# taz.de -- Künstler Boltanski sammelt Herzschläge: Nichts soll untergehen
       
       > Der Pariser Konzeptkünstler Christian Boltanski arbeitet wider das
       > Vergessen und sammelt Herztöne, denen er ein gigantisches Monument
       > errichtet.
       
 (IMG) Bild: Das wäre auch eine geeignete Box für Boltanksis Herztöne-Sammlung gewesen.
       
       Alles Große soll ewig sein. Zumindest will es so ein bestimmter Begriff von
       Kultur und manchmal scheint es, als sei diese Vorstellung noch ein
       verbreiteter Impetus künstlerischen Arbeitens. Nicht alle Kunst will
       Ewigkeit. Diesen Beweis haben im letzten Jahrhundert niemand besser als die
       künstlerischen Avantgarden - Dadaisten, Lettristen, Situationisten etc. -
       angetreten. Der Kultur nichts anzubieten, nichts zu hinterlassen war die
       Maßgabe, um Kunst ins Leben hinein aufzuheben. Mit dem Leben, gar dem
       Augenblick, sollte auch die Kunst vergehen.
       
       Viel grundsätzlicher stellte Friedrich Nietzsche fest, dass der Mensch
       jedes Verschwinden und Untergehen mit Unzufriedenheit betrachtet, "oft mit
       Verwunderung, als ob wir darin etwas im Grunde Unmögliches erlebten". Was
       also tun? Dokumentieren, archivieren, musealisieren? Doch was bleibt von
       dem Einzelnen, was nicht bereits Kunst ist?
       
       Der Pariser Konzeptkünstler Christian Boltanski kämpft als Archivar gegen
       das totale Verschwinden, das Vergessenwerden. Nicht nur gegen das eigene,
       das des Künstlers, sondern gegen das Nicht-mehr-Sein als solches. So hat er
       in zahlreichen Arbeiten tausende von Fotos und Gebrauchsgegenständen ihm
       unbekannter Menschen gesammelt und museal angeordnet oder einfach nur die
       Namen einst Lebendiger aufgeschrieben. Mit seinem neuesten Projekt geht er
       darüber hinaus und arbeitet an einem Archiv für den elementarsten Ausdruck
       von Leben - den Herzschlag.
       
       "Les Archives du Coeur" heißt seine Installation, die in einer Ecke des
       Restaurants Sale e Tabacchi in Berlin-Kreuzberg steht und in der Besucher
       ihre Herzschläge als "letztes Selbstporträt" aufzeichnen lassen können, um
       sie Boltanski als künstlerisches Material zur Verfügung zu stellen. Nach
       Paris und Stockholm ist dies ihre dritte Station, und sie soll bis 2010
       weiterwandern, zunächst nach New York, wo sie ebenfalls in einem Lokal und
       nicht in einer Galerie oder einem Museum stehen wird.
       
       Die Installation: eine schwarze Box mit zwei Türen, im Innern eine
       schlichte Glühbirne, eine mittig angebrachte Tischplatte, darauf ein
       Stethoskop und ein Laptop. Ein Assistent führt die Besucher einzeln hinein,
       erklärt den Aufzeichnungsvorgang, der 20 Sekunden dauert, man legt das
       Stethoskop am Herzen an, setzt Name und Unterschrift auf eine Liste, und
       der Herzschlag gehört dem Künstler. Und dann? Fernab der Zivilisation auf
       einer kleinen japanischen Insel, die ein Sammler Boltanski zur Verfügung
       gestellt hat, errichtet der Künstler ein Archiv. Assoziationen an James
       Bond und Robinson Crusoe gab Boltanski in einem Interview preis und
       verbindet mit dem humanistischen Monument die Idee einer Pilgerreise,
       angetreten von Angehörigen derer, die ihren Herzschlag dem Verwalter der
       Herzen übergeben haben. "Die Herzen, die ich jetzt aufnehme, werden noch
       schlagen, wenn es ihre Besitzer - und mich, den Künstler - schon lange
       nicht mehr gibt. Auch mein Herz wird mich so überleben", so Boltanski. Eine
       digitalisierte Mumifizierung also? Oder ein Sichtbarmachen der vielleicht
       größten aller Sehnsüchte, der nach Unsterblichkeit? Letzteres ist nach
       kunstimmanenten Kriterien sicherlich gelungen. Dennoch, das Ereignis liegt
       hier im Archivieren, und das bleibt eine schale Angelegenheit im Vergleich
       zum Untergehen und der Arbeit an der Selbstaufhebung, wie es beispielsweise
       die Avantgarden vorgeführt haben.
       
       Bis 31. 12., im Sale e Tabacchi, Rudi-Dutschke-Str. 23, Berlin
       
       6 Dec 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tania Martini
 (DIR) Tania Martini
       
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