# taz.de -- So ist Berlin: Heimat der Heimatlosen
       
       > Berlin ist eine Haltung und Lässigkeit ihr Kern. So bleibt die Stadt
       > denen eine Heimat, die woanders keine mehr haben - und so hat sie auch
       > gewählt.
       
 (IMG) Bild: Berlin bietet denen eine Heimat, die woanders keine haben.
       
       BERLIN taz | Seit Monaten, nein, Jahren schütten Feuilletonisten kübelweise
       Dreck über Berlin aus, weil die Stadt sich entweder zu sehr oder zu wenig
       verkauft. Sei nicht so, sei anders, aber sei Berlin. Dabei weiß keiner so
       richtig, was Berlin nun leisten soll, da hat jeder seine eigenen
       Vorstellungen - das wurde auch in diesem Wahlkampf deutlich.
       
       Weltoffen soll die Stadt sein, doch Hostelhaufen und Großflughafen will man
       verhindern. Coole Partystadt will man bleiben, aber ohne Pub Crawler.
       Berlin soll sich endlich selbst finanzieren können, aber Heuschrecken
       abwehren, soll der Problembezirke Herr werden, aber Gentrifizierung und
       Mietwucher verhindern. Kreativ, aber effektiv sein. Sauber und freundlich,
       aber authentisch. Günstig, aber nicht billig. Nicht Ballermann und nicht
       Champs-Élysée. Hauptstadt, aber auch Heimat, maximale Veränderung bei
       totaler Beständigkeit. Wer soll das verstehen?
       
       Wowi versteht das. Der Berlin-Versteher und Regierende Bürgermeister Klaus
       Wowereit lächelt diese Widersprüche und Existenzängste der Berliner wegen
       steigender Mietpreise lässig weg. Er lässt das alles jetzt mal laufen im
       Vertrauen darauf, dass es schon schiefgehen wird, und in dem Wissen, dass
       niemand sich die Sumpfgebiete der CDU-Jahre mit Diepgen und Landowsky
       zurückwünscht. Der Mief der Jahre des Stillstands und der Mauschelei bis
       2001 war und ist ein so großartiges Feindbild, dass Herr Henkel hier keinen
       Fuß in die Tür kriegt. Noch nicht. Denn der kommt ebenso wenig lässig rüber
       wie Renate Künast.
       
       Lässigkeit ist aber ganz wichtig in Berlin. Die ganze Welt guckt auf Berlin
       und findet es irre lässig, Wowi findet Berlin lässig. Heerscharen von
       Touristen, Künstlern, sonstigen Kreativen und Studenten zieht es in diese
       Stadt, und wem es hier gefällt, der bleibt. Und die Berliner? Nennen es
       eher ein Gefühl der Gelassenheit, das diese Stadt prägt.
       
       ## Hundescheiße inklusive
       
       Raubeinigkeit, Hundescheiße, Graffiti im Hausflur, Arschgeweih und Kopftuch
       sind nicht jedermanns Sache, aber dennoch findet sich hier ein Maß an
       Toleranz gegenüber alternativen Lebensentwürfen, das dem Rest von
       Deutschland abgeht - sonst würde Westdeutschland sich ja nicht ständig so
       echauffieren über Berlin. Hier herrscht das Grundgefühl, in einer linken
       Stadt zu leben. Und das liegt nicht nur an den noch vergleichsweise
       niedrigen Preisen für Wohnungen, S-Bahn-Tickets, Schwimmbad oder Zoo, die
       Münchnern und Hamburgern das Wasser in die Augen treiben. Wer hier lebt,
       der mag es so - Berlin ist eine Haltung, Berliner kann man werden.
       
       Die Motive, warum jemand nach Berlin kommt, sind in den seltensten Fällen
       noch so ideell wie vor dreißig oder vierzig Jahren, bei einem rot-roten
       Senat aber auch nicht wirtschaftlicher Natur. Berlin bietet denen eine
       Heimat, die woanders keine haben, und lässt sie hier auf Nachbarn treffen,
       mit denen man leben kann und die nicht ständig über den imaginären Zaun
       linsen, um zu gucken, was es zu Mittag gegeben hat. "Jeder nach seiner
       Fassong" heißt es hier - und darum stört sich keiner dran, wenn der eine in
       Ballonseide und Badelatschen, der Nächste im Businessanzug und die
       Übernächste morgens um sieben im Minikleid das Haus verlässt. Und welches
       Label an den Klamotten hängt, ist auch in keiner anderen Stadt so wurscht
       wie in Berlin. Abgesehen von den dedicated few ist der Berliner eher
       unelegant bis schlecht gekleidet,das wusste schon Fontane. Hier kann man
       getrost auf das Megakommerzshopping wie in London, Paris, New York
       verzichten, ohne sich underdressed zu fühlen.
       
