# taz.de -- Porträt einer Immobilie: Gedächtnis eines Hauses
       
       > Der Backsteinbau in der Rothenbaumchaussee 26 ist eines der ersten
       > Hamburger Genossenschaftshäuser – und ein Beispiel für „Arisierung“.
       
 (IMG) Bild: Der Eingang zum Haus des Paul Levy.
       
       HAMBURG taz | Kaum stand die Fassade, kam der Skandal. Dieser schnöde
       Backstein passe nicht ins vornehme Hamburg-Pöseldorf, fanden die Nachbarn.
       Sie waren hochherrschaftliche Vorkriegs-Stuckvillen gewöhnt: weiße, quasi
       göttliche Insignien einer gehobenen Schicht. Und dann dieser geometrisch
       schlichte Backstein in der Rothenbaumchaussee 26! Der erinnerte an ein
       Gefängnis, eine Kaserne, damit wollte man nichts zu tun haben.
       
       Genützt haben die Proteste nichts: Das von den jüdischen
       [1][Architektenbrüdern] [2][Gerson] entworfene expressionistische
       Backsteinhaus – damals übrigens topmodern – wurde gebaut, mit
       220-Quadratmeter-Wohnungen bestückt und 1922 bezugsfertig gemacht.
       Finanziert wurde das teure Projekt – auch dies sehr fortschrittlich – über
       ein Genossenschaftsmodell, das Rudolf Magnus, Jurist der kreditgebenden
       jüdischen Warburg-Bank, erfunden hatte. Übrigens als einer der ersten in
       Hamburg.
       
       Ein solches Modell war in den klammen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg
       durchaus auch für Wohlhabende attraktiv. „Das war ein frühes
       Eigentumswohnungsmodell“, sagt Michael Batz, der die Geschichte des Hauses
       erforscht. Er ist Performance-Künstler und verfasst seit 17 Jahren
       Holocaust-Gedenkstücke im Auftrag der Hamburger Bürgerschaft. Stichtag ist
       auch in diesem Jahr der 27. Januar, an dem der Senat an die Befreiung des
       KZ Auschwitz am 27. 1. 1945 erinnert.
       
       „Das Haus des Paul Levy“ hat Batz sein Holocaust-Gedenkstück dieses Mal
       [3][genannt]; der Bankier Paul Levy war 1922 der erste nachweisbare
       Bewohner das Hauses. Konzipiert ist die aus Archivmaterial erstellte
       Musik-Sprech-Collage als Porträt eines Hauses, das exemplarisch für die
       Auswirkungen von „Rassenpolitik“ und „Arisierung“ durch die Nazis steht.
       
       Genau das passierte diesem Haus, in das zunächst großteils Juden zogen. Der
       Maler Willy Davidsohn etwa wohnte dort, Mitglied der Künstlervereinigung
       „Hamburger Sezession“. Außerdem der Krebsforscher Henry Hirsch, der früh
       ins Visier der Nazis geriet und nach Italien emigrierte. Oder Fritz
       Liebmann, Syndikus der Warburg-Bank; er ging nach New York.
       
       Der Genossenschafts-Initiator Rudolf Magnus selbst floh nach Israel. Aber
       als er dort in einer öffentlichen Sitzung das Genossenschaftsmodell
       vorstellen wollte, brach er tot zusammen. Es war kein Einzelfall: Zwar
       konnten die jüdischen Bewohner der Rothenbaumchaussee 26 – bis auf den
       Zahnarzt Berthold Löwy, der im KZ Theresienstadt starb – fliehen, aber das
       Grauen wirkte nach: Hirsch-Sohn Werner starb kurz nach der Emigration mit
       30 Jahren, ein Sohn des Kaufmanns Richard Behr kam in England bei einem
       Verkehrsunfall um. „Da kann man zwar nicht sagen, die Nazis haben jemanden
       umgebracht“, sagt Batz. „Aber es waren Folgen des Exils.“ Des Exils, das
       sie, da wohlhabend, immerhin rechtzeitig organisieren und finanzieren
       konnten.
       
       Denn auch das ist besonders an der Geschichte dieses Hauses, die auch eine
       der Verdrängung und der Demütigungen ist: Diese Juden wurden nicht
       enteignet, sondern deren Wohnungen „freiwillig“ aufgegeben. Aber was heißt
       freiwillig: Der Druck der Nazis auf Juden nahm ab 1933 stetig zu. Konten
       waren gesperrt, man musste jede abzuhebende Summe genehmigen lassen.
       
