# taz.de -- Mexiko und seine Verschwundenen: Das Erbe des Suppenkochs
       
       > Santiago Meza López löste für die Drogenkartelle in Tijuana Menschen in
       > Säure auf. Wie aus dem Ort des Horrors einer der Versöhnung wird.
       
 (IMG) Bild: Der ehemalige Hahnenstall gab dem Gelände des Pozolero, des Suppenkochs, seinen Namen. Die unterirdischen Säuretanks waren mit Zementplatten verschlossen
       
       TIJUANA taz | Doña Rebeca ist eine einfache Frau. Sie hat ihr Leben lang
       hart gearbeitet und nebenbei Kinder und Enkel großgezogen. Rebeca Gómez ist
       aber auch eine Detektivin. Eine hellwache, graublonde Miss Marple in einem
       Land ohne Verbrechensaufklärung. Als ihr Sohn Juan Francisco verschwand,
       blieb ihr nichts anderes übrig, als selbst Nachforschungen anzustellen. Das
       jahrelange Zusammensetzen von Puzzlestücken aus Gesprächsfetzen und
       Zeitungsmeldungen bescherte ihr schließlich Gewissheit. Ihr Sohn fand sein
       Ende in den Händen des pozoleros, des Suppenkochs. Aber diesen Namen will
       Doña Rebeca nicht mehr hören. „Wollen Sie sich vorstellen, wie jemand aus
       Ihrem Sohn Suppe kocht? Nein, wollen Sie nicht!“
       
       Mehr als eine „menschliche Emulsion“ konnten die Forensiker im Januar 2013
       auf dem Santiago Meza López gehörenden Gelände tatsächlich nicht mehr
       finden. Der Festgenommene will dort nach eigener Aussage 300 Leichen in
       Säure aufgelöst haben. Nach polizeilichen Schätzungen sind es weit mehr.
       Das in zwei unterirdischen Tanks freigelegte hochtoxische Gebräu von 7.500
       Litern erzeugte Lungenschäden bei den Polizeibeamten. Und es erzeugt bis
       heute tiefes Grauen und Fassungslosigkeit bei jedem, der sich näher mit dem
       mexikanischen Drogenkrieg beschäftigt.
       
       Gefunden haben das Gelände die Familienangehörigen der Verschwundenen
       Tijuanas. Meza war vier Jahre zuvor festgenommen worden, an einem anderen
       Ort, wo der gelernte Maurer ebenfalls unterirdische Säuretanks angelegt
       hatte – so wie früher Wassertanks für Wohnhäuser. Für die Angehörigen
       bedeutete es das Ende ihrer Hoffnung auf eine Erlösung aus der
       Unsicherheit, was mit ihren Nächsten geschehen sein könnte. Offiziell
       wurden 500 Menschen als verschwunden gemeldet, doch angesichts des
       Misstrauens gegenüber den Behörden dürfte die wirkliche Zahl in der
       1,3-Millionen-Metropole weit höher liegen.
       
       ## Auf Eigeninitiative
       
       „Von der Staatsanwaltschaft haben wir keine Unterstützung erhalten“, sagt
       Doña Rebeca. Beamte, die sich um Ermittlungserfolge bemühten, wurden
       entlassen oder strafversetzt, die Mütter eingeschüchtert und bedroht. Zu
       eng ist der Drogenhandel in Tijuana mit Polizei und Politik verknüpft. Doch
       irgendjemand sendete ihnen anonym die Aussage des pozoleros zu. Und als
       dieser schon längst im Hochsicherheitsgefängnis Almoloya einsaß, waren sie
       es, die Mütter, die Informationen zusammenfügten und die Polizei zu dem Ort
       im entlegenen Außenbezirk Maclovio Rojas führten. Dort, wo Bretterbuden und
       unverputzte Häuser die letzten Ausläufer der Grenzmetropole Tijuana bilden
       und der Wind über Hügel mit sonnengebleichtem Steppengras pfeift.
       
