# taz.de -- Syriza-Regierung in Griechenland: Das verflixte erste Jahr
       
       > Der Wahlsieg von Alexis Tsipras sollte ein Neubeginn sein. Was hat sich
       > verändert? Wir haben vier Griechen begleitet.
       
 (IMG) Bild: Kein Bock auf Sparmaßnahmen: Protest in Athen, November 2015.
       
       Es ist schon kurz vor Mitternacht, als Alexis Tsipras in das rötliche Licht
       der Bühne tritt. Auf dem großen Platz vor der Athener Universität drängen
       sich Tausende Menschen. Der anschwellende Jubel trägt die Nachricht bis in
       die letzte Reihe: Jetzt spricht Tsipras.
       
       „Heute haben die Griechen Geschichte geschrieben. Hoffnung hat Geschichte
       geschrieben“, sagt er.
       
       So begann das Griechenlandjahr 2015 am 25. Januar. Synaspismos
       Rizospastikis Aristeras, – übersetzt: Koalition der radikalen Linken, kurz
       Syriza – gewinnt die Parlamentswahlen mit 36,5 Prozent der Stimmen. Am
       nächsten Tag legt der ehemalige Bauunternehmer Alexis Tsipras seinen
       Amtseid als Ministerpräsident ab. „Der Geisterfahrer. Europas Albtraum“,
       titelt der Spiegel kurz darauf. Es beginnt ein Jahr mit 17-stündigen
       Verhandlungen über Hilfspakete, mit Tagen, an denen in Athen kein Geld aus
       den Automaten kommt. Mit einer Volksabstimmung, einer Neuwahl.
       
       Es war das Jahr, in dem Europa auf Griechenland schaute. Mit Besorgnis, mit
       Neugierde. Welchen Unterschied macht es, wer an der Macht ist? Was kann
       eine Regierung im Alltag verändern?
       
       Wir haben vier Menschen in Athen durch dieses Jahr begleitet. Die Putzfrau
       Frosso Arvanitaki, den Arzt Stefanos Pappas, den Möbelverkäufer Thanassis
       Anagnostopoulos und die Abgeordnete Elena Psarrea.
       
       Im Herbst wird einer von ihnen, der im Januar noch für Syriza um Stimmen
       kämpfte, seinen Wahlzettel mit einem Strich ungültig machen. Eine andere
       wird gegen die Partei auf die Straße gehen, für die sie zu Beginn des
       Jahres ins Parlament einzog. Eine Dritte wiederum bekommt auf Anweisung des
       Regierungschefs ihren Job zurück. Und einer, für den im Januar eine
       Katastrophe begann, wird froh sein, dass gegen Ende des Jahres langsam Ruhe
       einkehrt.
       
       ## Winter
       
       Die Putzfrau. Obwohl sie seit über einem Jahr keine Stelle mehr hat, kommt
       Frosso Arvanitaki fast jeden Tag an ihren alten Arbeitsplatz – das
       Finanzministerium, einen Betonklotz im Zentrum von Athen. Früher trat sie
       durch die Glastür. Heute steht sie vor dem Eingang an einem Tisch mit
       Flyern und Ansteckern. Im September 2013 wurde ihr und ihren Kolleginnen
       gekündigt. Eine günstigere private Firma sollte ihre Arbeit machen. Ein
       paar Tage später taten sich einige der Frauen zusammen. Plakate mit roten,
       zum Victoryzeichen geformten Putzhandschuhen kleben nun an den
       Ministeriumsmauern, sie wurden zum Symbol des Widerstands gegen die
       Sparpolitik.
       
       Frosso Arvanitaki hat den Reißverschluss ihrer Winterjacke bis nach oben
       zugezogen. Sie ist 53 Jahre alt, ihre Augen hat sie mit schwarzem
       Kajalstift umrandet, in ihrem Nasenflügel glitzert ein winziges Piercing.
       „Tsipras wird uns helfen, unsere Jobs zurückzubekommen“, sagt sie. „Das hat
       er uns persönlich versprochen.“ Alexis Tsipras hatte die kämpfenden
       Putzfrauen vor der Wahl besucht, jeder einzelnen die Hand geschüttelt. „Ein
       guter Junge!“, sagt Arvanitaki.
       
