. Ich frage mich, welche
       Politiker überhaupt bei den nächsten Wahlen die momentane Situation
       überleben können, wo es nicht nur zu einem wirtschaftlichen Kollaps
       gekommen ist, sondern auch zu einem politischen.
       
       Welche Lehren ziehen Sie allgemein aus dem Fall Snowden? 
       
       In Großbritannien waren die letzten drei Jahrzehnte durch ständigen Verlust
       demokratischer Rechenschaft charakterisiert. Das sieht man daran, wie
       Regierungen ihre Entscheidungen zunehmend allein fällen und sich dabei auf
       Geheimdienste und Überwachungserkenntnisse verlassen – siehe den Irakkrieg.
       Edward Snowdens Bekanntgaben haben dies jetzt erneut stark betont. Die NSA
       entwickelte Programme wie Prism und Xkeyscore, um den gesamten
       Internetverkehr per Knopfdruck zu überwachen.
       
       In Großbritannien ist dies untrennbar mit der
       Geheimdienstüberwachungszentrale GCHQ verbunden. Die hat Geld erhalten, um
       dabei mitzumachen, erleichtert durch lasche Regulierung. Eine Barriere
       gegenüber Willkür und Machtmissbrauch wäre unser Oberstes Gericht, dazu die
       Europäische Menschenrechtskonvention. Aber inzwischen wollen reaktionäre
       Stimmen beides abschaffen.
       
       Es gibt auch immer wieder öffentliche Untersuchungsausschüsse, die
       Missbräuche aufdecken sollen, beispielsweise zum Irakkrieg oder der
       Leverson-Ausschuss über die Absprachen zwischen den Medien, Polizei und
       Politikern in der sogenannten Murdoch-Affäre. Aber weil dies eine
       öffentliche Form von Rechenschaft ist, gehen die Regierungen damit sehr
       zurückhaltend um. Deshalb fordere ich eine permanente Wahrheitskommission,
       die alle Aspekte institutionellen Handelns überprüft. Die Öffentlichkeit
       ist die Arroganz der Macht leid und auf der Suche nach alternativen
       Regierungsformen.
       
       Der Fall Lawrence ist in erster Linie ein Rassismusfall gewesen, ein
       Zeichen dafür, wie Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft der
       Staatsgewalt ausgeliefert sind. Hat es wenigstens da Fortschritte gegeben? 
       
       Doch. Der Macpherson-Ausschuss führte verblüffende Veränderungen herbei. Er
       veränderte das allgemeine Bewusstsein, auch wenn nicht alle seine
       Empfehlungen umgesetzt wurden. Das Problem mit institutionellem Rassismus
       ist heute ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Typisch ist, dass er nicht
       direkt ist, sondern eher indirekt und versteckt agiert. Nicht nur bei der
       Polizei. Stuart, der Bruder von Stephen Lawrence, wurde 25-mal von der
       Polizei angehalten, ohne irgendeine Beschuldigung, ohne irgendetwas getan
       zu haben.
       
       Wieso darf das ein Polizist in England? 
       
       Wenn Grund besteht zur Annahme, dass jemand eine Straftat begannen hat oder
       begehen wird oder die öffentliche Ordnung stört, darf ein Polizist einen
       Menschen auf der Straße anhalten, seine Identität kontrollieren und ihn
       oder sie durchsuchen. Oft wird es als Methode der Belästigung benutzt.
       Schwarze werden durchschnittlich 28-mal öfter angehalten als andere
       Menschen. Rassismus ist immer da. Aber die meisten normal denkenden
       Menschen tolerieren das nicht mehr, weder bei der Polizei noch auf dem
       Fußballplatz.
       
       Was können andere Länder aus dem britischen Umgang mit dem Fall Lawrence
       lernen? 
       
       Der Macpherson-Bericht ist fast wie eine Bibel. Er sollte als Grundtext von
       Gesetzgebern gelesen werden, denn er zeigt die Ereignisse und die
       Maßnahmen, die getroffen wurden. Das ist keine Astrophysik. Er besagt
       einfach, dass man gegenseitige Kontrollen und ein Gleichgewicht zwischen
       Institutionen braucht, um sicherzustellen, dass Menschen mit Respekt und
       fair behandelt werden. Andere europäische Länder haben sicherlich ähnliche
       Probleme, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien. Die Betroffenen
       müssen nicht schwarz sein. Es sind Menschen generell mit
       Migrationshintergrund. Macpherson hat gezeigt, wie man vorgehen muss.
       
       Und trotzdem gibt es immer noch mutmaßliche Täter von 1993, die nicht
       gefasst wurden? 
       
       Ja, es gibt sechs Täter, zwei wurden verurteilt, also gibt es noch vier auf
       freiem Fuß. Mindestens zwei wurden niemals gefunden. Doch Doreen und
       Neville werden nicht aufgeben.
       
       19 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
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