       Don Luis von der selbst organisierten Gemeindeverwaltung redet nicht gern
       vom pozolero. Einmal muss er ihm selbst begegnet sein. Daran kann er sich
       persönlich kaum erinnern. Aber einem Santiago Meza López hat er 2003 ein
       Gelände überschrieben, unweit seines eigenen Hauses. Damals brachen die
       Narcos in die auseinanderfallenden Sozialstrukturen ein. Das in Tijuana
       operierende Kartell der Brüder Arellano Félix erwarb Grundstücke,
       rekrutierte Jugendliche und verkaufte Drogen. Maclovio Rojas galt bald als
       Hotspot des Drogenschmuggels über die nahe Grenze, und das Militär begann
       Patrouillen zu fahren.
       
       Direkte Nachbarn Santiago Mezas ahnten, dass es sich um ein sogenanntes
       Sicherheitshaus der Narcos handelte, wo Waffen und Drogen gelagert werden.
       Anwohner erinnern sich, dass nachts Geländewagen mit verdunkelten Scheiben
       vorfuhren. Meza López ließ Leichen für alle verschwinden, die den gelernten
       Maurer dafür bezahlten. Zunächst für das Tijuanakartell, später für das an
       Territorium gewinnende Sinaloakartell. Auch Polizei- und Militärautos
       wurden vor seiner Tür gesichtet. Über kleiner Flamme ließ er die Körper
       einen Tag lang in Natronlauge kochen. Doña Rebeca glaubt, dass einige
       seiner Opfer noch am Leben waren. Die mexikanische Miss Marple hat sich
       umgeschaut in den Gemäuern. In einem Hinterraum gebe es Eisenringe in den
       Wänden, sagt sie schaudernd, wie um Rinder oder Pferde – oder eben Menschen
       anzuketten. Und Tote, die müsse man doch nicht festbinden.
       
       ## Distanzierte Nachbarn
       
       Die Beziehung zwischen Müttern und Anwohnern ist bemüht. Die Gemeinde
       überschrieb der Organisation der Familienangehörigen in Anerkennung ihres
       Schmerzes das Gelände, um eine Gedenkstätte zu errichten. Auch Kinder und
       Erwachsene aus Maclovio Rojas sind an der kollektiven Aufarbeitung an
       diesem Ort beteiligt. Und doch bleibt das Verhältnis distanziert. Manchmal
       formulieren die Familienangehörigen leise und vorsichtig ihre Ansicht:
       „Bitte schweigt nicht noch einmal, wenn so etwas passiert!“ Doch Schweigen
       hat sich im gewaltzersetzten mexikanischen Norden zu einer
       Überlebensstrategie entwickelt.
       
       „Wir sind alle Opfer des Drogenkrieges“, erklärt Sandra Ruelas, Vorsitzende
       der Organisation „Vereint für die Verschwundenen von Baja California“. Ihr
       Sohn verschwand vor sieben Jahren, 24 war er damals. Diese Generation sei
       Opfer eines Krieges gegen die Armen und mit den Armen: Bei Militär und
       Kartellen seien sie Kanonenfutter und füllten die Gefängnisse eines
       Unrechtsstaates. Doch Sandra Ruelas vom Angehörigenkomitee und der
       sonnengegerbte Gemeindesekretär Luis Alberto Castro haben eines gemein: den
       Glauben an eine bessere Zukunft. Und daran, dass die Jugend gefördert
       werden muss.
       
       So gibt es heute Foto-, Film-, HipHop- und Graffiti-Workshops auf dem
       ehemaligen Gelände des Suppenkochs. Dort, wo ein verfallenes
       Ziegelsteingebäude mit Wänden voller gesprayter Tags und zerschlissener
       Suchanzeigen von Verschwundenen steht. Vor dem Tor lässt eine Gruppe Kinder
       an einem Abgrund Drachen steigen. Ein verfallener Hahnenstall, die Gallera,
       die dem Ort ihren Namen gibt, ist in kräftigem Pink gestrichen und mit
       schwarzen Stencils verziert. „Was ist hier passiert?“, fragen die
       Schriftzeichen. Ruinen, die von einer klandestinen Struktur der Auslöschung
       zeugen. Entworfen und errichtet, um Identität und Erinnerung an die Opfer
       auszulöschen.
       