       Der Wahlabend bei ihr zu Hause wurde zu einer Party, Gläser klirrten: Stin
       ijiá mas – prost! Auf Syriza! Endlich Hoffnung.
       
       Arvanitaki bekommt 300 Euro Arbeitslosenhilfe. Ihr Mann, der auf dem
       Busbahnhof gearbeitet hat, 1.000 Euro Rente. Diese wurde gerade um 300 Euro
       gekürzt. Ein Weißbrot kostet 80 Cent, ein Liter Milch 1,40 Euro, ein Kaffee
       in der Stadt 2 Euro. Vergangene Woche hat Arvanitaki sich bei einer
       privaten Reinigungsfirma vorgestellt. Die Empfangsdame musterte sie und
       sagte, nur schlanke Frauen unter 35 Jahren hätten hier eine Chance.
       
       Der Möbelverkäufer. „Accept failure as part of the process“, steht auf
       Thanassis Anagnostopoulos’ T-Shirt. Scheitern gehört dazu. Er ist 37, ein
       kräftiger Typ mit Vollbart. In seinem Athener Möbelladen steht er zwischen
       Stehlampen, Korbstühlen und Polsterliegen.
       
       „Ich bin ganz zuversichtlich“, sagt er. Anagnostopoulos ist
       Syriza-Mitglied. Mit anderen aus der Partei organisiert er Diskussionsforen
       und Konzerte.
       
       Nach der Schule arbeitete Anagnostopoulos acht Jahre lang als Kellner, dann
       übernahm er das Möbelgeschäft seines Vaters. Drei Jahrzehnte hatte der
       Laden Gewinne gebracht. Dann kam die Wirtschaftskrise. Zwischen 2010 und
       2012 halbierten sich die Einnahmen. Bis 2014 gingen sie noch einmal um 75
       Prozent zurück. Möbel könnten die Leute entbehren, sagt Anagnostopoulos.
       
       Thanassis Anagnostopoulos ist seit fast vier Jahren nicht mehr
       krankenversichert. Seine Frau arbeitet als Bankangestellte, so ist
       zumindest die gemeinsame dreijährige Tochter mitversichert. Das Geld reicht
       für das Nötigste: Strom, Benzin, Supermarkt.
       
       „Ich glaube nicht, dass diese Regierung alles halten kann, was sie
       verspricht. Aber wenigstens etwas“, sagt er. Einen Gesetzentwurf konnte
       Syriza schon durchsetzen: Nicht gezahlte Steuern können in 100 Raten
       nachgezahlt werden, straffrei. Auch Anagnostopoulos macht davon Gebrauch.
       
       „Plötzlich versuchen die Leute sich gegenüber dem Staat – der sonst immer
       der Feind war – korrekt zu verhalten, schreiben Rechnungen“, sagt er. „Sie
       versuchen, die Regierung zu unterstützen.“ Es sei ein Vertrauensvorschuss.
       
       ## Frühling
       
       Die Abgeordnete. Elena Psarrea schlängelt sich auf dem Bürgersteig zwischen
       Passanten und falsch geparkten Autos hindurch. Eine zierliche Frau, 32
       Jahre alt, schmales Gesicht, Pagenschnitt. Sie ist auf dem Weg zu einem
       Treffen , um ein Haus für Frauenorganisationen zu gründen.
       
       Elena Psarrea sitzt seit Januar im Parlament, sie ist Feministin, und
       gehört zum linken Flügel von Syriza. Sie kommt aus einer
       Antikriegsinitiative, einer der vielen Bewegungen, aus denen Syriza 2012
       hervorging. Früher gab Psarrea Unterricht für Migranten, jetzt hat sie ein
       Büro in der Nähe des Parlaments. Zwei Assistenten werden bezahlt, ein
       Freund arbeitet ehrenamtlich.
       
