# taz.de -- Vergangenheitserbe: Gefühlte Wirklichkeit
       
       > 68 und der Nationalsozialismus: Viel großflächige Theorie, die
       > wenig vom Holocaust, dafür mehr vom Kapitalismus wissen wollte.
       
 (IMG) Bild: "Nie wieder!" - und jedem war klar, was gemeint ist.
       
       "Nie wieder!": Der knappe, seltsam gegenstandslose Imperativ war 68 auf
       Wänden, Plakaten und Spruchbändern allgegenwärtig. Und jedem war klar, was
       gemeint war. "Nie wieder Krieg" und "Kein neues 33" präzisierten das große
       Nein einer Generation. Der Krieg, um den es ging, hatte im Geschichtsbild
       von 68 nicht im September 1939 begonnen, sondern am Tag der Machtergreifung
       durch die Nazis. Denn: "Kapitalismus führt zum Faschismus". Und Faschismus,
       das war klar, konnte nur in Krieg und Vernichtung enden.
       
       Einer der theoretischen Lehrer der Protestierenden von 68 brachte den
       Absolutheitsanspruch auf eine Formel, die eine entscheidende
       Differenzierung barg. "Hitler hat den Menschen den kategorischen Imperativ
       aufgezwungen, alles dafür zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederhole."
       Theodor W. Adorno hatte damit einen Namen für das Grauen des "Faschismus"
       (wie der Nationalsozialismus in der Theoriesprache von 68 hieß) gefunden.
       Die Verdichtung des Nationalsozialismus auf Auschwitz wurde - ein Jahrzehnt
       bevor der Terminus "Holocaust" aufkam und mehr als zwanzig Jahre vor der
       Rede vom "Zivilisationsbruch" - zur Schlüsselmetapher des
       Vergangenheitsdiskurses.
       
       In der Angst, Geschichte - diese Geschichte - könne sich wiederholen, waren
       sich die personell knapp besetzten demokratischen Eliten der deutschen
       Nachkriegsrepublik mit deren rebellischem Nachwuchs, der Generation von 68,
       einig. "Wehret den Anfängen" war beider praktische Philosophie.
       Bemerkenswert ist, dass das in den Sechzigern begründete Projekt einer
       "Aufarbeitung der Vergangenheit" die Gemeinschaftsleistung zweier
       Außenseitergruppen war, die sich letztlich fremd blieben. Ihre Fremdheit
       beruhte darauf, dass für sie das, dessen Wiederkehr sie verhindern wollten,
       letztlich etwas völlig Verschiedenes war.
       
       Jene, die den Nationalsozialismus erlebt und ihr Handeln dem "Nie wieder"
       verschrieben hatten, wurden nach 1945 von der braunen Hinterlassenschaft
       schier erdrückt. Es gab unspektakuläre Knochenarbeit zu leisten: vom
       Aufspüren ehemaliger Täter über die Klärung von Versorgungsansprüchen für
       Opfer bis hin zu juristischen und moralischen Aufräumarbeiten. Es waren
       Ausnahmegestalten dieser Generation, Intellektuelle wie der Linkskatholik
       Eugen Kogon mit seiner Analyse des SS-Staates, Journalisten wie Eckart
       Heinze, der unter dem Pseudonym Michael Mansfeld unermüdlich Altnazis
       aufspürte, Juristen wie Fritz Bauer, der die Prozesse vorbereitete, in
       denen - endlich - die Täter von Auschwitz verurteilt werden konnten. All
       dies geschah lange vor 68.
       
       Die immense Arbeit dieser ersten republikanischen Generation bestand darin,
       den Blick auf das freizulegen, was zwischen 1933 und 1945 wirklich
       geschehen war: ein realistisches Bild von dem zu gewinnen, was von der
       Mehrzahl der Deutschen glücklich vergessen und gründlich derealisiert
       worden war. Das Erbe ihrer Folgegeneration, der Achtundsechziger, war
       ähnlich drückend und doch ganz anders. Auch für sie war das Erbe der
       Vergangenheit eine Flut - eine Flut von Fantasien.
       
