# taz.de -- Nachruf auf Künstler Christian Boltanski: Dem Tod auf der Spur
       
       > Sorge war ein Erbe seiner Kindheit, Erinnerung an die Verstorbenen ein
       > Lebensthema. Nun ist der französische Künstler Christian Boltanski
       > gestorben.
       
 (IMG) Bild: Christian Boltanski 2010 während des Aufbaus einer Ausstellung im „Grand Palais“ in Paris
       
       Sein letztes großes Langzeitprojekt, die Audio-Arbeit [1][„Les Archives du
       Coeur“], fand noch vor der Coronapandemie auch im taz-Haus in der
       Rudi-Dutschke-Straße statt. Im Restaurant „Sale e Tabacchi“ von Gianpiero
       De Vitis, mit dem Christian Boltanski befreundet war, stand eine Holzbox,
       und wer in sie eintrat, dessen Herztöne wurden aufgezeichnet und
       aufbewahrt.
       
       Jetzt, am 14. Juli, mit 76 Jahren, hat sein eigenes Herz aufgehört zu
       schlagen. Weil aber selbstverständlich auch sein Rhythmus aufgenommen und
       konserviert wurde, ist sein Pochen auch nach seinem Tod noch immer zu
       hören, in Berlin, in der [2][Galerie Kewenig], wo noch bis Ende Juli seine
       Ausstellung mit dem nun noch vieldeutigeren Titel „Danach“ läuft.
       
       Das Herzschlagarchiv war die Ausnahme von der Regel, denn es standen die
       Archive der Toten im Zentrum seines Werks. Die aus gutem Grund gerne
       seriell angelegten Archive – gestapelte Zinkkisten mit vorne wie Etiketten
       aufgeklebten Fotoporträts, die Wandarbeiten mit langen Reihen unscharfer
       Fotoporträts in Schwarzweiß, die Tunnel muffiger Kleiderberge – erinnerten
       nicht nur, aber doch vor allem an die Opfer des Holocaust und des
       Naziregimes.
       
       ## Gestorben wird immer individuell
       
       Dabei kulminierten [3][Boltanskis künstlerische Strategien] wider das
       Vergessen in der Mahnung nicht zu verdrängen, dass immer individuell
       gestorben wird, inmitten des massenhaften Mordens oder inmitten der durch
       rücksichtslose Politiker und ihre Fehlentscheidungen immer weiter
       befeuerten Pandemie.
       
       In der Familie des 1944 in Paris kurz nach der Befreiung Frankreichs
       geborenen Christian Liberté Boltanski war der Holocaust Thema. Der Vater,
       ein zum Katholizismus konvertierter Jude, hatte die Besetzung unter dem
       Fußboden seines Elternhauses überlebt. Angst war ein Erbe, das Kind soll
       sich nicht getraut haben, das Haus alleine zu verlassen. In einem Interview
       sagte Boltanski, „ich bin kein Jude und ich interessiere mich wenig für
       jüdische Traditionen. Aber ich bin ein Kind der Schoa.“
       
       Und so war der dreifache documenta-Teilnehmer dem Tod in seinem Werk von
       Anfang an auf der Spur. Freilich, daran erinnert sein prominenter Auftritt
       bei der Biennale von Venedig 2011, zwangsläufig auch dem Leben. Die
       industriellen Laufbänder mit den schwarzweißen Fotoporträts sind noch gut
       in Erinnerung, wie sie in endloser Abfolge die Gesichter von Babys durch
       den Raum transportierten, als eine endlose Massenproduktion. Und was die
       Installation auch deutlich macht: Ihm waren alle Mittel recht.
       
       Boltanski arbeitete mit Fotografie, Tonaufzeichnung, Film, Buchdruck oder
       den Möglichkeiten der Installation. Als Künstler war er Autodidakt, er
       setzte auf die Einfachheit seiner Mittel. Wenn er wie jetzt bei Kewenig die
       im Raum ausgelegten Glühbirnen nach und nach erlöschen lässt, bis das pure
       Schwarz herrscht, dann bricht sich das feierliche Pathos dieses Memento
       mori an dem Wirrwarr der Stromkabel am Boden, die es für den Stromtransport
       eben braucht. Auch wenn die Wirkung seiner Arbeiten manchmal ins
       Fragwürdige, in eine über die Jahrzehnte allzu bekannte Trauerästhetik
       abzugleiten schienen, ein Zuviel war bei genauer Betrachtung seiner
       Arbeiten nie auszumachen.
       
       15 Jul 2021
       
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