# taz.de -- Eine Begegnung mit Lemmy Kilmister: Am Ende auf das Innerste konzentriert
       
       > Auf alten Aufnahmen kann man sehen, wie kraftstrotzend Lemmy Kilmister
       > war und wie sexy. Im November war er eher fragil.
       
 (IMG) Bild: „Mir waren 30 Minuten zugesagt worden, und ich war nervös.“
       
       Als ich reinkam, saß Lemmy in der kahlen, ziemlich leeren Garderobe der
       Ludwigsburger Mehrzweckhalle an einem Tisch voller Kram, darunter zwei
       kleine Häufchen mit 50-Euro-Scheinen, in der Mitte gefaltet. Ich stellte
       mir vor, das ist das vertraglich vereinbarte Handgeld, das bereit liegt für
       den Fall, dass Lemmy eine Runde in der Stadt drehen will. Lemmy sah aber
       nicht danach aus, als würde er sich bewegen wollen. Er saß still an seinem
       Tablet. Ich fragte ihn, was er spiele. Er sagte: „Angry Birds II“.
       
       Ich traf ihn am 25. November, fast genau einen Monat vor seinem 70.
       Geburtstag, vor dem Konzert. Mir waren 30 Minuten zugesagt worden, und ich
       war nervös. Die Medien haben in den vergangenen Jahren angefangen, Lemmy
       vom Status des Underdogs in den Status der Legende zu erheben, weil er
       immer er selbst geblieben ist. Für mich war Lemmy einer der großen Künstler
       des 20. Jahrhunderts.
       
       Er hatte mal gesagt, Motörhead sei Musik für das Zeitalter der
       Massenvernichtung. Damit hat er das Programm seiner Band exakt umrissen.
       Motörhead waren laut und aggressiv, sie blendeten ihr Publikum mit
       Suchscheinwerfern und hängten den Nachbau einer Heinkel He 111, des
       deutschen Standardbombers aus dem Zweiten Weltkrieg, über ihre Bühne.
       Früher war Lemmy hin und wieder in SS-Uniform aufgetreten, und auf jedem
       Album gab es mindestens einen Song über den Krieg. „Krieg ist ein griffiges
       Thema“, sagte Lemmy. „Irgendwo findet immer einer statt.“ Die Uniform stehe
       für nichts, das er möge. Sie sehe so aus, wie Rock ’n’ Roll aussehen müsse:
       fies.
       
       Als ich ihm erzählte, dass ich auf einem Konzert seines Rockabilly-Trios
       Head Cat einen Typen gesehen hatte, der in Fraktur das Motto „Ein Volk, ein
       Reich, ein Lemmy“ auf seinem T-Shirt stehen hatte, lachte er. Das war der
       subversive Humor, den er mochte. Wenn er lachte, leuchteten seine Augen
       warm, von tief drinnen.
       
       ## Manchmal ging es um Sex und Tod zugleich
       
       Im Zentrum von Motörhead stand Lemmys pulsierender Bass, Waffe und Phallus
       zugleich. Neben nüchternen Songs über die Gewalttätigkeit des Homo sapiens
       ging es oft um Sex. Manchmal ging es um Sex und Tod zugleich, wie in „Sex
       and Death“. „Stimmt“, sagte Lemmy, „dort habe ich die Frage nach dem Sinn
       des Lebens beantwortet: Sex und Tod.“ Sex sei eine Religion, meinte er und
       machte deutlich, dass er diese Religion allen anderen vorzog, Sex für ihn
       aber auch das Gegenprogramm zu Krieg und Gewalt war. Er sagte den
       unübersetzbaren Satz: „Shooting somebody an orgasm is much better than
       shooting holes in them.“
       
       Wir sprachen über seine Zeit als Roadie bei Jimi Hendrix, dem er LSD
       besorgte. Er selbst habe an die 1.000 Trips eingeworfen: „LSD hat viele
       Orte in mir aufgeschlossen, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt.“
       
       Jimi Hendrix sei ein „gentle man“ im doppelten Wortsinn gewesen, erzählte
       Lemmy. Er hätte sich selbst nicht besser beschreiben können. Auf alten
       Aufnahmen kann man sehen, wie kraftstrotzend Lemmy war und wie sexy. Lemmy
       strahlte Männlichkeit aus, aber die Gockelhaftigkeit und Aggressivität des
       Machos war ihm fremd. Als er vor seinem Tisch in der Ludwigsburger
       Mehrzweckhallengarderobe saß, war die Kraft nicht mehr da. Er war fragil,
       was seine feminine Seite stärker zum Vorschein brachte. Ich konnte mir
       genau vorstellen, dass die Frauen diesen Mann geliebt haben, weil er sie
       geliebt hat. Lemmy hatte schmale, feine Hände, die zärtlichen Hände eines
       Liebhabers.
       
       Er wirkte wie ein alter Schamane, der dabei ist, sich zurückzuziehen, sich
       auf sein Innerstes zu konzentrieren. So sah er später auch auf der Bühne
       aus, und die Leute spürten das. Sie applaudierten Lemmy nicht jubelnd,
       sondern zurückhaltend, mit Respekt und schon ein bisschen traurig.
       
       29 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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