# taz.de -- 1968er Glossar: Von der Funktion des Orgasmus
       
       > Kennen Sie die Fokustheorie? Vielleicht die Haschrebellen? Wissen Sie,
       > was mit Bewusstseinserweiterung gemeint ist? Eine Zusammenstellung von
       > Begriffen, die 68 eine Rolle spielten.
       
 (IMG) Bild: Situationismus, Sexfront, Randgruppenstrategie - worüber Studenten 1968 stritten, ist vielen heute kein Begriff mehr.
       
       Antiautoritär: Ein Wort, das im Zusammenhang mit Sozialismus theoretisch
       rasch zu den Akten gelegt wurde, im Hinblick auf erzieherische
       Vorstellungen und solchen zum gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt
       erlangte es Popularität, vor allem mit Beginn der Siebzigerjahre. Nichts
       schien dem deutschen Spießer unheimlicher und würdiger der Kritik, als a.
       für unmöglich zu halten. Schriften von Alexander S. Neill über das von ihm
       gegründete Internat im britischen Summerhill waren gerade unter Schülern
       vielgelesen. Bloß kein Kommisston mehr. A. war das Gegenteil vom
       Soldatischen, von bedingungslosem Befehl und Gehorsam.
       
       APO: Die Außerparlamentarische Opposition, kurz: APO, entwickelte sich
       gegen die seit 1966 regierende ->große Koalition von CDU und SPD und die
       von der damaligen Regierung geplanten ->Notstandsgesetze. Begünstigt wurde
       sie durch das Frontdenken des Kalten Kriegs und eine als Kapitalismuskritik
       verstandene Ideologie, nach der der kapitalistische Staat und seine
       Institutionen fest in der Hand der Besitzenden seien. Im Parlament schien
       ob der relativ kleinen FDP tatsächlich eine nennenswerte parlamentarische
       Kontrolle der Regierung Kiesinger zu fehlen. Auch das Verbot der
       Kommunistischen Partei Deutschlands 1956 hatte zu dem Eindruck beigetragen,
       in der Bundesrepublik sei die linke Kritik von der Demokratie weitgehend
       ausgeschlossen. 1963 bis 1966 öffneten die beiden Frankfurter
       Auschwitz-Prozesse zudem der heranwachsenden Jugend die Augen über die
       zumeist verschwiegenen NS-Verbrechen der älteren Generation. Die APO hatte
       ihre Hochburgen vor allen an den westdeutschen Universitäten. Dort
       rebellierten die im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)
       zusammengefasste Ausbildungselite des Landes und gründete 1967/68 die
       Kritische Universität. Die APO stützte sich auf Denker des westlichen
       Marxismus, der ->Kritischen Theorie sowie des französischen
       ->Existenzialismus, aber auch auf Spiritualität, Pop und ->Hippietum.
       
       Autoritärer Charakter: Das Konzept geht im Wesentlichen auf den
       Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm (1900-1980) zurück, wurde dann
       vom Mitbegründer der ->Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno,
       fortentwickelt. Danach fügt sich der a. C. fraglos in gesellschaftliche
       Hirarchien ein, weil er sich nicht mit seiner Nichtigkeit und Ohnmacht
       konfrontiert sehen will. Literarisches Beispiel: "Der Untertan" von
       Heinrich Mann.
       
       Beatnik: Als Beatniks firmiert eine Strömung der US-Literatur nach dem
       Zweiten Weltkrieg. Bekannte Vertreter waren Allen Ginsberg, William
       S.Burroughs oder Jack Kerouac. Die wichtigsten literarischen Werke waren
       Kerouacs "On the Road", das Gedicht "Howl", das Allen Ginsberg 1955 beim
       Six Gallery reading vorstellte und "Naked Lunch" von William S. Burroughs.
       "Howl" und "Naked Lunch" standen wegen ihrer angeblichen Obszönität im
       Mittelpunkt der öffentlichen Empörung. Nach Freisprüchen vor Gericht setzte
       sich in den USA der späten 1950er allmählich eine freizügigere
       Publikationspraxis durch.
       