       Ende Januar hatte Finanzminister Gianis Varoufakis der Troika die
       Zusammenarbeit aufgekündigt. Das Hilfsprogramm für Griechenland läuft aus.
       Die griechische Regierung verhandelt jetzt. Heute hat Tsipras fünf Stunden
       mit Psarrea und den anderen Abgeordneten über die Verhandlungen gesprochen.
       Um die Gespräche mit den Gläubigern nicht zu gefährden, bleiben die
       Vorschläge weitgehend geheim. Besprochen wird nur die Strategie.
       
       Elena Psarrea geht vorbei an Wänden voller Graffiti und Plakate für
       Konzerte und Politversammlungen. Am Eingang des Theaters, in dem die
       Veranstaltung beginnt, wird sie von vielen begrüßt. Die Feministinnen haben
       jetzt eine Abgeordnete. Geschlechtergerechtigkeit hat es als Thema
       allerdings schwer. Von 41 Ministern und Vizeministern sind nur sechs
       Frauen.
       
       Der Möbelverkäufer. Thanassis Anagnostopoulos lehnt an der Eingangstür
       seines Geschäfts und zieht kräftig an seiner selbst gedrehten Zigarette. Es
       laufen wieder mehr Geschäfte schwarz, ist ihm aufgefallen. Von wegen
       Steuern zahlen, die Regierung unterstützen. Die Zeiten sind eben weiter
       hart. Es komme jetzt auf die Verhandlungen an.
       
       Zugeständnisse an die Gläubiger könnte er nicht akzeptieren sagt
       Anagnostopoulos. „Dann trete ich aus der Partei aus.“ Er schnippt den
       Zigarettenstummel auf die Straße.
       
       Der Arzt. Stefanos Pappas kommt im OP-Kittel in sein Büro im Krankenhaus
       gerannt. „Entschuldigung! Ich musste noch einen Kaiserschnitt machen“, sagt
       er und eilt weiter. „Kaffee? Tee? Wasser? Ja? Nein?“ Schon läuft er zur
       Cafeteria. „Die Lage wird sich verschlimmern“, sagt er. Die Situation in
       der Klinik? Die Politik? Bevor er antworten kann, kommt ein Mann und drückt
       seine Hand. „Wie geht es dem Baby?“, fragt Pappas.
       
       Pappas ist 57 Jahre alt, er trägt eine Brille, die er manchmal auf seine
       Glatze schiebt. Er ist Frauenarzt. Nach dem Studium war er in England und
       Italien. Er kam zurück. „Ich habe Grundstücke hier, ich habe mein Leben,
       ein gutes Leben“, sagt er.
       
       Pappas hat mehrere Jobs. In einem staatlichen Gesundheitszentrum kümmert er
       sich um HIV-positive Schwangere. An anderen Tagen betreut er Geburten in
       öffentlichen Krankenhäusern. Jeden Abend empfängt er auch Patienten in
       seiner Privatpraxis. Das sind 18 Stunden Arbeit am Tag, sagt er.
       
       Die politische Entwicklung verfolgt Pappas mit Sorge. Bis zum Frühling
       mussten die Patienten in Krankenhäusern 5 Euro Praxisgebühr zahlen. Nun
       wurde sie gestrichen. Weil Geld fehle, werde jetzt alles in letzter Minute
       bestellt, selbst Schutzhandschuhe oder Fäden zum Nähen. „Wer gute Ärzte
       will, muss dafür zahlen“, sagt er. Ein Vollzeitjob in einem Krankenhaus
       bringe ihm etwa 1.600 Euro pro Monat. In England könne er 7.000 Euro
       verdienen.
       
       Die Regierung müsse sich entscheiden: Kommunismus oder Kapitalismus. „Die
       griechische Gesellschaft ist kapitalistisch. Sie hat dem Staat nie
       getraut.“ Er plädiert für den freien Markt. Für Privatisierung einiger
       Krankenhäuser. Hier könnten Patienten für bessere Bedingungen mehr zahlen.
       Ganz offiziell. Wenn jemand eine bessere Behandlung will, läuft das schon
       heute gegen Bezahlung: mit Schmiergeld, fakelaki. Bei einer Geburt etwa
       können es bis zu 1.500 Euro sein.
       
