# taz.de -- Neues Album der Band „Turbostaat“: In Eierlikörgefangenschaft
       
       > Auf die Band Turbostaat können sich sowohl die Antifa als auch der
       > Mainstream einigen. Ihr neues Album bietet Gentrifizierung zum Mitsingen.
       
 (IMG) Bild: Der Sänger der deutschen Band „Turbostaat“, Jan Windmeier
       
       In der Stadt, die hier besungen wird, ist es nicht nett. Es fehlt Luft zum
       Atmen, Muße zu verweilen. Man spürt ein „Drücken auf dem Kehlkopf / selbst
       im hellsten Sonnenlicht“. Wenige gehen aufrecht, ein paar seelische Wracks
       kreuzen den Weg. Scheißkalt ist es auch. Und doch: „Manchmal glaubt man
       beinahe selber / dass das alles so gehört“.
       
       Die Band, die lieber nicht glauben möchte, dass das alles so gehört, heißt
       Turbostaat. Ihr neues Album, „Stadt der Angst“, erzählt von dieser
       beklemmenden Atmosphäre. Die Texte handeln auch von den Kämpfen in dieser
       Stadt: für bezahlbaren Wohnraum, menschenwürdige Arbeitsverhältnisse, gegen
       Überwachung und Segregation.
       
       Turbostaat sind fünf Herren, die heute um die 40 Jahre alt sind und seit
       1999 gemeinsam Musik machen. Mit ihren ersten Alben – „Flamingo“ (2001) und
       „Schwan“ (2003) – wurden sie zu Lieblingen der linken Szene und spielen in
       den ausverkauften Jugendzentren der Republik. Ihr Sound orientiert sich am
       treibenden, melancholischen Punk, den Hamburger Bands wie etwa „Razzia“
       oder „Dackelblut“ – von Kritikern hoch geschätzt, aber nie kommerziell
       erfolgreich – in den 80er und 90er Jahren spielten.
       
       Besonders sind Turbostaat, weil sie mit dieser Art von Musik, die vor ihnen
       noch Nische war, Hallen mit bis zu 1.500 Menschen füllen, weil sie von der
       Musik leben können. Die Verkaufszahlen sind dennoch mäßig. Vom 2010er Album
       „Das Island-Manöver“ verkauften sich 15.000 Einheiten (zum Vergleich: Die
       mit Turbostaat befreundeten Beatsteaks verkauften von ihrem letzten Album
       weit über 100.000 Exemplare).
       
       Bemerkenswert ist außerdem, dass ihnen den Sprung auf die großen Bühnen von
       der Antifa-Fraktion über die Bauwagenpunks bis hin zum Szenepuristen keiner
       übel nimmt – vor 20 Jahren in Hardcore- oder Punkkreisen undenkbar.
       
       ## Grundmotiv Furcht
       
       „Nein, so richtigen Vorwürfen haben wir uns nie ausgesetzt gesehen“, sagt
       Gitarrist Marten Ebsen, der auch die Songtexte schreibt. „Wir versuchen
       diesen Spagat, auf der einen Seite von dieser Band leben zu können und uns
       andererseits treu zu bleiben.“ Das heißt auch, auf günstige Eintrittspreise
       zu bestehen oder weiterhin Benefizkonzerte zu spielen. „Wir versuchen ja,
       unsere Ideen und Ideale zu behaupten. Das ist ein Kampf.“ Dann erzählt
       Ebsen, dass ihnen Leute aus dem Live-Geschäft ständig nahelegten, mehr
       Eintritt zu nehmen.
       
       Die Motive auf „Stadt der Angst“ legen nahe, dass sie sich inhaltlich nicht
       allzu weit entfernt haben von der Szene der besetzten Häuser und autonomen
       Zentren. „Klar, aus dieser Ecke kommen wir, ich hoffe, das hört man auch“,
       sagt Ebsen. Über die Leitmotive des neuen Albums sagt er: „Diese Stadt, von
       der wir da singen, wird in erster Linie aus Geld und Angst gebaut. Das
       Grundmotiv der Furcht reicht da aus, weil du beliebig etwas einsetzen
       kannst.“
       
       Dann redet er vom öffentlichen Schüren von Ängsten, von einem politischen
       Sicherheitswahn, der Bürgern die ständige Gefährdung suggeriert. Und von
       prekären Arbeitsbedingungen: „Viele müssen heute schon mit den Ängsten klar
       kommen, dass ihnen morgen das Geld ausgeht oder dass sie nächste Woche
       ausziehen müssen.“
       
       Gegründet wurden Turbostaat Ende der 90er in einer schleswig-holsteinischen
       Kleinstadt: „Wir kommen alle aus Husum, da gab’s eine relativ große
       Punkszene“, sagt Ebsen, „wobei zu dieser Szene auch vom K-Gruppen-Typen
       über den Metaller bis zum Hippie alles dazugehörte.“ Ehe sie
       zusammenfanden, spielten die Musiker bereits einige Jahre in anderen
       Hardcore- und Punkbands.
       