       Bewusstseinserweiterung: Absicht und Ziel jener Bewegung, die unter der
       Chiffre 68 verhandelt wird. Die einen, eher politisch orientiert, verstehen
       darunter ein Leben als stetige Schulung der politischen Ökonomie, also das
       immer klarere Wissen um die grundsätzliche Misere dessen, was Kapitalismus
       ist; die anderen begriffen B. als Credo, mit allerlei Trips und Tricks das,
       was sie im Körper für verborgen, ja gedeckelt halten, zu befreien. Alle
       modernen Körpertherapien (Gestalt, Reiki, Rolfing et al.) leben von diesem
       Unterfutter der Absicht, es zu einer B. kommen zu lassen; B. kann als
       Zaubervokabel nicht verstanden werden, sofern nicht Techniken der
       Beschwörung (Mantra) und des Drogenkonsums bedacht werden. Haschisch,
       Marihuana ("Dope") und etlich anderes haben gerade in hippiesken Zirkeln
       stark an Beliebtheit gewonnen.
       
       Davis, Angela: Am 26. Januar 1944 geboren, kreierte unter anderem den
       "Afro-Look". D. war und ist eine Repräsentantin des schwarzen Amerika. Ihr
       war 1970 die indirekte Beteiligung an einem tödlich endenden
       Befreiungsversuch von afroamerikanischen Gefangenen aus einem
       kalifornischen Gerichtssaal vorgeworfen worden. D., damals junge
       Hochschulprofessorin und Mitglied der Kommunistischen Partei der USA ,
       wanderte auf die FBI-Liste der "Zehn Meistgesuchten". Sie kam für 16 Monate
       in Untersuchungshaft, nach zwei Jahren wurde sie dann aber in allen Punkten
       freigesprochen.
       
       Dialektik der Aufklärung: Das schmale Bändchen Theodor W. Adornos und Max
       Horkheimers wurde 1944 unter dem Titel "Philosophische Fragmente" in den
       USA erstveröffentlicht. Nach Ihrer Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil
       vermieden die beiden Köpfe der Frankfurter Schule eine Publikation in der
       Bundesrepublik. In den 1960er-Jahren kursierte die Schrift als Raubdruck
       unter politisierten Studentenzirkeln. 1969 folgte endlich die deutsche
       Neuausgabe. Adorno und Horkheimer hatten die "Dialektik der Aufklärung" vor
       dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen verfasst. Sie
       betrachteten zu dieser Zeit das Projekt der Aufklärung für gescheitert und
       sahen in Kapitalismus, dem Zusammenspiel von Kulturindustrie und
       faschistischen Ideologien den Grund für den "Zusammenbruch der bürgerlichen
       Zivilisation" und der "neuen Art von Barbarei".
       
       Dutschke, Rudi: Geboren 1940 in Luckenwalde, war Dutschke der unumstrittene
       Anführer des Berliner SDS und die charismatischste Figur der
       bundesdeutschen ->APO. Im April 1968 schoss ihn der von der Lektüre der
       Bild-Zeitung aufgehetzte Josef Bachmann in den Kopf. An den Spätfolgen des
       Attentats starb Dutschke 1979. Dutschke vertrat das Ziel eines
       demokratischen Sozialismus, gehörte zur linken Opposition bereits in der
       DDR. 1961 siedelt er in den Westen über. 1962 war er in Westberlin an der
       Gründung der "Subversiven Aktion" beteiligt, die sich als ein deutscher
       Flügel der -> Situationistischen Internationale verstand. Kurz vor seinem
       Tod nahm er 1979 am Gründungskongress der Grünen teil.
       
       Entfremdung: War einer der Lieblingsbegriffe der 68er-Bewegung. Demnach sei
       der gemeine Mensch im Kapitalismus durch die Art seiner Arbeit und deren
       Organisation seinen tatsächlichen und höheren Bedürfnissen entfremdet.
       Viele Anhänger der 68er-Bewegungen verklärten zu diesen angeblich
       wichtigsten Bedürfnissen des Menschen intellektuelle und künstlerische
       Tätigkeiten, die größten Stummköpfe brächten dem hingegen
       seriell-industrielle Arbeiten hervor. Ein neuer Elitismus war geboren, der
       bis heute in jede Bildungsdebatte hineinspielt.
       
       Establishment: Kampfbegriff der Studentenbewegung. Wurde als Sammelbegriff
       gegen die herrschenden Verhältnisse und die verfestigten Strukturen der
       Gesellschaft - vulgo: gegen das ->System in Stellung gebracht. Das
       bekannteste Beispiel, das aber auch die im Begriff enthaltene Anmaßung
       zeigt, ist die Parole: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum
       Establishment".
       
