# taz.de -- Liberation Route: Reise in eine fremde Welt
       
       > Eine Gedenkroute zur Befreiung von der Nazi-Herrschaft: Schlaglichter aus
       > Rotterdam, Seeland, Den Bosch und Arnheim.
       
 (IMG) Bild: US-Truppen erreichen das belgische Dorf Eben-Emael im September 1944.
       
       Rotterdam ist anders. Anders als die benachbarten niederländischen Städte,
       anders vor allem als die pittoreske Hauptstadt Amsterdam mit ihren
       Bürgerhäusern und historischen Grachten. Das liegt am Zweiten Weltkrieg, an
       der Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe im Mai 1940.
       
       Der nationalsozialistische Überfall der Niederlande zielte auf den größten
       Hafen Westeuropas. Das Zentrum von Rotterdam wurde im Bombenhagel und den
       nachfolgenden Bränden fast vollständig zerstört. Bei einem Spaziergang
       durch die Innenstadt ist noch heute am Alter der Gebäude genau erkennbar,
       wo das Feuer wütete.
       
       Nachts markieren Leuchten, eingelassen im Boden, die Umrisse des zerstörten
       Areals – allerdings erst seit ein paar Jahren. Denn lange Zeit stand in
       Rotterdam nicht das Gedenken an den Krieg im Vordergrund, sondern der
       radikale Neuanfang. In den 1950er Jahren bauten die Planer – wie an vielen
       Orten in Deutschland – eine autogerechte Stadt, die Wohnen und Arbeiten
       trennen wollte.
       
       Zwischen Hauptbahnhof und Neuer Maas entstand eine große Fußgängerzone, die
       erste ihrer Art in Europa. Ein Touristenmagnet aber war die zweitgrößte
       Stadt der Niederlande nie. Sie galt als unattraktiv, stand stets im
       Schatten von Amsterdam, Delft oder Leiden. In den letzten Jahrzehnten hat
       sich das geändert. Rotterdam entwickelte sich zu einer amerikanisch
       anmutenden Metropole – und zu einem Mekka des zeitgenössischen Bauens.
       
       Vor allem die Erasmusbrücke mit dem Wilhelminapier am südlichen Ende, der
       Leuvehaven mit seinen avantgardistischen Hochhäusern und der zum
       Szeneviertel avancierte ehemalige Rotlichtbezirk Katendrecht symbolisieren
       den Wandel. Im Schnellboot schippern wir mit einem normalen
       Nahverkehrsticket über die Maas in Richtung Nordsee. Auf einer ehemaligen
       Werft, inzwischen eine Art Kreativkai, läuft die Ausstellung „De Aanval“
       (Der Angriff), die die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg umfassend
       dokumentiert.
       
       ## Die Route der westlichen Aliierten
       
       Rotterdam ist der Startpunkt unserer Reise auf der „Liberation Route
       Europe“ – und gehört eigentlich gar nicht dazu. Denn der Kern dieses sich
       ständig erweiternden Projektes ist, wie der Name andeutet, die Befreiung
       von der Nazi-Herrschaft in den Jahren 1944 und 1945. Die Route verbindet
       die wichtigsten Regionen, die die westlichen Alliierten von Südengland aus
       nach der Landung in der Normandie über Frankreich, Belgien und die
       Niederlande nach Berlin durchquerten.
       
       Unterwegs können die Reisenden Museen und Gedenkstätten besuchen, an
       Hunderten von Orten Filme anschauen oder an „Audiospots“ zeitgenössische
       Originaltöne hören. Träger der „Liberation Route“ ist eine Stiftung, die
       mit Regierungsorganisationen, Universitäten, Museumsmachern,
       Veteranenverbänden und Reiseveranstaltern zusammenarbeitet.
       
       In Nieuwdorp auf Seeland treffen wir Kees Straas. In mühsamer
       ehrenamtlicher Kleinarbeit haben er und seine Helfer hier ein
       „Bevrijdingsmuseum“ aufgebaut. Die Ausstellung in einem alten Bauernhof
       erinnert an die in Deutschland weitgehend unbekannte „Schlacht um die
       Schelde“. In den erbitterten Auseinandersetzungen Ende 1944, in dem weite
       Landstrich durch Bombenangriffe auf Deiche überflutet wurden, ging es um
       den Wasserweg zum belgischen Hafen Antwerpen. Auf die Idee mit dem Museum
       sei er gekommen, erzählt Straas, „als ich den Helm eines kanadischen
       Soldaten und wenig später das Kreuz für einen Toten entdeckte“.
       
       ## Die unbekannte Schlacht
       
       In dieser von vielen deutschen Urlaubern besuchten Region kämpften vor
       allem Einheiten aus Kanada. Die Verbindung zu dem nordamerikanischen Staat
       war im Zweiten Weltkrieg besonders eng, Teile des niederländischen
       Königshauses lebten damals in Ottawa. Die Kleinstadt Bergen op Zoom, wo
       sich der strategisch wichtige „Brabantse Wal“ an der Eingangspforte zu den
       seeländischen (Halb-)Inseln leicht erhebt, veranstaltet in Erinnerung daran
       regelmäßige „Canadays“ – eine aus deutscher Perspektive skurril anmutende
       Mischung aus militärischer Zeremonie und Volksfest.
       