       Die Abgeordnete. „Es ist die Zeit der Wahrheit für Syriza“, steht auf dem
       Plakat. Der Konferenzraum im Haus des Athener Journalistenverbandes ist
       überfüllt, Leute drücken sich an die holzgetäfelten Wände. Elena Psarrea
       steht im Gedränge.
       
       Am Morgen hat sie die Reformvorschlägen des EU-Kommissionspräsidenten in
       der Zeitung gelesen. „Ich glaube, dass wir uns einem Abkommen nähern”, sagt
       sie. Schon seit einiger Zeit gibt es Kritik an Tsipras: Er treffe mehr und
       mehr Entscheidungen mit einem kleinen Kreis von Beratern.
       
       Auf der Bühne sitzen vier Politiker des Zentralkomitees von Syriza. „Wir
       müssen aufhören, die Schulden zurückzuzahlen“, sagt einer der Redner.
       Applaus. „Wir müssen über einen Plan B nachdenken, falls wir aus der
       Eurozone austreten”, fordert eine andere. Noch mehr Applaus. Auch Elena
       Psarrea klatscht.
       
       ## Sommer
       
       Die Putzfrau. Seit Mai tritt Frosso Arvanitaki wieder durch die Glastür des
       Finanzministeriums. 600 Euro bekommt sie nun für eine volle Stelle. Weniger
       als vor der Entlassung.
       
       Zur Wiedereinstellung gab es eine kleine Party. Arvanitaki war nicht nach
       feiern. Sie hat zwei erwachsene Kinder, die beide seit längerer Zeit
       arbeitslos sind.
       
       Ihr Sohn schlägt sich seit Monaten ohne Vertrag als Sicherheitsmann durch.
       Er bekommt im Monat 320 Euro. Arvanitakis Tochter wohnt mit einer Freundin
       in einer WG, ihre Mitbewohnerin zahle die Miete allein, wenn es nicht
       anders gehe, und spendiere auch mal den Einkauf. „Die Kinder der Krise
       haben von uns gelernt, das Solidarität heute das Wichtigste ist“, sagt
       Arvanitaki.
       
       Arvanitakis Mann ist in der Zwischenzeit an Krebs erkrankt. Die
       Versicherung verschreibe ihm zwar die teuren Untersuchungen wie
       Kernspintomografie, aber die Wartelisten in den staatlichen Krankenhäusern
       sind lang. „Da wird man erst nach dem Tod untersucht“, sagt sie und lacht
       bitter.
       
       Um sich eine Privatklinik leisten zu können, haben sie vor Monaten
       aufgehört das Darlehen für ihre Wohnung zurückzuzahlen. Bisher hat sich die
       Bank nicht gemeldet.
       
       Der Arzt. Es ist halb zehn an einem Juniabend, und im Wartezimmer von
       Stefanos Pappas’ Praxis sitzen noch sieben Leute. Pappas kommt herein, er
       bittet den nächsten Patienten zu sich. An den Wänden hängen orthodoxe
       Ikonen neben seinen Diplomurkunden.
       
       „Wenn ich es schaffe, um zehn fertig zu sein, dann ist es ein guter Tag”,
       sagt er. Es wird elf werden heute. Zeit zu essen.
       
       Bei einem Italiener stellt ein Kellner am Ende der Terrasse einen Tisch für
       ihn auf. Pappas winkt einer Frau zu. Dora Bakogianni war Außenministerin
       und ist jetzt Abgeordnete der Konservativen. Man kennt sich: dieselben
       Restaurants, die Kinder auf denselben Schulen.
       
       Als er gerade mit Bakogiannis Mann spricht, hüpft ihm ein Mädchen in die
       Arme: „Papa!“ Seine zehnjährige Tochter fährt morgen nach England: zwei
       Wochen Sprachunterricht. „Es wird noch acht bis zehn Jahre dauern, ehe wir
       diese Krise hinter uns haben“, sagt Pappas. Er will die besten Chancen für
       seine Tochter.
       