       Es mag banal erscheinen, auf den Unterschied hinzuweisen, der daraus
       resultiert, ob man die Wiederkehr von etwas fürchtet, das man erlebt oder
       von dem man sich nachträglich mühsam eine Vorstellung gebildet hat. In
       dieser Banalität liegt jedoch ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis
       von 68. Die nachgeborene Generation hatte nicht nur ein anderes Bild der
       Nazizeit, sondern sie verband damit auch andere Fantasien - Ängste,
       Befürchtungen - als die Erlebnisgeneration. Die Kriegs- und
       Nachkriegskinder schlugen sich mit einer Mixtur von Realität, Erfahrung und
       Fantasie herum, die wesentlich aus familiärem Erleben bestimmt war. Das
       Schweigen der Eltern über ihre Rolle im Nationalsozialismus fachte bei den
       Kindern enorme Einbildungstätigkeit an.
       
       Viele Achtundsechziger erlebten ihre Eltern als kalte, mitunter monströse
       Gestalten, denen alles zuzutrauen war. Sie waren nicht
       identifikationsfähig. Stattdessen flüchteten sie sich in
       Gegenidentifizierungen und brachten das Drama der Verfolgten, der
       KZ-Insassen, der politischen Häftlinge und rassisch Verfolgten auf die
       Bühne ihrer Vorstellungen. Die Achtundsechzigergeneration versuchte mit
       allen Mitteln gegen den genealogischen Zwang einen autopoietischen
       Neuanfang zu setzen.
       
       Indem sie sich mit den Opfern der Elterngeneration identifizierte,
       praktizierte sie gelebte Gegengeschichte als leibgewordene
       Wiedergutmachungsfantasie. Oft nannten sie ihre Kinder Sarah und Leah,
       Daniel und Benjamin. Solche Strategien des Ungeschehenmachens fußten auf
       Fantasien über ein persönlich destruktives Erbe der Väter. Die raren
       empirischen Studien, die es zu 68 gibt, zeigen, wie ausgeprägt bei vielen
       Angehörigen dieser Generation das Phantasma eines gegen sie gerichteten
       Infantizidimpulses der Eltern war - und, korrespondierend, der
       Selbstverdacht, etwas von dieser mörderischen Erbschaft stecke in einem.
       
       Der - man verzeihe das Wort - Startschuss für 68 war ebenso eng mit dem
       Phantasma einer Wiederkehr des Nationalsozialismus wie mit der eines
       elterlichen Infantizidimpulses verknüpft. Als Benno Ohnesorg am 2. Juni
       1967 durch die Kugel eines Berliner Polizisten getötet wurde, brach die
       Angst der Nachgeborenen schlagartig auf. War der Mord in Uniform nicht der
       Beweis für das Wiederaufleben des Gewalterbes?
       
       Am Abend jenes Junitages fand im Berliner SDS-Büro eine erregte Diskussion
       statt. Überliefert ist das Statement: "Dieser faschistische Staat ist
       darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt
       kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von
       Auschwitz - mit denen kann man nicht argumentieren." Die Fantasie vom
       mörderischen Fortwirken der NS-Gewalt in der als instabil eingeschätzten
       Republik war ausgesprochen. Zugleich ging es um die Selbstverortung jener
       Nachgeborenen, die ihre Eltern als die "Generation von Auschwitz"
       wahrnahmen.
       
       Wer war man eigentlich, wenn der eigene Ursprung in Nebeln lag? Wenn man
       aus unklaren Zeichen zum Schluss kommen konnte, man sei das Kind von
       Mördern? Heute, zu einem Zeitpunkt, an dem das Achtundsechzigerbashing
       Gesellschaftsspiel geworden ist, sind diese bedrängenden Selbstzweifel kein
       Thema mehr. Nicht zuletzt übrigens deshalb, weil sich viele
       Achtundsechziger längst in einer neuen moralischen Zweifellosigkeit
       eingerichtet haben. Sie sind Weltmeister in Betroffenheit, nachgeholter
       Trauer und moralischer Unangreifbarkeit geworden.
       
       Auch wegen dieses hochfahrenden Gestus wird die Frage nach der Legitimation
       von 68 neu gestellt. War der Nationalsozialismus die entscheidende
       Hintergrundkonfiguration des Protests? Welche Rolle spielte der Mord an den
       europäischen Juden? War Auschwitz das Menetekel von 68? Waren die
       Achtundsechziger die Generation, die versuchte, den braunen Sumpf
       trockenzulegen, und damit festen Boden für eine "neue Republik" schuf?
       
