# taz.de -- Lehrerin über Willkommensklassen: „Die Schule ist ein geschützter Raum“
       
       > Bei Jugendlichen mit Kriegstraumata stoßen Lehrer_innen an ihre Grenzen,
       > sagt die stellvertretende Schulleiterin und Lehrerin Silke Donath.
       
 (IMG) Bild: Ein Geflüchteter aus Gambia vor einem Poster mit Dingen, die ihm wichtig sind. In einer Schule in Baden Württemberg soll er auf das Berufsleben vorbereitet werden
       
       taz: Frau Donath, Sie unterrichten Willkommensklassen … 
       
       Silke Donath: Ach, dieses Wort ...
       
       Was stört sie daran? 
       
       Das ist jetzt ein offizieller Begriff, dem beuge ich mich. Aber an unserer
       Schule sind alle Kinder willkommen, ganz egal welches Päckchen sie tragen.
       Ich finde den Begriff ein Stück weit ausgrenzend. Ich kenne auch viele
       Migranten, die sich dadurch stigmatisiert fühlen. „Willkommensein“ bezieht
       sich doch auf das gesamte Schulklima, nicht nur auf eine Willkommensklasse.
       Aber da fängt es an: Weil Lehrkräfte fehlen, werden neue Kollegen
       eingestellt, die nur in diesen Klassen unterrichten, viele auch ohne
       Lehrausbildung. Ich möchte aber auch dort Lehrer haben, die ebenso gut sind
       und den Regelbetrieb kennen. Sonst wissen sie nicht, worauf sie ihre
       Schüler vorbereiten müssen.
       
       Geflüchtete Kinder gehen in Willkommensklassen, bevor sie in reguläre
       Klassen kommen. Wie muss man sich das vorstellen, Sie machen die Tür auf
       und stehen vor einer Klasse mit Kindern, die geflüchtet sind? 
       
       Das kommt darauf an. Bei uns an der Schule haben wir drei Sprachklassen auf
       unterschiedlichen Niveaustufen. Mach ich nun die Tür auf, wo die
       Neuankömmlinge sind, die kein Wort Deutsch sprechen? Oder mache ich die Tür
       auf, wo die Schüler schon im Übergang zur Regelklasse stehen?
       
       Sagen wir, es ist eine Klasse mit Neuankömmlingen, die kaum Deutsch
       sprechen. Sie kommen rein und dann … 
       
       Dann geht ganz viel über Mimik und Gestik. Über Bilder. Dinge, die sie
       direkt umgeben, Gegenstände in der Schule oder über die Familie. Später
       kommt man zu abstrakteren Sachen. Oft machen wir auch einen Vergleich der
       Muttersprachen: Wie heißt du? Wie geht es dir? Wir versuchen auch über
       Kollegen eine Mehrsprachigkeit reinzubringen, für Notfälle. Aber im Gros
       heißt es: In diesem Raum wird Deutsch gesprochen, auch untereinander. Und
       es ist immer wieder erstaunlich: Die meisten Schüler saugen alles wie ein
       Schwamm auf und sind hochmotiviert. Das unterscheidet sie oft von unseren
       Regelschülern (lacht).
       
       Welche Herausforderungen gibt es denn, wenn man Kinder mit Fluchtbiografien
       unterrichtet? 
       
       Ein Problem ist die Konzentration. Man muss viel häufiger Erholungsphasen
       in den Unterricht einbauen und als Lehrer flexibel reagieren. Wenn Sie
       merken, es geht grad überhaupt nicht mehr mit einem Schüler, muss man ihn
       vielleicht einfach mal eine Runde auf den Hof gehen lassen. Oder runter zu
       den Sozialarbeitern bringen, damit er den Kopf frei bekommt. Oft achten
       aber auch die Schüler selbst sehr sensibel aufeinander. Sie geben durchaus
       auch mal ein Signal an den Lehrer, „Da ist jetzt gerade eine schlechte
       Nachricht aus dem Heimatland gekommen“, oder erzählen, dass es
       Familiennachzug gab und alles beengter geworden ist.
       
       Viele dieser Kinder sind traumatisiert. Können Lehrer das überhaupt
       auffangen? 
       
       Nein. Wenn man hochtraumatisierte Schüler hat, die sich ständig unter dem
       Tisch verkriechen oder aggressiv werden, dann müssen Lehrkräfte lernen,
       sich professionelle Hilfe zu holen. Das Problem ist: Es fehlen
       Therapieplätze. Die Kinder, die als Alleinreisende kamen, sind hierbei
       meist besser versorgt, weil sich Jugendeinrichtungen darum kümmern. Das ist
       aber kein neues Problem. Ich hatte auch in der Vergangenheit schon mehrfach
       ehemalige Kindersoldaten in der Klasse. Aber oftmals merkt man den Kindern
       gar nichts an, ein Stück weit können sie einfach verdrängen. Und um einem
       Lehrer so etwas Persönliches zu erzählen, gehört sehr viel Vertrauen. Bei
       manchen Kindern habe ich erst am Ende der zehnten Klasse erfahren, was sie
       alles mitgebracht haben. Über die Jahre habe ich viel dazu gelernt und weiß
       besser, wann ich etwas genauer hingucken muss.
       
       Stimmt es, dass die Zahl der Analphabeten gestiegen ist? Deckt sich das mit
       ihrer Erfahrung? 
       