       Seit einigen Tagen sind die Spannungen geradezu greifbar. Am Tag zuvor hat
       der Internationale Währungsfonds vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf bis
       zu 23 Prozent zu erhöhen. In der Nacht haben sich die Verhandlungsführer
       wieder ohne Ergebnis getrennt. Heute treffen sie sich wieder, seit Wochen
       geht es so. „Schlimm“, sagt Stefanos Pappas und stochert mit der Gabel in
       seinem Lachstartar.
       
       Die Abgeordnete. Es ist der 16. Juli, gestern hat das Parlament über die
       Einigung mit den Gläubigern abgestimmt – das dritte Memorandum ist auf dem
       Weg. Von den 149 Syriza-Abgeordneten haben 32 dagegen gestimmt, unter ihnen
       Elena Psarrea. Sie sitzt in einer Bar und kann zum ersten Mal ihre Empörung
       nicht verstecken. „Es war schrecklich. Wir hatten keine Zeit, über den
       Inhalt zu sprechen.“
       
       Ende Juni hatte Tsipras nach einer Kabinettssitzung eine Fernsehansprache
       gehalten, es war mitten in der Nacht. Links von ihm die Griechenlandflagge,
       rechts die der EU. Er kündigte ein Referendum über das neue Sparprogramm an
       und bat darum, die Kredite wenige Tage zu verlängern, damit das griechische
       Volk ohne Druck entscheiden könne. Schon in der Nacht bildeten sich
       Schlangen vor den Geldautomaten. Am Tag darauf lehnten die
       Eurofinanzminister eine Verlängerung des Rettungsprogramms ab.
       
       Regierungschef Tsipras warb für eine Ablehnung der Sparpläne. Fast 30.000
       demonstrierten in Athens Straßen für das Nein, 20.000 Ja-Anhänger kamen zum
       alten Olympiastadion zusammen. 61 Prozent der Griechen stimmten dann gegen
       das Sparprogramm.
       
       Nur eine Woche später kam Alexis Tsipras aus einer 17-stündigen Sitzung mit
       seinen europäischen Amtskollegen und hielt dennoch ein Abkommen in der
       Hand. Das hat das Parlament nun gebilligt.
       
       Psarrea ist eine der beiden Abgeordneten, die einen Aufstand innerhalb der
       Syriza begonnen haben. „Es gibt noch andere Möglichkeiten“, sagt sie. Sie
       ist dafür, die Banken zu verstaatlichen.
       
       Sie weiß nicht, wie es weitergehen wird mit der Partei. Heute hat sie sich
       wieder den ganzen Tag mit Leuten aus dem linken Flügel getroffen. Um noch
       irgendwas zu ändern.
       
       ## Herbst
       
       Der Möbelverkäufer. Als Thanassis Anagnostopoulos in der Nacht nach dem
       Referendum auf dem Syntagmaplatz mit vielen anderen das Nein feierte,
       spürte er noch einmal Zuversicht. Menschen hielten sich in den Armen,
       tanzten.
       
       Jetzt ist jede Euphorie verschwunden. „Die Regierung ist sehr weit von dem
       abgekommen, was sie nach der Regierungsübername verkündet hat“, sagt
       Anagnostopoulos.
       
       Er ist aus der Partei ausgetreten. Bei den Neuwahlen im September, die
       Tsipras durch seinen Rücktritt erzwungen hat, hat er ungültig gewählt. „Ich
       habe einen Strich über den Wahlzettel gezogen, denn ich fühle mich durch
       keine der Parteien vertreten“, sagt er. Vor Kurzem hat er sich zum
       Gitarrenunterricht angemeldet. „Ich gebe lieber 10 Euro für zwei
       Gitarrenstunden aus, als für die Banken zu sparen.“
       
       Die Putzfrau. Frosso Arvanitaki steht mit einem Kaffeebecher vor dem
       Finanzministerium, macht kurz Pause. Während der Proteste hatte ein Café um
       die Ecke einen Rabatt für die kämpfenden Putzfrauen eingeführt: Kaffee für
       1 Euro. Der Preis gilt immer noch. Ihre Liebe zu Syriza ist verflogen.
       