       „Gewaltsames Verschwindenlassen stellt ein Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit dar“, erklärt Lilian Paola Ovalle. Die Psychologin von der
       Autonomen Universität von Baja California unterstützt die Anwohner und
       Angehörigen in ihrem Vorhaben, den Ort des Grauens in einen Ort der
       Hoffnung zu verwandeln. „Erinnerung, Wiederaufbau, Versöhnung“ sind die
       Schlagwörter, die das Projekt auf Spanisch in den Anfangsbuchstaben „RECO“
       vereint.
       
       Die Kolumbianerin Ovalle hofft, dass die Gedenkstellen- und
       Museumsinitiative dazu beitragen kann, die Gesellschaft Tijuanas nach den
       Jahren der Gewalt gesunden zu lassen. Auf den Zementböden, die die
       unterirdischen Tanks versiegelt haben, wurden Mosaiken aus bunten Fliesen-
       und Spiegelscherben gelegt. „Es riecht nicht mehr nach Tod“, sagt sie
       erleichtert. Es sei furchtbar gewesen, als die Tanks geöffnet wurden. Ein
       beißender, ekelerregender Gestank nach Gift und Verwesung.
       
       ## „Ein guter Junge“
       
       Das RECO ist ein ambitioniertes Pilotprojekt in einem von Drogenhandel und
       Korruption zersetzten Land. Allein von offizieller Seite gelten über 26.000
       Menschen als verschwunden. Wie viele es tatsächlich sind, das kann nur
       geschätzt werden. Hinter der vorherrschenden Straflosigkeit steht die
       Verschleierung von Verbrechen mit staatlicher Beteiligung. Wie dies im
       Falle der vor einem Jahr gewaltsam verschleppten 43 Studenten von
       Ayotzinapa so deutlich geworden ist.
       
       „Regierung und Narcos, das ist ein und dasselbe.“ Das sagt Sandra Ruelas.
       Das sagt auch Luis Castro. Diesbezüglich sind sich Familienangehörige wie
       Anwohner einig. Dass der Drogenkrieg in Mexiko nicht stattfindet, um den
       Handel generell zu unterbinden, sondern vielmehr seine Gewinne auf
       regierungsnahe Machtmonopole zu konzentrieren, ist mittlerweile ein offenes
       Geheimnis. Die Narcos haben dabei eine Brutalität und Kaltblütigkeit
       entwickelt, die die gesamte Region erschüttert.
       
       Santiago Meza, der „Suppenkoch“, stellt ein Rädchen im System dar. Seine
       Mutter, eine Frau aus einfachen Verhältnissen, gab gegenüber
       Zeitungsreportern an, dass er immer ein guter Sohn gewesen sei, der Geld
       nach Hause schickte. Ein Nachbarjunge, heute ein Künstler mit grauem
       Kaiserbart, erinnert sich, dass er ein streitsüchtiger sadistischer Kerl
       gewesen sei, dieser Santiago, der Fluch der Straße.
       
       In den Ausstellungshallen der Kulturwissenschaftlichen Universitätsfakultät
       von Mexicali erinnern zwei dezent weiße zusammengeschweißte Fässer an die
       entmenschlichte Arbeit des Santiago Meza. Doña Rebeca hat im Nebenraum
       ihrem Sohn Francisco einen farbenfrohen, detailreichen Altar gebaut. So
       einen, wie er oft zum Tag der Toten in ganz Mexiko in Familienhäusern
       errichtet wird, um der Verstorbenen, ihres Lebens und ihrer persönlichen
       Vorlieben zu gedenken. Eine kleine Miniaturszene auf dem Altar zeigt eine
       Beerdigung. „Eine Beerdigung, wie mein Sohn sie niemals haben konnte“, sagt
       Doña Rebeca entrückt.
       
       4 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kathrin Zeiske
       
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