       ## Mit norddeutscher Kargheit
       
       Neben Ebsen bestehen Turbostaat aus Sänger Jan Windmeier, dem zweiten
       Gitarristen Roland Santos, Bassist Tobert Knopp und Schlagzeuger Peter
       Carstens. Ebsen lebt heute in Berlin, Knopp in Hamburg, der Rest in
       Flensburg.
       
       Die ersten beiden Turbostaat-Alben erscheinen Anfang der nuller Jahre auf
       dem Hamburger Label Schiffen. Da das kleine Indie-Label in Punkkreisen sehr
       angesehen war, bekam man zumindest innerhalb dieser Szene entsprechende
       Aufmerksamkeit. „Mehr wollten wir ja gar nicht. Platte machen auf Schiffen
       – und gut is’“, sagt Ebsen mit norddeutscher Kargheit.
       
       „Bei dem Label wären wir auch heute noch, wenn es das noch gäbe.“ Der
       Wunsch, von der Musik zu leben, kam erst mit der Zeit. Im Jahr 2007 – das
       Label Schiffen gab es inzwischen nicht mehr – nahm man das Angebot des
       Major Labels Warner an, wo man erst „Vormann Leiss“ und drei Jahre später
       „Das Island-Manöver“ veröffentlichte.
       
       Das neue Werk erscheint nun beim [1][Hamburger Label Clouds Hill], das
       bisher vor allem Indie-Acts und experimentelle Musik veröffentlicht hat.
       Der Vertrag bei Warner lief über zwei Alben, das Label wollte nicht
       verlängern, die Band aber auch nicht. „Nicht, weil’s da scheiße war,
       sondern weil du alles so hart verhandeln musst.“ Sobald Aufnahmen im Kasten
       seien, riefe dann jemand vom Label an und sage, was man damit mache. So hat
       man erst ohne Label die Platte aufgenommen und wurde sich dann mit Clouds
       Hill einig.
       
       ## Düsterer Punk mit Pop-Elementen
       
       Der Sound auf „Stadt der Angst“? Zum melancholischen, düsteren Punk
       verwenden Turbostaat zunehmend Wave- und Pop-Elemente. Viele Songs werden
       in mittlerem Tempo vorgetragen. Manchmal, etwa in „Psychoreal“, brettert
       man nach einem 80er-Wave-Intro aber doch noch los – heraus kommen dann
       klassische Punkstücke mit Noise- oder Feedback-Elementen. Verantwortlich
       für den Sound ist Produzent Moses Schneider, der bereits die Beatsteaks
       oder Tocotronic gemischt hat.
       
       Bei Tracks wie „Fresendelf“ (benannt nach einem Dorf in
       Schleswig-Holstein), das auf einem wavigen Gitarrenlauf basiert, oder dem
       ersten Song „Eine Stadt gibt auf“ fällt auf, was dieses Genre und auch
       diese Band auszeichnet: Der kehlig-melancholische Gesang Windmeiers über
       den meist weich klingenden, treibenden Gitarren verleiht Gefühlen wie
       Verzweiflung und Angst adäquat Ausdruck.
       
       Das liegt auch daran, dass die Metaphern stimmig sind. Hört man den Song
       „Psychoreal“, bekommt man eine Ahnung, wie dieser Mensch dort tickt, der
       sich in „Eierlikörgefangenschaft“ befindet. Und klimpernde Gitarren, die im
       Song „In Dunkelhaft“ die Spannung steigern und dann in die Verse „Ein
       Viertel irres Leuchten / ein Drittel Konfusion / eine Prise Ärger obendrauf
       / es fehlt was“ münden, die sollte man einfach hören.
       
       Thematisch befasst sich „Stadt der Angst“ stark mit Gentrifizierung. Ebsen
       sagt: „Wohnraum ist ein interessantes Thema. Neulich hab ich ’ne Talkshow
       gesehen, wo mal eine Frau aus dem Publikum zu fragen wagte, ob man Wohnraum
       nicht vielleicht als Grundbedürfnis oder Menschenrecht ansehen könnte.“ Die
       Talkrunde habe sich eher irritiert gezeigt.
       
       ## Schanzenviertel ist tot, trotz portugiesischem Gebäck
       
       In Städten wie Berlin stehe das Thema wenigstens auf der Agenda, in
       Flensburg aber etwa gebe es auch Aufwertungsprozesse, die keinen
       interessierten. Über das Schanzenviertel in Hamburg sagt er: „Ich mag da
       nicht mehr sein. Gefällt mir nicht. Das hat nichts mit Cafés zu tun oder
       mit portugiesischem Gebäck, ich mag beides gerne. Es ist trotzdem tot da.“
       
       Mit „Stadt der Angst“ wird das Genre nicht neu erfunden. Aber ihre Spielart
       des Punk beherrscht Turbostaat so perfekt wie derzeit keine andere deutsche
       Band.
       
       5 Apr 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.clouds-hill.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
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