       Erst wollte Arvanitaki gar nicht zur Wahl gehen. Letztendlich habe sie doch
       noch einmal für Syriza gestimmt, „das weniger Schlechte vom Schlechten“.
       Sie hofft, dass Syriza zumindest einige Versprechen erfüllen kann, wenn sie
       mehr Zeit bekommt.
       
       Arvanitaki nimmt schnell den letzten Schluck und wirft den Becher in den
       Mülleimer. Dann verschwindet sie hinter der Glastür.
       
       Der Arzt. Stefanos Pappas kommt rennend in seinem Büro an. Es ist elf Uhr
       morgens an einem Freitag im Oktober, die blinkende Anzeigetafel im
       Empfangsraum des Krankenhauses zeigt, wie viele Patienten heute schon hier
       waren: 200.
       
       Pappas ist froh, dass die Vernunft langsam nach Athen zurückkehrt. Endlich
       eine Einigung mit den Gläubigern. Für ihn sind der Tsipras heute und der
       aus dem Januar zwei verschiedene Politiker. Papandréou, der ehemalige
       Premierminister der sozialdemokratischen Partei Pasok, habe auch einst
       links angefangen und sei immer mehr ins Zentrum gerückt. „Das Gleiche
       passiert jetzt.“
       
       Stefanos Pappas freut sich darüber, dass im Parlament wieder Ruhe ist. Die
       Opposition ist schwach, Entscheidungen werden schnell durchgepeitscht. Aber
       Pappas bleibt ungeduldig. „Tsipras muss sich beeilen.“
       
       Sein Telefon klingelt wieder. „Ich komme ja, ich komme.“ Kaiserschnitt.
       
       Die Abgeordnete. Seit der Neuwahl im September sitzt Elena Psarrea nicht
       mehr im Parlament. Sie ist jetzt arbeitslos, aber immer noch Politikerin.
       An diesem Novembertag wird das erste Mal seit der Neuwahl wieder zum
       Generalstreik aufgerufen, im Zentrum Athens sind Schulen und Museen
       geschlossen. Züge stehen still. Krankenhäuser nehmen nur Notfälle auf.
       
       Auf dem Banner neben Elena Psarrea steht: „Nein zu den Kürzungen“. Daneben
       ist eine schwarz-weiße Faust. Es ist das Symbol der Laiki Enotita, der
       Volkseinheit, Psarreas neuer Partei. Bei der Wahl scheiterten sie an der
       Dreiprozenthürde.
       
       Für sie war es der größte Fehler von Tsipras, einen Mittelweg zu suchen:
       „Er versuchte, die Schulden zurückzuzahlen und gleichzeitig unser
       Wahlprogramm umzusetzen. Aber ab irgendwann hat er aufgehört, unser
       Programm zu respektieren.“ Ihre Stimme wird von den Rufen der Demonstranten
       übertönt, 20.000 sind es inzwischen. „Nieder mit den Memoranden!“, rufen
       sie.
       
       Die Putzfrau. Der 2. Dezember ist ein warmer Tag, fast 20 Grad wird es
       mittags in Athen. Frosso Arvanitaki geht heute nicht zur Arbeit ins
       Finanzministerium. Die Gewerkschaften haben zum Generalstreik aufgerufen,
       dem zweiten innerhalb von drei Wochen. Wenn Arvanitaki ihr Fehlen als
       Streiktag angemeldet hätte, würde sie für die weggefallenen Arbeitsstunden
       nicht bezahlt. Das kann sie sich nicht leisten. Frosso Arvanitaki ist heute
       krank.
       