       „Es berührt schon zu lesen, dass Ludwig Hirsch beim Oberfinanzpräsidenten
       die Begleichung der Heizungsrechnung beantragen muss“, sagt Batz. „Oder
       dass die Witwe Anna Levy erklärt, dass sie die Reiseschreibmaschine im Exil
       braucht, weil sie wegen ihrer Gicht nicht mehr schreiben kann.“ Das Private
       wurde ins Öffentliche gezwungen, fremde Sachbearbeiter, Nazi-Schergen zu
       Mitwissern. Juden wurden entlassen, aus Berufsverbänden ausgeschlossen,
       sahen in Deutschland keine Perspektive mehr.
       
       Als sie weg waren und Luxuswohnungen in bester Lage frei wurden? „Da
       interessierten sich ähnlich wohlhabende Leute“, sagt Batz. Die hatten
       zynischerweise oft dieselben Berufe wie die Geflohenen: SS-Fördermitglied
       Theodor Heyneman war Gynäkologe und leitete die Frauenklinik am
       Universitätsklinikum Eppendorf. Er beteiligte sich an
       Zwangssterilisationen.
       
       Außerdem zog ein: der Tennisspieler und Zahnarzt Walter Dessart. „In einer
       internen Beurteilung galt er als vorbildlicher SS-Führer“, sagt Batz. Auch
       Opernsängerin Gusta Hammer, die für die Nazis Wagner und Beethoven sang,
       wohnte in der Rothenbaumchaussee 26. Sie nahm 1940 am „Fronttheater“ der
       Nazis teil und sang für deutsche Besatzungssolden in Norwegen sowie für den
       Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann. Er könne nicht belegen, dass sie Nazi
       gewesen sei, sagt Batz. „Aber sie war eine Art Musiksoldat, denn Musik war
       für die Nazis eine Waffe.“
       
       Lange hat Gusta Hammer in dem Haus Rothenbaumchaussee 26 gewohnt, dessen
       Backsteinfassade bis heute aus der Reihe tanzt; denn die Besitzer der
       Gründerzeitvillen halten ihre Fassaden weiß und rein. Tritt man in den Flur
       des Backsteinbaus, erfasst einen Bedrückung vor den grauen Wohnungstüren
       mit ihren 1920er-Jahre-Rankornamenten.
       
       Wenige Privatleute residieren da, ansonsten Agenturen, Heilpraktiker,
       Ärzte. Und kommt es von ungefähr, dass dort allein fünf
       psychotherapeutische Praxen arbeiten? Als wollten sie die Trauer dieses
       Hauses aufarbeiten? Ist es ein Zufall, dass wenige Schritte weiter, in der
       Rothenbaumchaussee 38, wo in den 1940er-Jahren die Gestapo osteuropäische
       Zwangsarbeiter folterte, heute ausgerechnet eine Schmerzklinik residiert?
       
       Ja, es ist ein interessantes, ambivalentes Viertel, das vornehme
       Hamburg-Rotherbaum-Pöseldorf mit seinen Villen, dem Uni-Gästehaus,
       erlesener Hotellerie und Gastronomie. Denn unter der Pracht liegt eine
       andere Geschichte, und die erzählt unter anderem davon, dass von
       Entschädigungen für die einst Geflohenen nichts bekannt ist.
       
       Und von der schwierigen Rückgabe des Hauptfinanciers der Rothenbaumchaussee
       26, der [4][Warburg-Bank]. Als ihr jüdischer Besitzer auswandern musste,
       ernannte er Rudolf Brinckmann zum Treuhänder. „Er ist eine der
       unergründbarsten Figuren jener Zeit“, sagt Batz. Denn Brinckmann bot dem
       rückkehrenden Warburg-Sohn nach 1945 die Bank zwar sofort an. Doch der
       zögerte angesichts von Wirtschaftsflaute und anhaltendem deutschen
       Antisemitismus. Als das Wirtschaftswunder griff, wollte er dann doch – aber
       Brinckmann nicht mehr. Erst auf internationalen Druck restituierte
       Brinckmann die Warburg-Bank. Da war er ungefähr 80. Wenige Tage später
       starb er.
       
       27 Jan 2016
       
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 (DIR) [3] http://www.buceriuskunstforum.de/veranstaltungen/das-haus-des-paul-levy/
 (DIR) [4] https://de.wikipedia.org/wiki/M.M.Warburg_&_CO
       
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