# taz.de -- Kommentar Flüchtlingspolitik in Berlin: Das deutsche Baltimore > In Berlin herrscht Gleichgültigkeit. Der Bürgermeister regiert in der > Lageso-Krise wie Wowereit: Aussitzen, Nichtstun, Sündenböcke finden. (IMG) Bild: Gemütlich ist anders: Flüchtlinge vor dem Lageso. Berlin, so hat es kürzlich der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung festgestellt, erinnere in manchen Gegenden immer noch an Westberlin. Kurt Kister denkt wie viele Münchner und Hamburger: In Berlin, so glauben sie, sei immer noch vieles zu piefig, zu sehr Lichtenrade und Wilmersdorf, um eine vernünftige Hauptstadt zu sein. Deshalb habe Berlin weder einen anständigen Fußballklub noch einen Weltstadtflughafen – und bekäme auch sein Flüchtlingsamt Lageso nicht in den Griff. Aber der Vergleich ist falsch. Das Nachwendeberlin hat mehr mit Baltimore zu tun als mit den Stadtteilen Britz oder Buckow: der kriselnden Stadt aus der US-Serie „The Wire“, in dem die öffentlichen Institutionen zynisch geworden sind, weil kein Geld mehr da ist. In der vom Bürgermeister bis zum Polizeichef alle dafür kämpfen, die Statistiken zu frisieren statt die Schulen zu verbessern und die Kriminalitätsrate zu senken. Berlin hat sich seit Langem daran gewöhnt, dass die öffentliche Verwaltung nicht funktioniert, weil gespart wurde. Dass die Jobcenter reihenweise falsche Bescheide verschicken, sodass die Betroffenen die Sozialgerichte verstopfen. Dass es monatelang keinen Termin im Bürgeramt gibt, obwohl die Gesetze eine Anmeldung innerhalb von zwei Wochen vorschreiben. Dass sich Bürger bei Glatteis Arme und Beine brechen, weil die Wege nicht gestreut werden. Berlins Landespolitik hat auf Probleme nicht mit Lösungen, sondern mit zynischen Sprüchen reagiert. „Berlin ist nicht Haiti“, lautete die Antwort des früheren Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit in der Glatteiskrise. Wer so redet, sät einen Geist der Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit in der Stadt. Wowereit fiel ihm in der Flughafenkrise schließlich selbst zum Opfer. Der neue Regierende Bürgermeister Michael Müller wirkt sachorientierter, reagierte in der Lageso-Krise aber wie sein Vorgänger: Aussitzen, Nichtstun, Sündenböcke finden. Statt wie Kanzlerin Angela Merkel die Flüchtlingsfrage zur Chefsache zu machen, tat er so, als seien CDU-Sozialsenator Mario Czaja und der jetzt zurückgetretene Lageso-Präsident Franz Allert alleine schuld an den Zuständen. Statt selbst für ausreichend Personal zu sorgen, nutzte er das Thema zur Profilierung gegenüber der CDU. Müllers Hoffnung ist, bei der Abgeordnetenhauswahl im Herbst 2016 eine schwarz-grüne Mehrheit zu verhindern. Die Sozialdemokraten sitzen im nächsten Herbst seit 27 Jahren ununterbrochen in der Landesregierung. Auch das fördert die Schnoddrigkeit der Berliner SPD. 10 Dec 2015 ## AUTOREN (DIR) Martin Reeh ## TAGS (DIR) Schwerpunkt Flucht (DIR) Lageso (DIR) SPD Berlin (DIR) Mario Czaja (DIR) Franz Allert (DIR) Schwerpunkt Flucht (DIR) Schwerpunkt Flucht (DIR) Mario Czaja (DIR) Schwerpunkt Flucht (DIR) Flüchtlinge (DIR) Flüchtlinge (DIR) Berliner Senat ## ARTIKEL ZUM THEMA (DIR) Debatte Flüchtlinge: Die Schwester der Ökobewegung Es gibt wieder Lager in Deutschland – und Entsetzen darüber. Wie die neu Ankommenden neoliberale Gewissheiten untergraben. (DIR) Gesammelte Fluchtgeschichten: Station Dornach Unser Autor übersetzt in einer Notunterkunft. Oft ist er der Erste, mit dem traumatisierte Flüchtlinge über ihre Erlebnisse sprechen. (DIR) Das war die Woche in Berlin I: Chefsache – aber ohne echten Chef Der Chef des Landesamts für Gesundheit muss gehen. Doch den Flüchtlingen wird das wenig bringen. (DIR) Betreuung von Flüchtlingen in Bayern: Geht doch In München ist der Empfang von Flüchtlingen, anders als in Berlin, gut geregelt. Ein neues Zentrum steht immer offen – rund um die Uhr. (DIR) Allert-Rücktritt: Bauernopfer oder genialer Coup Der Rücktritt von Lageso-Chef Franz Allert verstärkt den Druck auf Sozialsenator Mario Czaja (CDU) - und in der Koalition. Auch das geplante Landesamt für Flüchtlinge verliert Zustimmung. (DIR) Flüchtlingschaos in Berlin: Behördenchef zurückgetreten Der Leiter des Berliner Lageso ist zurückgetreten. Das Versagen seiner Behörde im Umgang mit Flüchtlingen ist seit Monaten im Gespräch. (DIR) Müller seit einem Jahr Regierungschef: Weit mehr als ein Wowereit-Ersatz Der heutige Donnerstag ist Michael Müllers 365. Tag als Regierender Bürgermeister. Flughafen und Finanzen schienen zum Start die Themen – nun überdeckt das Flüchtlingsthema alles