       Existenzialismus: Die Strömung der Existenzphilosophie aus Frankreich
       beeinflusste neben der Frankfurter Schule die 68er-Bewegung nachhaltig. Der
       E. stand für eine allgemeine Geisteshaltung, die sich stilistisch im Tragen
       schwarzer Rollkragenpullover oder dem Hören von Jazz-Musik niederschlug,
       während man die Werke von Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Simone de
       Beauvoir las und den Film Noir im Kino bewunderte.
       
       Familie: Unheilinstitution im Bewusstsein der avanciertesten Kader von 68,
       besser: die bürgerliche Kleinfamilie. Die Erfahrung, die der Aversion zur
       F. voranging, war eine des lähmenden Schweigens am Mittagstisch, der
       Leistungsanforderungen, der kalten Schlafzimmer und des Gummibaums in der
       Stube, möglicherweise auch misslungener ödipaler Entflechtungen wie
       überhaupt falscher Ehen. F. galt als Hort der Verderbnis, hier wurden
       Kinder und Frauen geknechtet und geknetet für das Funktionieren des
       Kapitalismus. In F. wurde das gezüchtet, was Adorno und Horkheimer als
       ->autoritären Charakter begriffen.
       
       Flohmarkt: Eine marktwirtschaftliche Form, eine Art Mall an frischer Luft,
       eine Institution, die sich aus - finanzieller Not geschuldeter -
       Mittelknappheit der Studenten heraus entwickelte. Auf F. fanden sich
       Kostbarkeiten, die ihre Vorbesitzer, aus Vorliebe zum Resopalhaften, auf
       die Straße stellten.
       
       Flowerpower: Schlagwort der ->Hippiebewegung, die von San Francisco
       ausgehend die aus ihrer Sicht sinnentleerten Ideale der
       Wohlstandsgesellschaft infrage stellt und zur Abkehr von bürgerlichen
       Zwängen und Tabus aufruft. Erstmals geprägt wurde der Begriff angeblich
       1965 vom Schriftsteller Allen Ginsberg. Unsterblich ist Scott McKenzies
       Songzeile: "If you go to San Francisco, be sure to wear some flowers in
       your hair".
       
       Fokustheorie: Sie beruht auf den Ideen Che Guevaras (1928-1967) und
       beinhaltet ein voluntaristisch genanntes Revolutionskonzept. Traditionelle
       Marxisten hatten bis zu Ches Schriften umständlich versucht, sogenannte
       objektive wirtschaftspolitische Gründe herauszudestillieren, nach denen
       eine Weltregion reif zum Umsturz sei und eine andere eben nicht. Nach dem
       Vorbild der kubanischen Revolution behauptete Guevara jedoch, dass ein
       Fokus, eine entschlossene Kerngruppe von Revolutionären genüge, um
       erfolgreich eine revolutionäre Erhebung in der ausgebeuteten ländlichen
       Bevölkerung auszulösen.
       
       Funktion des Orgasmus: Floskel, die den esoterischen Schriften Wilhelm
       Reichs entnommen wurde - einem Theoretiker, der Ende der Fünfzigerjahre
       starb, aber seine Erkenntnisse in den Wirren des Ersten Weltkriegs gewann.
       Theorie: Ein tüchtiger, gemeinsamer, koital-genitaler Orgasmus ist
       behilflich, den Kapitalismus mit besonderer Energie subversiv zu
       unterlaufen.
       
       Gammler: Sammelstichwort für alle, die dem deutschen Gartenzwerg nicht
       passten. Leute, die nicht arbeiten, herumsitzen, lange Haare trugen,
       Widerworte gaben, sich Befehl und Gehorsam aufreizend lässig widersetzten.
       Als Mittel, ihnen den Garaus zu machen, fielen im öffentlichen Leben
       häufiger Worte wie "Gaskammer" oder Reisetipps wie "Geh doch nach drüben".
       
