# taz.de -- Erinnerung an jüdische Flüchtlinge: Vor dem Haus mit der Nummer 15
       
       > Unser Autor wusste nichts über seine Urgroßeltern – außer, dass sie im KZ
       > umkamen. Mit einem Stolperstein beginnt die Spurensuche.
       
 (IMG) Bild: Stolpersteine der Urgroßeltern in Berlin-Moabit.
       
       Ich bin 35 Jahre alt, aber bis vor Kurzem war alles, was ich über meine
       Urgroßeltern Carl und Paula Brenner wusste, auf ein paar sehr vage,
       schreckliche Sätze beschränkt: Sie waren deutsche Juden. Sie lebten in
       Berlin. Sie haben versucht, den Nazis zu entkommen, aber sie wurden in
       einem der Konzentrationslager umgebracht.
       
       Ich bin in Israel aufgewachsen und zog im Sommer 2014 nach Berlin. Von hier
       berichte ich als Journalist für internationale Medien. Seit immer mehr
       Menschen nach Europa fliehen, ist ein Großteil meiner Arbeit den
       Hindernissen gewidmet, die Flüchtlinge überwinden müssen, die in Europa
       Schutz suchen, sowie den Schwierigkeiten, denen Asylsuchende in Deutschland
       begegnen.
       
       Ich schrieb über syrische Familien, die sich in Berlin wiedertrafen, über
       rassistische Angriffe in Brandenburg und über Asylsuchende, die Italien auf
       dem Weg nach Deutschland verlassen hatten. Während ich diese Menschen
       interviewte, die aus ihrer Heimat aus Angst vor Verfolgung, Krieg oder
       Gewalt geflohen waren, dachte ich immer wieder an meine Großeltern, die
       ebenfalls Gewalt und Verfolgung in ihrem Heimatland ausgesetzt gewesen
       waren.
       
       Seit ich selbst in Berlin lebe, wurde mein Interesse an meinen Berliner
       Vorfahren immer größer. Und während ich die Stadt erkundete, habe ich mich
       oft gefragt, ob meine Urgroßeltern wohl früher auf denselben Straßen
       gegangen waren, auf denen ich nun ging. Ich versuchte mir vorzustellen, wie
       ihr Leben ausgesehen haben mochte, womit sie ihren Lebensunterhalt
       verdienten und mit wem sie befreundet gewesen waren. Aber am allermeisten
       beschäftigte mich die Frage, warum sie nicht aus Deutschland flohen, als
       ihr Leben in Gefahr war.
       
       Das wenige, das ich über die beiden wusste, kam von deren Sohn Walter
       Brenner, meinem Großvater, der Deutschland 1937 verließ und in die USA
       auswanderte. Aber Opa Walter, der 1993 in Israel starb, hat nur sehr wenig
       über das Leben seiner Eltern erzählt.
       
       Eines Tages erhielt mein Vater, Gary Brenner, Carl und Paulas einziger
       Enkelsohn, eine E-Mail. Ihm wurde mitgeteilt, dass seiner Großeltern in
       Berlin mithilfe von Stolpersteinen gedacht werden sollte – des Projekts des
       Künstlers Gunter Demnig, der quadratische goldene Gedenksteine vor Häusern
       verlegt, in denen Juden vor dem Holocaust gelebt hatten. Diese E-Mail
       veränderte alles.
       
       Geschrieben hatte sie eine Initiative, die sich in der Berliner
       Thomasiusstraße für Stolpersteine einsetzt und zu der alle Bewohner dieser
       Straße gehören. Sie luden uns zu der Zeremonie ein, bei der die
       Stolpersteine für Carl und Paula Brenner am 24 Juni verlegt werden sollten
       – vor dem Haus mit der Nummer 15, der letzten Adresse, unter der meine
       Urgroßeltern gemeldet gewesen waren.
       
       ## Carl und Paula
       
       Als mein Vater mir die Einladung weiterleitete, war ich begeistert. Zum
       ersten Mal konnte ich sehen, in welchem Kiez meine Urgroßeltern gelebt
       hatten. Sofort suchte ich online nach der Adresse und sah, dass die Straße
       unweit des Tiergartens gelegen ist – eine Gegend, in der ich im letzten
       Jahr mehrfach war.
       
       Mein Vater, meine Mutter und meine beiden Brüder leben in Israel. Also
       vertrat ich unsere Familie bei der Zeremonie. Ich bat meinen Vater, mir
       alle Informationen zu schicken, die er über seine Großeltern hatte. Es war
       das erste Mal, dass ich ihn direkt danach fragte – und er wusste mehr über
       seine Großeltern, als ich erwartet hatte.
       
       Ich erfuhr, dass keiner der beiden in Berlin geboren war. Carl, Jahrgang
       1870, stammte aus einer Stadt namens Schwetz, damals Westpreußen, heute
       Polen. Und Paula, Jahrgang 1884, kam aus der damals deutschen und heute
       polnischen Stadt Neisse. Beide zogen erst später nach Berlin – ebenso wie
       ich.
       
       Der Tag der Zeremonie, der erste Tag, an dem ich die Straße betrat, in der
       meine Urgroßeltern gelebt hatten, brachte weitere Erkenntnisse. Das Haus
       meiner Urgroßeltern liegt in Moabit. Ich hatte ein Jahr in Berlin
       verbracht, ohne mich jemals für Moabit zu interessieren.
       
       Ich sprach vor der Zeremonie mit einigen der heutigen Bewohner und erfuhr,
       dass Carl, Paula und ihr Sohn Walter 1911 in die Thomasiusstraße 15 gezogen
       waren. Die Brenners waren nicht die einzigen Juden, die damals in diesem
       Haus gelebt hatten. Während der Zeremonie wurden insgesamt 16 Stolpersteine
       verlegt.
       
