# taz.de -- Medientheoretiker Weibel über Proteste: "Das Monopol brechen"
       
       > Der Medientheoretiker Peter Weibel sieht keine Vertrauenskrise in die
       > Politik, sondern einen Übergang von der parlamentarischen zur
       > performativen Demokratie - und eine neue APO des Mittelstands.
       
 (IMG) Bild: Konservative Botschaften, aber neue Formen der Bürgerbeteiligung: Protest gegen den Stuttgarter Tiefbahnhof.
       
       taz: Herr Weibel, neuerdings wollen sich manche Bürger verstärkt in die
       Politik einmischen. Das kann nicht nur an einem Tiefbahnhof oder einer
       Laufzeitverlängerung für AKWs liegen. Woran liegt es? 
       
       Peter Weibel: Der enorme Wandel der technologischen Kommunikation verändert
       auch die sozialen Verhältnisse und die politische Ordnung. Das ist auch in
       Stuttgart so.
       
       Was passiert da? 
       
       Der Bürger wächst in einer technischen Welt auf, die dazu geführt hat, dass
       er eine enorme Macht über seine Umgebung gewonnen hat und sich sein
       Verhältnis zu dieser Umwelt extrem individualisiert hat. Vereinfacht
       gesagt: Früher musste er warten, bis die Sonne aufgeht. Heute kann er
       überall auf einen Knopf drücken und hat Licht. Er muss auch seinen Körper
       nicht mehr bewegen, um mit jemandem zu sprechen; er drückt auf einen Knopf
       und jemand antwortet.
       
       Da kann er bei der Politik lange drücken. 
       
       Das ist das Problem. Die Leute sind in der technischen Welt ein extrem
       kurzes Reiz-Reaktions-Verhältnis zwischen ihren Wünschen und der Umwelt
       gewohnt. Und: In den neuen Medien ist der Mensch zum Sender geworden. In
       den alten Medien Fernsehen und Radio war er nur Empfänger. Entsprechend
       haben wir heute eine Zuschauer- und Zuhörerdemokratie, in der der Wille des
       Volkes zur bloßen Zustimmung wurde. Das Volk darf alle vier, fünf Jahre
       wählen, also klatschen oder pfeifen, kommunikationstechnisch gesprochen,
       und damit ist seine Macht zu Ende.
       
       Aber? 
       
       Aber inzwischen hat das Volk gesehen, dass diejenigen, an die es seine
       Macht delegiert, das versprochene Programm gar nicht machen. Und dass die,
       die es abgewählt hat, ihr Programm einfach weitermachen. Die Erfahrung des
       Bürgers ist also, dass er in allen Bereichen des Lebens auf einen Knopf
       drückt, eine Reaktion kommt und sich etwas verändert; nur in der Politik
       kommt nichts.
       
       Worauf führen Sie das zurück? 
       
       Unsere Politiker sind die Nachfahren von Lenin, der gesagt hat: Der
       Staatsapparat muss vom Parteiapparat durchdrungen werden. Auch in der
       westlichen Welt ist der Staat eine Beute der Parteien geworden, wie die
       Parteien eine Beute der Banken sind, wie die jetzige Krise der
       Finanzwirtschaft zeigt. In der parlamentarischen Demokratie bestimmen nicht
       die Bürger, sondern die Parteien. Nur die Politik hat bisher die Macht,
       "mit Worten Dinge zu machen", um den Titel des Buches von Austin zu
       paraphrasieren, mit dem 1961 die performative Wende eingeleitet wurde: "How
       to Do Things with Words".
       
       Der Bürger will jetzt auch Dinge machen? 
       
       Genau. Wir erleben den Übergang von der parlamentarischen zur performativen
       Demokratie. Die Bürger wollen das Monopol einer parteipolitischen Kaste
       brechen und an der Macht teilhaben. Sie wollen ihre Handlungs- und
       Entscheidungsfähigkeit performativ durchsetzen, das heißt den Worten oder
       Wahlen Taten folgen lassen.
       
       Grade die nötige nachhaltige Politik braucht Zeit. Ist der digitalisierte
       Mensch dafür zu reizüberflutet? 
       