       Gastarbeiter: Der blinde Fleck von 68. Ende der Sechzigerjahre hatten die
       G. längst den urdeutschen Proleten ermöglicht, Angestellte werden zu
       können, Arbeitnehmer in Berufen, bei denen sie sich nicht die Finger
       schmutzig machen mussten. Nun fegten und kehrten G. den Müll weg. Die
       Schriftsteller Emine Sevgi Özdamar hat in "Die Brücke vom Goldenen Horn"
       auch ihnen ein Denkmal gesetzt; die elenden Schattenseiten des Daseins als
       G. hat Günter Wallraff in den frühen Siebzigern dokumentiert in seinen
       "Industriereportagen". 68 kannte Ausländer nur als Genossen und Genossinnen
       aus unterdrückten Ländern, nicht als Deutsche in spe.
       
       Große Koalition: Im Oktober 1966 zerbricht die Bonner Regierungskoalition
       von CDU/CSU und FDP. Rasch einigen sich die Bundestagsfraktionen von
       CDU/CSU und SPD auf die Bildung einer großen Koalition. Bereits am 1.
       Dezember 1966 wählt der Bundestag Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum neuen
       Bundeskanzler. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt wird neuer
       Bundesaußenminister. Die "Superregierung" der g. K. strebt als Hauptziele
       die Beendigung der Wirtschaftskrise und die Verabschiedung einer
       Notstandsverfassung an. Die Notstandsgesetze treten am 28. Juni 1968 trotz
       aller Proteste, vor allem von der ->APO, in Kraft.
       
       Haschrebellen: Mit der Ermordung Benno Ohnesorgs durch die Polizei am 2.
       Juni 1967 radikalisierten sich auch die subkulturell orientierten Ausläufer
       der Protestbewegung. Insbesondere in Westberlin entstanden aus dem sich
       ->antiautoritär verstehenden Milieu erste Vorläufergruppen der
       westdeutschen Stadtguerilla. Sie trugen Namen wie Schwarze Ratten,
       Tupamaros West-Berlin, firmierten als Blues und richteten sich polemisch
       gegen die aufkommenden studentisch-marxistischen Orthodoxien. Im rigiden
       Umfeld der postfaschistischen Bundesrepublik propagierten die Haschrebellen
       andere Drogenpraktiken und nichtkonsumistische Lebensweisen. Über die
       Entwicklung dieser Szenen zwischen "Spaßguerilla" und anti-israelischen,
       -amerikanischen Aktionismus geben exemplarisch Auskunft: Ulrich
       Enzensberger "Die Jahre der Kommune 1. Berlin 1967-1969" (Köln 2004) und
       Ralf Reinders/Ronald Fritzsch, "Die Bewegung 2. Juni" (Berlin 1995).
       
       Hippies: Angehörige einer in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre in den USA
       entstandenen Protestbewegung, in der Jugendliche gegen die Wohlstands- und
       Leistungsgesellschaft rebellierten. Der in ihren Augen "sinnleeren"
       Mittelstandsgesellschaft stellten die Hippies das Ideal einer
       "sinnerfüllten", von bürgerlichen Wertvorstellungen und Zwängen freien Welt
       entgegen (->Flowerpower), das sie in freien, naturbezogenen, auf
       ekstatisches Glückserleben in Liebe, Musik und Rauschmittelgenuss
       gerichteten Gemeinschaften zu leben versuchten.
       
       Imperialismus: Natürlich wusste auch die Studentenbewegung, dass das
       Zeitalter des klassischen I. mit dem Ersten Weltkrieg vorbei war. Mit
       diesem endete die europäische Expansionswelle, die versuchte, in
       kolonialistischer Absicht Weltreiche zu bilden. Doch im Gefolge von Kongo-
       oder Kuba-Krise, Algerien- oder Vietnamkriegen sahen viele das alte Muster
       eines rassistischen I. weiter wirken, an deren Spitze nun alleinig die USA
       stünden. Im Namen des "Anti-Imperialismus" sollte die Neue Linke in der
       Bundesrepublik bald ihre verheerendsten Fehler begehen. Erste Anzeichen
       waren Ende der 1960er bereits in den Anschlägen auf US- oder israelische
       Einrichtungen sichtbar. Frantz Fanon (1925-1961) begründete ausgehend vom
       algerischen Unabhängigkeitskampf das Gewaltprinzip als universellen
       Katalysator für die antikoloniale Erhebung. Sein 1961 erschienenes
       Hauptwerk "Die Verdammten dieser Erde" war lange Zeit so etwas wie die
       Bibel der "antiimperialistischen Linke".
       
