# taz.de -- Zum Tod des Schriftstellers Achebe: Ein großer Geschichtenerzähler
       
       > Der Nigerianer Chinua Achebe, meistgelesener Schriftsteller des
       > postkolonialen Afrika, ist tot. Sein Werk inspirierte Generationen.
       
 (IMG) Bild: Chinua Achebe begründete die moderne afrikanische Literatur.
       
       BERLIN taz | Es gibt in Afrika keine unpolitische Literatur. Schon die
       Antworten auf die Frage, wer lesen kann und wer Zugang zu Büchern hat,
       verraten etwas über politische Zustände. Und die Frage, in welcher Sprache
       man schreibt und wie, stellt Schriftsteller vor eine politische Wahl, noch
       bevor sie ein Wort zu Papier bringen.
       
       Der Nigerianer Chinua Achebe war ein großer Geschichtenerzähler, wohl der
       weltweit zugänglichste des postkolonialen Afrika. Sein Roman „Things Fall
       Apart“, der schnörkellos den Beginn der Kolonialherrschaft in einem
       Igbo-Dorf in seiner südostnigerianischen Heimat beschreibt, gilt als der
       meistgelesenste afrikanische Roman überhaupt, und zwar auch in Afrika
       selbst. An ihm, oder eben auch gegen ihn, orientierten sich unzählige
       Schriftsteller quer durch den Kontinent. Achebe begründete damit, ohne es
       zu wissen, die moderne afrikanische Literatur, wie Puschkin die russische
       oder Shakespeare die englische.
       
       Nachdem Generationen afrikanischer Schulkinder sich daran abgearbeitet
       haben, mag in Vergessenheit geraten sein, wie revolutionär dieses Werk bei
       seinem Erscheinen 1958 war: Die erste Schilderung der kolonialen Eroberung
       nicht als Einzug von Zivilisation, wie die Weißen es sahen, sondern als
       Zivilisationsverfall, als Auflösung des Bestehenden. Afrika, das beschrieb
       Achebe in einer damals unerhörten Selbstverständlichkeit, existierte auch
       vor Ankunft der Weißen, so wie jede Gesellschaft.
       
       Zeitlebens hat sich Achebe zur Aufgabe gemacht, den Rassismus zu
       demaskieren, der das in Europa vorherrschende Afrikabild auch bei
       vermeintlich Aufgeklärten und Vorurteilslosen prägt: Europa ist
       zivilisiert, Afrika ist wild. Europa hat Geschichte, Afrika nicht. Europa
       hat Nationen, Afrika hat Stämme. Europa hat Sprachen, Afrika hat Dialekte.
       Europa hat Wissenschaft und Religion, Afrika hat Magie und Aberglauben.
       Europa ist aktiv, Afrika passiv. Europa ist kräftig, Afrika braucht Hilfe.
       Oder, wie es Achebe einst in einer berühmt gewordenen Polemik über Joseph
       Conrad ausdrückte: „Afrika als metaphysisches Schlachtfeld ohne jede
       erkennbare Menschlichkeit, auf das sich der wandernde Europäer auf eigene
       Gefahr begibt“.
       
       ## Themen Korruption und Gewaltherrschaft
       
       Und gerade weil Afrika nicht geschichtslos ist, wird Afrika nicht plötzlich
       dadurch gut, dass es Fremdherrschaft abschüttelt. In mehreren Romanen schon
       ab 1960 hat Achebe die Korruption, die Gewaltherrschaft und die Zerstörung
       der Illusionen in der Nachkolonialzeit beschrieben. Die Hoffnung starb für
       Achebe und seine Generation bereits Ende der 1960er Jahre, als Nigeria die
       Sezession Südostnigerias unter dem Namen Biafra durch Aushungern gewann, um
       den Preis von über einer Million Menschenleben.
       
       Nigerias Igbos sind bis heute traumatisiert, und es dauerte bis 2012, bis
       sich Achebe dazu durchringen konnte, seine eigenen Biafra-Erinnerungen – er
       war aktiver Unterstützer des Sezessionsstaates gewesen – zu
       veröffentlichen. „Nach dem Krieg greift das Leben verzweifelt nach
       vorbeiziehenden Ahnungen von Normalität“, schrieb er in „There Was A
       Country“; „seine ausgehungerten Wurzeln klammern sich an Geröll und jede
       Glasscherbe.“
       
       ## Er lebte im Exil
       
       Achebe lebte da schon lange in den USA, ins Exil getrieben wie Millionen
       andere; endgültig, nachdem er nach einem Verkehrsunfall in Lagos 1990 an
       den Rollstuhl gefesselt war. Anders als sein großer Rivale Wole Soyinka
       hielt er sich fortan aus der Politik seines Heimatlandes heraus. Wichtiger
       war ihm der kreative Umgang mit Sprache, die Rehabilitation seiner
       Igbo-Sprache, obwohl er weiter auf Englisch schrieb – eben eine bewusste
       politische Wahl, die anerkennt, dass Afrikaner nicht einfach der Welt den
       Rücken zukehren können.
       
       Für Nigerias jüngere Generation ist Achebe seit Jahrzehnten entrückt, ein
       lebendes Denkmal. Aber seine Biafra-Intervention 2012 hat das Land daran
       erinnert, dass es seine eigene verschüttete Geschichte noch längst nicht
       aufgearbeitet hat. Am Donnerstagabend ist Chinua Achebe, der große
       Wiedererwecker des afrikanischen historischen Bewusstseins, in den USA im
       Alter von 82 Jahren gestorben.
       
       22 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
 (DIR) Dominic Johnson
       
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