       Der berühmteste Satz eines Achtundsechzigers nach 68 ist zweifellos Joschka
       Fischers Begründung für die erste militärische Intervention mit deutscher
       Beteiligung nach 1945. "Ich habe nicht nur gelernt, nie wieder Krieg,
       sondern auch: Nie wieder Auschwitz. Die Bomben sind nötig, um die serbische
       SS zu stoppen." Erkennbar aus dem Geist des alten "Nie wieder", enthält der
       Satz doch eine sublime Geschichtsklitterung. Dreißig Jahre nach 68 ist er
       aus jenem Geschichtsbewusstsein heraus formuliert, das den Holocaust als
       Wesenskern des Nationalsozialismus betrachtet. Das war 1968 keineswegs der
       Fall.
       
       Und dennoch enthält Fischers Ausspruch eine Wahrheit, weil er den
       Untergrund des Lebensgefühls von 68 zum Sprechen bringt. Zur Hochzeit der
       Protestbewegung war Auschwitz - trotz Adorno - kein Schlüsselwort. Nicht
       die Vernichtungspolitik, sondern der "weltgeschichtliche Zusammenhang" von
       Kapitalismus und Destruktion bestimmte die Sicht auf die Zeit vor 1945. Der
       Versuch, das Unbegreifliche zu fassen, verlangte breitflächigere Konzepte
       als die historische Rekonstruktion der zwölf NS-Jahre. Gefragt waren
       Theorien, die das Phänomen Nationalsozialismus in einen
       geschichtsphilosophischen Letzterklärungszusammenhang einordnen konnten.
       Nur ein universalisierender Zugriff entsprach dem Bedürfnis der jungen
       Generation nach struktureller Erklärung.
       
       Genau dies war der Punkt, an dem sich die neue Gegenelite der
       Achtundsechziger von jener der vorhergehenden Generation absetzte, die den
       mühsamen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit auf den Weg gebracht
       hatte. Die Achtundsechziger hielten ihre Vorläufer, kurz gesagt, für
       pragmatisch beschränkt und theoretisch hilflos. Die Analysen von 68 hielten
       sich nicht lange mit historischen Details auf, sie favorisierten die
       Totalperspektive. Ein Vorbild fanden sie in der Kritischen Theorie, die den
       Nationalsozialismus aus der Sicht eines epochalen Niedergangs des
       Kapitalismus interpretierte. Horkheimers "Wer aber vom Kapitalismus nicht
       reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" fasste das Analyseschema
       zusammen: Der Nationalsozialismus galt als eine besondere Ausdrucksform des
       Faschismus und als Spielart des Kapitalismus.
       
       Diese Perspektive ließ die Arbeit der antifaschistischen
       Gründungsgeneration der BRD wie eine notwendige, aber letztlich doch naive,
       an Fakten und Fällen orientierte Vorarbeit dessen erscheinen, was erst noch
       zu leisten war. Ironischerweise war dies nicht nur falsch, wenn auch
       weniger auf der Ebene der Realität. Die Arbeit von 68 setzte auf der -
       apokalyptisch gestimmten - Fantasieebene ein. Sie beinhaltete nicht weniger
       als die Vorstellung eines metaphysisch Bösen, das die Geschichte und das
       eigene Leben durchwaltete: ein unsterbliches Monster, das immer wieder sein
       Haupt erhebt.
       
       So durfte man es freilich nicht sagen. Der wissenschaftliche Name dafür
       war: Wertgesetz. Unterhalb dieser abgedichteten Erklärungsebene wogte
       freilich das Leben und der Zweifel. Fischers Satz enthält den Nachklang
       einer anderen Erfahrung. Jeder Achtundsechziger hatte ein inwendiges Bild
       vom Nationalsozialismus, das wenig mit dem analytischen Popanz "Faschismus"
       oder Kapitalismusanalyse zu tun hatte. Es war das unscharfe Bild, das dem
       eigenen Leben abgewonnen war. Es war die Intuition, dass die schweigende
       Verstocktheit der Eltern, die man höchst leiblich erfahren konnte, aus
       einer Quelle stammte, für die die Chiffre "Nationalsozialismus" stand.
       
       Wenn wir 68 gerecht beurteilen wollen, dann gilt es zu verstehen, dass die
       damalige "Analyse" der Verhältnisse sterile Abstraktionen erzeugte, die mit
       der Realität wenig zu tun hatten. Das Empfinden befeuerte dagegen eine
       Fantasie, die wir bis heute nicht ausreichend verstanden haben.
       
       21 Dec 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Schneider
       
       ## TAGS
       
 (DIR) 68er
       
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