       Im Moment ja. Aber es gibt zwei Lösungen: Man nennt die gegenwärtige
       Situation eine Vertrauenskrise der Politik. Das ist falsch. In Wahrheit ist
       es eine Kompetenzkrise. Ein Beispiel: Minister werden ja nicht aus
       Kompetenz berufen. Die Politik verschiebt Parteimitglieder aus
       parteipolitischen Erwägungen auf Positionen und Posten. Das Volk sieht: Es
       hat die Macht Politikern gegeben, die zu wenig kompetent sind. Deshalb
       versuchen die Leute, sich einzumischen.
       
       Ohne selbst kompetenter zu sein. 
       
       Richtig. Die staatsbürgerliche Ausbildung ist zu gering. Wir müssen
       gegenseitig zugeben, dass wir inkompetent sind, Politik wie Bürger. Und
       versuchen, die Inkompetenz zu überwinden, indem wir sie erstens teilen und
       zweitens gemeinsam Kompetenz aufbauen, so wie das in Stuttgart passiert
       ist.
       
       Heiner Geißlers Schlichtung fanden Sie gut? 
       
       Man sieht, wie eine Bürgerbeteiligung ausschauen kann. Der Nachteil war,
       dass die politische Willensbildung schon vorher abgeschlossen war. Daher
       war es nur eine nominelle Bürgerbeteiligung, keine performative. Wenn man
       sagt, dass ein Volksentscheid leider juristisch nicht möglich sei, heißt
       das nichts anderes als: Demokratie ist gut und schön, aber juristisch nicht
       möglich.
       
       Ein guter alter Linker müsste vor performativer Demokratie warnen. Es
       befreit manche Bürger aus ihrer Hilflosigkeit, kann aber andere Teile der
       Gesellschaft komplett abkoppeln? 
       
       Nein, denn schon in den Sechzigern wurde von einer direkten Demokratie oder
       einer Räterepublik als Antwort auf die Krise der parlamentarischen
       Demokratie geträumt. Was wir heute erleben ist eine neue Art von APO, von
       außerparlamentarischer Opposition - nicht der Studenten, sondern des
       Mittelstands. Sicher muss man daher aufpassen, dass nicht nur eine
       Reproduktion der Eliten und der herrschenden Klassen stattfindet. Man sieht
       das in Hamburg, wo ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Einsatz
       von Kompetenz und Beziehungen die Performativität an sich gerissen hat. Das
       zeigt: Es geht - im Guten wie im Schlechten - um eine neue Stufe der
       Demokratie, die durch neue Technologie erzwungen wird.
       
       In Stuttgart werden auch die Medien als Kollaborateure von Parteipolitik
       und Wirtschaft angeprangert. 
       
       Aus dem Prinzip der Massenmedien entstand die Zuschauerdemokratie - am
       deutlichsten entwickelt im Italien des Silvio Berlusconi. Dessen Logik ist:
       Wenn ich das Volk gut unterhalte, wird es mich wählen. Man sieht hier,
       welche politische Funktion die Unterhaltung hat. Das hat viele Jahre
       geklappt. Doch durch die neuen Medien werden die Massenmedien zu
       Ich-Medien. Denken Sie an das iPhone - i heißt ja ich. Das "Me" in dem Wort
       Medien steht heute generell auch für "ich". Ich brauche nicht zum
       Verlagshaus oder in eine Redaktion zu gehen und betteln, dass sie meinen
       Text drucken. Ich kann das im Netz selbst machen und distribuieren. Ich bin
       im Netz Autor und Verleger und schließlich auch Wähler und Politiker, weil
       meine elektronischen Mitteilungen den Zustand der sozialen Welt verändern
       können.
       
       Wenn "Ich" tatsächlich eine Öffentlichkeit erreicht. 
       
       Gut, mit welchem Erfolg, darüber kann man diskutieren. Aber durch die
       Digitalisierung kann jeder sich und seine Kreativität an die Öffentlichkeit
       bringen. Das verändert die soziale Sphäre.
       
       Was wird aus den Zeitungen? 
       