       Kapitalismus: Das Mantra des Protests überhaupt. Gegen den musste was getan
       werden, auf dass er zum Sozialismus umgemodelt werden konnte. K. war die
       Antwort auf alle Probleme, ökonomisch, sexuell, moralisch und überhaupt. K.
       galt als teuflisch, weil dieses System die Menschen dazu bringt, in Lohn
       und Brot zu stehen und sie daran hindert, miteinander zu sprechen, sich gut
       zu verstehen, und außerdem war K. ein anderes Wort für USA, und die führten
       in Vietnam gegen Vietnam Krieg, einen imperialistischen Krieg.
       
       Kommune: Wohnform, geboren aus dem Umstand, dass es nicht genügend
       Studentenzimmer gab und die wenigen Privatzimmer häufig von Vermietern
       angeboten wurden, die sich wie Gestapobeamte in die Privatsphäre ihrer
       Mieter einmischten. Die K. war das Lifestyleangebot, um der Vereinsamung,
       der Vereinzelung im ->Kapitalismus zu entgehen: Gemeinsam, jenseits der
       bürgerlichen Kleinfamilie, ohne Konkurrenz und viel Zärtlichkeit ein Leben
       zu leben, das in sich die Utopie vorwegnimmt. Heute heißt das alles WG wie
       Wohngemeinschaft und funktioniert nur selten.
       
       Kritik: Der Wahnsinn für Kleingeister. Eigentlich nichts als die Übung,
       Dinge zu unterscheiden, sie zu wägen und zu beurteilen. Aber K. stand für
       Ätzendes, für die Kraft der Zersetzung - Menschen, die K. scheuten, sahen
       es oft darauf ab, die Dinge nicht hinterfragen zu lassen. K. war nötig
       gegen die Autorität der Institutionen, gegen die Väter und Mütter, außerdem
       für alle möglichen Umstände, in Schule und Beruf.
       
       Kulturrevolution: Fanal aus China, hierzulande missverstanden als Aufbruch
       mit menschlichem Antlitz. Maoisten träumten von der K. und wollten, dass
       sie auch bei uns gelebt wird. Von dieser Hoffnung blieb nichts. Heute wird
       das Wort Kultur gern verballhornt: Kultur des Sprechens, des Mutes, des
       Lebens, der Schönheit. Kultur kann offenbar alles sein und damit nichts.
       
       Nonkonformismus: Jemand, der dem N. anhängt, gibt zu verstehen, besonders
       zu sein. Ein Eigenbrötler, Individualist, ein Exzentriker, einer, der auf
       seine Macken hält, nicht auf das, was die Mehrheit, die spießige, vorgibt.
       Niemand will heute mehr Konformist sein, alle halten auf Eigenes. Reinhard
       Mey hat in seinem Lied "Annabelle" sowohl die kruden Auswüchse erster
       Feministinnen attackiert wie auch bekannt gegeben, dass er sich niemals
       eingemeinden lassen will.
       
       Ödipus: Held der Psychoanalyse, den französische Philosophen wie Michel
       Foucault als ewigen Sisyphos des bürgerlichen Regimes begriffen, auch seine
       Landsleute Gilles Deleuze und und Félix Guattari empfanden so. Ihre
       wissenschaftliche Lieblingsfigur nannten sie Antiödipus, der im Hader mit
       den Mächten sich von keinem übermächtigen Vater mehr umhauen lässt. Die
       Psychoanalyse hatte viele Vokabeln zur Zeit von 68 beigetragen, etwa
       Verdrängung oder Unbewusstes.
       
       Pahlevi, Reza: Mohammad Reza Schah Pahlavi (1919-1980), letzter Herrscher
       auf dem persischen Pfauenthron, musste am 16. Februar 1979 vor der Revolte
       linker und islamistischer Kräfte außer Landes fliehen. Putschte 1953
       mithilfe von US-Geheimdiensten gegen die demokratisch gewählte Regierung
       von Mohammad Mossadegh. Gegen die Mullah-Diktatur scheint der Schah heute
       auch der Linken fast schon als ein harmloser Zwerg. Doch in den 1960ern
       galt der Handlanger des US-Öl-Imperialismus als einer der fiesesten
       Gewaltherrscher weltweit.
       