       7 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Stiévenard
 (DIR) Theodora Mavropoulos
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Syriza
 (DIR) Alexis Tsipras
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Grexit
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Yanis Varoufakis
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Wolfgang Schäuble
 (DIR) Eurozone
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
 (DIR) Schwerpunkt Krise in Griechenland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Hilfen für Griechenland: Sparen im Konjunktiv
       
       Wieder wird um Hilfen für Griechenland gestritten – und Deutschland verhält
       sich weiter wie ein Hegemon. Das ist gefährlich und schadet der EU.
       
 (DIR) Hilfsprogramm für Griechenland: In Athen droht eine neue Zitterpartie
       
       Die Gespräche über das Hilfsprogramm für den überschuldeten Staat sind
       vorläufig gescheitert. Tsipras fordert einen EU-Sondergipfel.
       
 (DIR) Ex-Finanzminister bei Blockupy: Eintritt frei für Varoufakis
       
       Der griechische Politiker will in Berlin eine neue linke Bewegung ausrufen
       – gegen 12 Euro Eintritt. Erst einmal besucht er Aktivisten.
       
 (DIR) Proteste gegen Rentenreformen: Generalstreik in Griechenland
       
       Bauern und Ärzte, Seeleute und Anwälte – sie alle sind vereint im Protest
       gegen die Rentenreform, die Teil des dritten Hilfsprogramms für
       Griechenland ist.
       
 (DIR) Ein Jahr Tsipras an der Macht: Der revolutionäre Seiltänzer
       
       Das Image von Alexis Tsipras ist ein Jahr nach seinem fulminanten Wahlsieg
       angekratzt. Trotzdem hat er bislang jede Politwende verkraftet.
       
 (DIR) Weltwirtschaftsforum in Davos: Schäuble fordert Marshallplan
       
       Europa soll die Nachbarländer Syriens unterstützen, damit Fluchtwillige
       dortbleiben. Deutschland würde zahlen – wenn andere mitmachen.
       
 (DIR) Kommentar Perspektiven der Eurozone: Front gegen Merkel
       
       Ökonomisch scheint die Eurozone stabilisiert, politisch ist sie labil wie
       nie zuvor. Die Südallianz gegen Deutschland könnte sich 2016 bilden.
       
 (DIR) Syriza-Politiker über Europas Linke: „Der einzige Kommunist im Dorf“
       
       Giorgos Chondros vom Syriza-Zentralkomitee über Podemos, neoliberale
       Chancen und die Lehren aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres.
       
 (DIR) Reformpaket in Griechenland: Die Regierungsmehrheit sitzt
       
       Griechenland kann mit einer weiteren Hilfsmilliarde aus Brüssel rechnen.
       Alle Abgeordneten der Links-Rechts-Regierung stimmten den Reformen am
       Dienstag zu.
       
 (DIR) Reformen in Griechenland: Parlament stimmt fürs Sparen
       
       Höhere Steuern auf Wein, weniger Schutz vor Zwangsversteigerungen: Alexis
       Tsipras bringt teils umstrittene Neuerungen durch.
       
 (DIR) Gewerkschaftsproteste in Griechenland: Generalstreik gegen Alexis Tsipras
       
       Erstmals wird der linke Regierungschef mit großen Protesten konfrontiert.
       Syriza ruft zum Arbeitskampf auf. Die Opposition wird immer lauter.
       
 (DIR) Abstimmung im griechischen Parlament: Tsipras gewinnt Vertrauensfrage
       
       Die Koalitionsregierung stimmte geschlossen für den griechischen
       Ministerpräsidenten. Es war die erste Vertrauensabstimmung seit der Neuwahl
       im September.
       
 (DIR) Nach der Parlamentswahl in Griechenland: Erneut ein Bündnis mit den Rechten
       
       Syriza hat eine überraschende Mehrheit erreicht. Alexis Tsipras verspricht
       „Hartnäckigkeit“ im Kampf gegen die Schuldenkrise.
       
 (DIR) Griechenland vor der Wahl: Die Wahl der Qual
       
       Ob Tsipras die Wahl gewinnt, ist noch unklar. Klar ist dagegen die lange
       Liste von Aufgaben, denen sich der Wahlgewinner sofort stellen muss.