       Wir fahren hundert Kilometer weiter östlich in das Landesinnere, in die
       Provinzhauptstadt Hertogenbosch, die die Niederländer kurz Den Bosch
       nennen. Hier liegt eine Gedenkstätte, die viel weniger bekannt ist als etwa
       das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, aber neben dem jüdischen Durchgangslager
       Westerbork eine der dunkelsten Seiten der niederländischen Geschichte im
       Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Das Camp Vught, in dem die
       Nationalsozialisten (und ihre einheimischen Kollaborateure) 50.000
       Widerstandskämpfer und 12.000 Juden interniert hatten, wurde als erstes
       westeuropäisches Konzentrationslager im Oktober 1944 befreit.
       
       ## Blonder Junge am Badesee
       
       Ein historisches Foto der Ausstellung zeigt einen blonden Jungen am Strand
       eines Sees in der unmittelbaren Umgebung, im Hintergrund sind weitere
       Badegäste zu sehen. „Vermutlich handelt es sich um ein deutsches Kind, und
       die anderen Personen sind SS-Offiziere und ihre Frauen“, sagt Jeroen von
       den Eijnde. Der Direktor der Gedenkstätte in Vught ist in der Nähe des
       Lagers aufgewachsen. Er erinnert sich: „Noch in den 1960er Jahren hieß
       diese Badestelle bei den Einwohnern von Den Bosch ,Der deutsche Strand‘.“
       Das Baden im See war dem Wachpersonal vorbehalten, Einheimische hatten
       keinen Zutritt
       
       Die bei weitem bekannteste Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg in den
       Niederlanden ist die Schlacht um Arnheim. Im Herbst 1944 versuchten
       alliierte Truppen, von Eindhoven aus nach Norden vorzurücken und die
       wichtige Rheinbrücke von Arnheim einzunehmen. Von hier sind es nur wenige
       Kilometer bis zum deutschen Emmerich; der Weg in das kriegswichtige
       Ruhrgebiet wäre frei gewesen. Doch die 1977 verfilmte „Operation Market
       Garden“ scheiterte. Das verzögerte das Ende des Zweiten Weltkriegs um ein
       halbes Jahr, was Millionen weitere Opfer auf beiden Seiten kostete.
       
       Die Brücke von Arnheim 
       
       Das „Airborne Museum“ von Oosterbeek, untergebracht in der Villa
       Hartenstein in einem bürgerlichen Vorort von Arnheim, dokumentiert diesen
       Kampf umfassend. Britische und polnische Fallschirmjäger landeten zu
       Tausenden in der Umgebung, verzeichneten anfangs auch militärische Erfolge,
       unterschätzten aber die deutsche Gegenwehr. Der Wehrmacht war es gelungen,
       SS-Divisionen aus der Schelde-Region rechtzeitig zurückzuziehen. Diese
       verstärkten die Verbände am Niederrhein und verteidigten erbittert ihre
       Position.
       
       Nach wochenlangen Kämpfen mussten sich die Alliierten in das nunmehr
       immerhin befreite Nimwegen zurückziehen. Die Stadt Arnheim wurde
       vollständig evakuiert und von den Deutschen komplett geplündert. Klaviere,
       Kunst, Möbel, Gebrauchsgegenstände: Mit einer immer noch perfekt
       funktionierenden Logistik schafften die Nazi-Besatzer alles, was irgendwie
       wertvoll oder brauchbar war, ins „Reich“.
       
       Nach der Befreiung, die erst im April 1945 gelang, fanden die
       zurückgekehrten Bewohner nur noch leergeräumte Ruinen vor. Entschädigung
       hat der deutsche Staat für diesen gigantischen Raubzug nie gezahlt. Obwohl
       Arnheim so nah an der deutschen Grenze liegt, kehren die Bewohner ihren
       Nachbarn eher den Rücken zu, schauen Richtung Atlantik.
       
       ## Irritierender Militärkult
       
       Deutlich wird das jedes Jahr im September, wenn in einer touristisch
       beworbenen Großveranstaltung am „Airborne plaats“, direkt unterhalb der
       Brücke, der legendären Schlacht gedacht wird. Nahezu jedes Geschäft in der
       Innenstadt ist dann geschmückt mit britischen Fahnen, die Niederländer
       danken ihren Befreiern mit Parade, Konzert und Feuerwerk über dem Rhein.
       
       Auf deutsche Beobachter wirkt dieser ungebrochene Militärkult wie aus einer
       fremden Welt. Festivals wie die Arnheimer „Bridge to Liberation Experience“
       machen eindrucksvoll klar, warum Soldaten anderswo ein so viel positiveres
       Image haben. Zeitschriften wie Britain at War, die jenseits des Kanals noch
       nach Jahrzehnten jubelnd über die (befreienden) Erfolge ihrer Armee im
       Weltkrieg berichten, würden hierzulande sofort unter Nazi-Verdacht
       gestellt. So ist es vielleicht kein Zufall, dass die Kooperation mit den
       deutschen Partnern der „Liberation Route Europe“ eher schleppend
       vorankommt.
       
       6 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gesterkamp
       
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