       Prager Frühling: Versuch der tschechoslowakischen Kommunisten, sich von
       Moskau loszusagen und einen Sozialismus demokratischer Art zu etablieren.
       Im August 1968 marschierten die Staaten des realen Sozialismus in die CSSR
       ein - Alexander Dubcek wurde entmachtet, der Moskauer Sozialismus erholte
       sich von dieser Aggression nie.
       
       Randgruppenstrategie: Weil das Proletariat, so die Theorie, satt und faul
       ist, wird es keine Revolution machen. Die Unterdrückten seien eher
       Randständige, Heimbewohner, Alte, Psychiatrieinsassen, Obdachlose. Brächte
       man sie zusammen, wird eine Revolution möglich. Diese R. irrte in Gänze.
       
       Sexfront: Günter Amendts Bestseller, der die Jugend dazu ermutigte, sexuell
       zu probieren, was eben so geht. Auch steht dort lupenrein geschrieben, dass
       vom Wichsen das Rückenmark nicht schwindet und dass Sperma nicht nur für
       die Besamung einer weiblichen Eizelle gut ist. Aus heutiger Sicht birgt es
       nur Banales, aber damals konnte S. als Bibel des nichtspießigen
       Körperlebens verstanden werden.
       
       Situationismus: Die Situationistische Internationale (S.I.) war eine von
       1957 bis 1972 existierende Gruppe aktivistisch orientierter Künstler,
       Stadtplaner und Theoretiker. Sie begriff sich in der Tradition der
       klassischen Avantgarden (Dada- und Surrealismus), vertrat also neben der
       Negation des kapitalistischen Betriebs eine Aufhebung der Trennung von
       Kunst und Politik und deren Überführung in eine unmittelbare radikale
       Lebenspraxis. Ihre bekanntesten Vertreter waren der Maler Asger Jorn sowie
       der Theoretiker Guy Debord ("Die Gesellschaft des Spektakels"). Deutsche
       Ausläufer fanden sich in der Gruppe Spur in München oder der Kommune 1 in
       Berlin. Von Spaßguerilla, Punk bis zu heutigen Kunst- und Popphänomenen
       geht vieles auf das Wirken des Situationismus zurück.
       
       System: Weil es kein richtiges Leben im Falschen (Theodor W. Adorno) gibt,
       muss alles, was einen umgibt, mehr sein als Gesellschaft, nämlich das S.
       Unter S., eigentlich eine technische Vokabel, wurde das ganze
       undurchschaubare Regelwerk der bürgerlichen Gesellschaft verstanden. Niklas
       Luhmann hatte mit Sozialismus nix im Sinn, aber mit seiner Systemtheorie
       die wichtigste soziologische Theorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts
       entwickelt.
       
       Trampen: Im Lexikon steht, das Trampen sei eine Form des preisgünstigen
       Reisens. In Wahrheit ging es um das T. als solches, als Suchbewegung mit
       dem Daumen zur Seite gereckt, um Mitfahrgelegenheit buhlend, hoffend, dass
       der Fahrer oder (seltener) die Fahrerin freundlich ist und gute Geschichten
       zu erzählen hat. Durch etliche Gewaltfälle von Autofahrern gegen Tramper -
       die wiederum den Trampern angedichtet wurden, vor allem durch die
       bürgerliche Presse - kam das T. in Verruf.
       
       Utopie: Im Hier & Jetzt zu leben war für 68 das eine, das andere die Pflege
       von Utopien, die religiös anmutende Ausformulierung dessen, was sein
       könnte, wenn es denn gegen die Herrschenden, das ->System, den
       ->Kapitalismus endlich wahr würde. U. ist die Letztvokabel gegen alle
       Pragmatiker, deren Blicke traurigerweise nie über den Horizont
       hinausschauen wollten.
       
       USA-SA-SS: Objektiv antisemitische Demonstrationsformel - nicht selten
       gehört während der Ära von 68. Wegen Vietnam wurden die USA beschuldigt,
       dort einen ebenso großen Völkermord zu veranstalten wie die
       Nationalsozialismus an den Juden und in Osteuropa. Kritiker sehen dies als
       deutsche Entlastungsformel.
       
       28 Dec 2007
       
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