       Das ist ironisch: Das Bürgertum hat ja die Zeitungen im 19. Jahrhundert
       gegründet, weil es vom Parlament ausgeschlossen war. Da saß nur der Adel.
       Die Bürger wollten mit den Zeitungen Politik machen, indem sie eine
       Öffentlichkeit konstruierten und damit Parlament und Publikum beeinflussten
       oder unter Druck setzten. Das kann man bei Habermas nachlesen.
       
       Und heute? 
       
       Fühlt sich ein Großteil der Bevölkerung durch die Presse nicht mehr
       vertreten, weil die nur mehr eine bürgerliche Öffentlichkeit konstruiert
       und gemeinsam mit den staatlichen Organen eher zudeckt als aufdeckt. In der
       nachbürgerlichen Gesellschaft, in der wir uns befinden, wird jetzt über das
       Netz Druck ausgeübt und eine neue Öffentlichkeit konstruiert, die sagt: Wir
       möchten den Staat und seine Komplizen von der Presse dazu bringen, unsere
       Interessen zu vertreten.
       
       Dafür wurden Ende der Siebziger die Grünen und die taz gegründet - weil es
       für das Neue keine Interessenvertretung in Parlament und Medien gab. 
       
       Richtig, aber jetzt gibt es wieder das andere Neue, das im Netz seinen
       Ausdruck und seine Interessenvertretung findet. Das Netz ist performativ
       und damit die erste politische Form der performativen Demokratie. Weil
       Informationen, die für die Demokratie wichtig sind, von einem Teil des
       Staates und der Presse unterdrückt werden, wandert die Information zu
       Wikileaks, nicht zu den Zeitungen.
       
       Wikileaks braucht die etablierten Medien. 
       
       Stimmt. Sie sind noch Partner, weil wir im Übergang von der Welt der
       Intrige zur Welt der Paranoia leben. Eine meiner zentralen Thesen lautet:
       Die Welt bis 1900 war großteils die Welt, wie sie Shakespeare geschildert
       hat, die Welt der Intrige. Grauenhaft genug. Heute haben wir die Welt der
       Paranoia, denken Sie an Stalin. Nur die Paranoiden überleben: So denken und
       handeln die meisten mächtigen Staaten. Sie wittern Verschwörungen, sind
       aber selbst die Verschwörung. Wikileaks ist daher wie bei Shakespeare der
       große Verräter für paranoide Staaten. Aber Wikileaks handelt nur im
       Interesse der Demokratie. Deshalb hat der Verrat nur Wert, wenn er einen
       Pakt mit den großen Medien schließt, die bisher im Interesse der Demokratie
       handelten. Das Gute ist, dass Wikileaks die großen Medien dran erinnert,
       was ihre Aufgabe ist und wen sie zu repräsentieren haben.
       
       Eine weitere Analogie zur Politik: Auch die Medien ziehen sich auf ihr
       Kompetenzmonopol zurück. 
       
       Das Problem der Gegenwart ist nicht die Verteilung des Reichtums, sondern
       die Verteilung der Kompetenz. Darum wird gekämpft in der
       Wissensgesellschaft von heute. Das war schon bei Jesus so, dass eine Klasse
       von Wissenspriestern die alleinige Kompetenz für sich beansprucht hat: die
       Schriftgelehrten. Sie haben Jesus abgewiesen, wie heute die alten Medien
       die neuen abweisen. Es geht immer in der Geschichte um die Verteidigung von
       Monopolen der Kompetenz. Deren Auflösung wird aber durch die neuen extrem
       personalisierten Medien das Gebot der Stunde.
       
       Die Bürger kämpfen nicht darum, dass sich das Neue durchsetzt, etwa eine
       Energiewende, sondern dass das Gymnasium bleibt oder ein Bahnhof. 
       
       Das ist der kritische Punkt: Das wirklich Neue ist der Anspruch auf
       Performativität. Aber die Inhalte dieser neuen Kriege sind eher
       konservativ. Das macht die Lage schwierig: Die Botschaft ist im Grunde
       nicht tragfähig, die Bürgerbeteiligung schon. Wir brauchen neue Inhalte, um
       den Kampf um die Teilung der Kompetenz zu gewinnen.
       
       2 Feb 2011
       
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 (DIR) Peter Unfried
       
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 (DIR) taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
       
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