       ## Ich lächelte und grüßte
       
       Das Haus Thomasiusstraße 15 wurde während des Kriegs bombardiert, jedoch
       erst nachdem meine beiden Urgroßeltern deportiert worden waren. Eine Hälfte
       des Hauses wurde dabei zerstört. Die Rückseite blieb jedoch intakt, konnte
       renoviert werden und ist auch heute noch bewohnt. Die meisten Menschen, die
       an der Zeremonie teilnahmen, waren die heutigen Bewohner der
       Thomasiusstraße. Als die Stolpersteine für Carl und Paula verlegt werden
       sollten, las die Anwohnerin Rita einige Informationen vor, die die
       Initiative in deutschen Archiven über meine Urgroßeltern zusammengetragen
       hatte.
       
       Mein Deutsch ist nicht sehr gut, deshalb verstand ich nicht, was sie sagte.
       Neben mir stand meine Frau Martina, die Deutsch spricht. Und als der Text
       verlesen wurde, sah ich, wie ihr leise Tränen über die Wangen rollten.
       Viele der Anwesenden weinten, vor allem als sie erfuhren, dass Carls und
       Paulas Urenkel anwesend war. Ich lächelte und grüßte.
       
       Nach der Zeremonie schickte Rita mir den Text per E-Mail. Sofort gab ich
       ihn bei Google Translate ein und verschlang die neuen Informationen. Ich
       erfuhr, dass die Nazis 1937 eine Steuer für Juden erhoben hatten – die
       Judenvermögensabgabe, die die Brenners zwang, einen Teil ihres Besitzes
       abzugeben.
       
       Ich erfuhr, dass die deutschen Behörden Juden zwangen, ihre Firmen an
       Nichtjuden zu verkaufen, und dass Carl die Leitung über ein
       Großhandelsunternehmen abgeben musste, das er über zwei Jahrzehnte geführt
       hatte. Ich erfuhr, dass mein Opa Walter 1937 in die USA floh und er ab dem
       Zeitpunkt, an dem er Deutschland verlassen hatte, versuchte, die Flucht
       seiner Eltern zu organisieren.
       
       ## Flüchtlinge - wie heute
       
       Und ich erfuhr auch, warum es ihnen nicht gelungen war, zu fliehen. Carl
       und Paula wollten anfangs trotz Hitlers Machtergreifung in Berlin bleiben,
       weil sie dachten, in der großen Stadt sicher zu sein. Als sie 1941
       schließlich begriffen, wie gefährlich die Lage für sie war, war es zu spät.
       Sie beantragten Visen für die USA und für Kuba, aber diese wurden
       abgelehnt. Kein Land wollte ihnen Schutz gewähren.
       
       Meine Urgroßeltern, die damals Ende fünfzig waren, waren in einer ähnlichen
       Situation wie Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika heute: Sie wollten
       ihrer Heimat entrinnen, aber Gesetz und Visabeschränkungen machten es ihnen
       sehr schwer, ein sicheres Land zu erreichen. Also blieben sie in Berlin.
       
       Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen haben etwa acht
       Millionen Syrer ihren Heimatort verlassen, leben jedoch unter ständiger
       Bedrohung weiterhin im Land. Weitere vier Millionen leben in überfüllten
       Flüchtlingslagern in Jordanien, der Türkei und im Libanon. Für all diese
       Menschen ist Europa nur eine kurze Flugstrecke entfernt.
       
       Aber die Gesetze und Visabestimmungen der Europäischen Union machen es
       ihnen unmöglich, einfach ein Flugzeug nach London, Paris oder Berlin zu
       besteigen. Stattdessen müssen sich diese Menschen auf eine schwierige und
       teure Reise begeben, wenn sie in Deutschland oder einem anderen Land der
       Schengenzone Asyl beantragen wollen.
       
       ## Mir wurde schlecht
       
       Für meine Urgroßeltern besiegelte die Tatsache, dass ihnen kein sicheres
       Land Zuflucht gewährte, ihr Schicksal. Am 9. September 1942 wurden Carl und
       Paula Brenner nach Theresienstadt deportiert. Carl starb nur wenige Wochen
       später. Paulas Akte im deutschen Bundesarchiv belegt, dass sie am 16. Mai
       1944 nach Auschwitz verlegt wurde. Ich rechnete nach und begriff, dass es
       meiner Urgroßmutter gelungen war, 20 Monate in einem Konzentrationslager zu
       überleben. Mir wurde ziemlich schlecht.
       
       Aber dieses Gefühl ging vorbei und in den darauf folgenden Tagen merkte
       ich, dass mich die Zeremonie inspiriert hatte. Ich begann eigene
       Nachforschungen über die Geschichte meiner Familie in Berlin anzustellen.
       Ich fragte Rita nach allen Informationen, die sie über Carl und Paula
       hatte, und sie erzählte mir, dass man handgeschriebene Briefe in
       altdeutscher Schrift gefunden hatte, die meine Urgroßeltern an ihren Sohn
       Walter in die USA geschrieben hatten.
       
       Mit jeder neuen Information, die ich entdecke, habe ich das Gefühl, meinen
       Vorfahren ein Stückchen näher zu kommen. Moabit ist nun nicht mehr nur
       irgendein Berliner Kiez für mich. Es ist der Bezirk, den meine Familie
       einmal ihre Heimat nannte.
       
       Übersetzung: Marlene Halser
       
       19 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
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