       Das alles liegt natürlich nicht oder zumindest nicht nur an der
       Geschmacklosigkeit und Schmerzfreiheit der Berliner, sondern vor allem
       daran, dass es in dieser Stadt vergleichsweise wenig Leute gibt, die viel
       Geld verdienen. Daran, dass es hier keinen Finanzsektor wie in London, New
       York oder Frankfurt gibt, der Kapital bindet. Und an der sozialen Mischung,
       wie sie James Hobrecht in den Berliner Mietskasernen zur vorletzten
       Jahrhundertwende und Bruno Taut sogar in seinen Siedlungen im grünen
       Speckgürtel zwanzig Jahre später vorgesehen hat - sie hat hier Tradition
       und ist noch nicht zerstört. Wohnungsbaugesellschaftswohnungen neben
       Luxuslofts, noch gibt es diese Heterogenität in den Berliner Bezirken. So
       herrscht weniger Aufstiegszwang, denn noch lässt es sich hier auch mit
       wenig Geld auskommen, und das gute und schöne Leben jenseits der "Ghettos"
       wird nicht medial als das bessere kolportiert, wie in London
       beispielsweise.
       
       ## Billige Pizza, billiges Bier
       
       Selbst an Plätzen wie dem Gendarmenmarkt, dem Schlossplatz oder dem
       Mauerpark, die der Berliner an die Touristen abgeben musste, gibt es noch
       Bier und Pizza aus Buden, Spätis oder Restaurants, ohne dass dafür der
       sechsfache Preis verlangt wird. Die Kopftuchtürkin gibt der obdachlosen
       Motz-Verkäuferin nen Euro, und wer Einlass in Berlins beliebteste Clubs
       begehrt, ist vollkommen unabhängig von Schuh- und Automarke der Willkür des
       Türstehers ausgeliefert.
       
       Sushi, Currywurst und Döner führen eine ebenso friedliche Koexistenz wie
       Dauerbaustelle und S-Bahn-Chaos. Das geteilte Leid beim Warten auf die
       S-Bahn und beim Klettern über das Packeis auf den Bürgersteigen führt zwar
       nicht dazu, dass man es unkommentiert lässt, wenn man den Rucksack des
       Vordermanns ins Gesicht kriegt oder sich gar zu unsympathischen
       Zeitgenossen auf eine Sitzbank quetscht, aber doch so weit, dass die
       Mitmenschen hier nicht das Hauptproblem sind.
       
       Nichts ist langweiliger als das Geläster über Schwaben oder
       Parallelgesellschaften, wenn es gilt, den eigenen Way of Life zu
       verteidigen. Und den sehen viele Berliner derzeit bedroht. Sie werden
       piesepampelig, wenn sie mit ansehen müssen, dass ein jeder aus der Stadt
       herausholt, was zu holen ist, und sie selber gehen leer aus, weil sie sich
       mal wieder um die eigenen Angelegenheiten gekümmert haben, anstatt darauf
       zu achten, was sonst so passiert.
       
       ## Franz Bieberkopfs Erben
       
       So langsam droht es dem Berliner zum Verhängnis zu werden, dass er, wenn
       ihm nicht gefällt was er sieht, erst einmal in die andere Richtung guckt.
       Manche verwechseln das mit Ignoranz, Wurschtigkeit oder Arroganz, dabei
       dient es der Schonung des Nervenkostüms. Auf diese Weise lässt sich die
       Ballermannisierung der Innenstadt verkraften in dem Glauben, damit den
       Preis zu zahlen, den eine Hauptstadt zahlen muss. Franz Bieberkopf hat es
       auch nicht leicht gehabt.
       
       Schön wäre im Gegenzug eine Lösung des nach zwanzig Jahren immer noch
       verstopften Nadelöhrs zwischen Ost- und Westberlin. Da braucht es gar kein
       Tempo 30, wenn man eh zu jeder Zeit im Stau steht. Und schön wäre auch,
       wenn nicht ständig schriftlich oder verbal über Berlins vermeintliches
       Unvermögen lamentiert würde, allem gerecht zu werden. Zur Not lässt sich
       aber auch darüber hinwegsehen. Was nicht heißt, dass der Berliner wegsieht,
       wenn Nazis durch seinen Kiez marschieren, die Mieten ins Unbezahlbare
       steigen, ungerechte Kriege geführt werden, Atomkraftwerke in die Luft
       fliegen oder das Internet kassiert wird. Dann hört der Spaß auf, dann wird
       demonstriert. Das versteht sich von selbst.
       
       So ein Feindbild kann sich wandeln. Hat man den Berliner einmal enttäuscht,
       wird das nicht so schnell verziehen. Noch ist das Unbehagen eher diffus.
       Noch denken die Berliner, wenn Linkspartei und SPD hunderttausende
       Wohnungen privatisieren - wie viele würden dann erst die Christdemokraten
       an Heuschrecken verschachern? Aber wenn die "Linken" ihre Energien weiter
       in die Begradigung einer charmant ungeraden Kastanienallee und in das
       Schließen von Clubs wegen Lärmbelästigung statt in Kulturprojekte stecken,
       überall Starbucks-Filialen mit Kaffee für 3 Euro und Zara, H & M und
       Saturn-Geschäfte aufmachen statt kleine Boutiquen und Einzelhändler, Leute
       mit geringem Einkommen in die Randbezirke ziehen müssen, während
       skandinavische Investoren in Kreuzberg das Regiment übernehmen - kurz: wenn
       mal wieder alle profitieren, nur der Berliner nicht, dann könnte es sein,
       das der das nicht mehr gelassen sieht. So schmerzbefreit, wie immer alle
       behaupten, ist man dann doch wieder nicht.
       
       19 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Niemann
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