       Ja, aber Vorsicht: Analphabet heißt, dass jemand weder in seiner
       Muttersprache noch in einer anderen Sprache die Schriftsprache beherrscht.
       Wenn jemand nur Arabisch kann, ist er nicht gleich ein Analphabet. Das ist
       ein problematischer Bereich. Diese Kinder brauchen eigentlich drei, vier
       Monate einen extra Anlauf, damit sie sich richtig in die Gruppe integrieren
       können. Aber dafür gibt es kaum Kapazitäten. Lehrer stehen so oft vor dem
       Problem, allen nicht so richtig gerecht zu werden. Wir sind bemüht, über
       die Lehrerfortbildungen dort mehr Unterstützung zu schaffen.
       
       Sie selbst bilden ja auch Lehrer_innen aus, Willkommensklassen zu
       unterrichten. Spielt interkulturelle Kompetenz eine Rolle? 
       
       Ja, aber die Wichtigkeit des interkulturellen Lernens ist noch nicht so
       erkannt. Wir wollen Vielfalt zeigen, aber in der Vielfalt auch
       Gemeinsamkeiten finden. Diese Woche ist zum Beispiel das Opferfest. Das
       wäre so eine Chance, auch anderen Schülern zu zeigen, wie das gefeiert
       wird. So etwas wird auch in den Fortbildungen gelehrt, wie man das genau in
       den Unterricht einbauen kann und welches Material es dafür gibt.
       
       Die Schüler_innen in den Sprachlerngruppen kommen ja aus sehr
       unterschiedlichen Ländern. Gibt es da auch Konflikte? 
       
       Eine Mischung hat sich bewährt: Am besten aus je einem Land nur einer. Dann
       sind die Schüler stärker dazu gezwungen, Deutsch zu sprechen und öffnen
       sich anderen gegenüber schneller. Als ich anfing, gab es die
       Jugoslawienkrise. Wichtig war damals, den Schülern immer wieder zu
       vermitteln: Die Schule ist ein geschützter Raum, es ist egal, ob man
       Bosnier oder Serbe ist. Das versuchen wir auch heute, wenn beispielsweise
       religiöse Konflikte aufkommen.
       
       Können Sie mal ein Beispiel für eine Konfliktsituation geben? 
       
       Ich hatte mal im Englischunterricht ein älteres amerikanisches Ehepaar, die
       regelmäßig als Lesepaten in die Klasse kamen. Die Schüler fanden sie ganz
       toll. Wir hatten nicht kommuniziert, dass sie Juden sind. Irgendwann kam
       das Thema aber im Gespräch auf und manchen arabischstämmigen Kindern ist da
       die Kinnlade runtergeklappt. Plötzlich standen Juden vor ihnen, die ihnen
       zu Hause als Feindbild deklariert wurden, und das waren aber Menschen, die
       sie toll fanden. Der Kontakt blieb weiterhin gut. Für die Schüler war das
       ein sehr guter Lerneffekt.
       
       Wie lange bleiben die Kinder in den Willkommensklassen? 
       
       Das kommt auf den individuellen Lernstand an. Wer einen regelmäßigen
       Schulbesuch in seinem Heimatland hatte, kommt meist schneller voran, als
       jemand der nur vier Jahre zu Hause zur Schule ging. Manche Kinder sind
       aufgrund der Flucht auch manchmal zwei Jahre lang gar nicht zur Schule
       gegangen. Ich arbeite schon seit gut zwanzig Jahren in diesem Bereich. Die
       meisten Schüler brauchen 1,5 bis 2 Jahre bis sie auf dem Niveau sind, um in
       die Regelklasse wechseln zu können. Das Ziel ist ja ein Schulabschluss.
       
       Der Deutsche Lehrerverband rechnet mit bis zu 150.000 geflüchteten Kindern,
       die deutschlandweit in diesem Jahr in die Klassen kommen. Ist das machbar? 
       
       Das geht an die Grenze. Das Problem ist: Was passiert mit den Kindern, wenn
       sie so weit sind, dass sie in eine Regelklasse gehen könnten? Wo kommen
       plötzlich die freien Plätze her? Und gut ausgebildete Lehrer? Um unser
       System an der Schule zu erweitern, machen wir ab der neunten, zehnten und
       bald auch ab der achten Klasse jeweils eine neue Klasse auf, die diesen
       Kindern vorbehalten ist.
       
       Das heißt, sie kommen gar nicht in eine Regelklasse… 
       
       Doch. Denn sie haben den gleichen Fächerkanon und die gleichen Angebote wie
       alle anderen auch. Sie haben einzelne Fächer wie Mathe oder Englisch in
       Kursen mit Schülern aus anderen Klassen. Sie sind nicht ausgegrenzt. Aber
       in Deutsch und Geschichte haben sie Unterricht im Klassenverband. Das ist
       auch ein Vorteil. So können wir an diese Kurse gleich eine Sprachförderung
       koppeln und mit zwei Lehrkräften arbeiten. Wir haben gute Erfahrungen mit
       diesem Modell gemacht. Oft zählen sie am Ende zu den besten des Jahrgangs.
       Den Deutschunterricht muss ich für Nicht-Muttersprachler etwas anders
       aufbauen, auch wenn ich das gleiche Thema behandele. Und Geschichte ist
       auch ein super schweres Fach.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Sie lernen dort Geschichte aus deutscher Sicht. Kinder aus arabischen oder
       afrikanischen Ländern haben im Geschichtsunterricht aber ganz andere Dinge
       gelernt. Plötzlich müssen sie diesen deutschen Fokus einnehmen. Da muss man
       als Lehrer auch mal Mut zur Lücke haben oder Schwerpunkte so setzten, dass
       die Schüler sich selbst auch wieder finden. Zum Beispiel den Schwerpunkt
       auf Kolonialgeschichte setzen.
       
       23 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jasmin Kalarickal
       
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