# taz.de -- Kolumne Herbstzeitlos: Sag mir, wo du stehst > Man denkt, dass man einfach nur in Brandenburg spazieren geht. Dabei bebt > um einen herum die Nachkriegsordnung. (IMG) Bild: Hauptgebäude der ehemaligen FDJ-Hochschule Bogensee Noch vor nicht allzu langer Zeit war mein Lebensgefährte einfach ein EU-Bürger aus dem Schengenraum, der in Berlin gemeldet ist und hier arbeitet. Doch im neuen Deutschland ist er längst zum „Wirtschaftsflüchtling“ mutiert. Als Slowene stammt er zwar nicht vom „Westbalkan“, wird aber aufgrund seines mediterranen Äußeren – inklusive Schnurrbart – irgendwo unter „Nordafrikaner“ verbucht. Nur in Berlin-Kreuzberg und Neukölln wird er prinzipiell auf Türkisch begrüßt, Merhaba. Hier in Neukölln, wo alle Englisch sprechen, versucht er gerade, seine in der Mittelstufe erworbenen Deutschkenntnisse aufzufrischen mithilfe von Langenscheidt-Schulmaterialien aus den späten Achtzigern. In dem in diesen Deutschbüchern dargestellten Deutschland-West geht es ständig um Verbote, Verbotsschilder und Diskussionen über Verbote und Verbotsschilder (“Sie dürfen hier nicht parken. Haben Sie das Schild nicht gesehen?“). Da es die BRD aber nunmehr so wenig gibt wie Jugoslawien, übernehme ich das mit der Landeskunde lieber selbst. Um meinem Freund das totalitäre Erbe Gesamtdeutschlands zu vermitteln, fuhr ich also mit ihm in den brandenburgischen Wald. ## Zu Besuch bei Goebbels und Honecker Schwarze Pädagogik? Nein, so einfach habe ich es mir nun auch nicht gemacht. Es handelte sich um einen Ausflug zur ehemaligen FDJ-Hochschule in Bogensee bei Berlin, einem von Hermann Henselmann („Stalin-Allee“) entworfenen Ensemble im Stil des Sozialistischen Klassizismus, das nun einmal mitten im Wald liegt. Und das auch noch direkt neben Goebbels’ ehemaligem Landsitz. Hier begrabschte der Propagandaminister einst UFA-Schauspielerinnen – und genau hier hielt 1946 die FDJ unter Erich Honecker ihre ersten Seminare ab. Nun stapften wir also durch eine Geistersiedlung mit bröckelndem Putz, und ich war plötzlich ganz froh, dass hier in dieser Einöde tatsächlich kein Mensch war: Als Homopaar kann man sich ja noch einigermaßen unsichtbar machen, indem man auf körperliche Nähe verzichtet. Aber wie seine Fremdheit verbergen, die zwar keiner richtig benennen kann, aber doch sofort erkennt? Und da ist man ja dann schon mittendrin im Kapitel „Totalitäres Erbe“ Gesamtdeutschlands, wenn auch mit einem Schwerpunkt Ost: zwei Diktaturen hintereinander, erst Nazi-Landhaus, dann Komsomol-Kaderschmiede. Da bröckelt nicht nur der Putz an den Fassaden, da bröselt es auch im Hirn. Kurz noch dachten wir darüber nach, wie tragisch es doch ist, dass all diese Gebäude leer stehen, während anderswo Flüchtlinge in Zelten und Traglufthallen hausen müssen. Aber wirklich nur kurz – in diesem seltsam verschatteten Umfeld sollte überhaupt keiner wohnen müssen. Auf der Rückfahrt nach Berlin stellten wir fest, dass er als kleiner Junge das FDJ-Lied „Partisanen vom Amur“ in der slowenischen Variante gesungen hat, „[1][Partizanska pjesma]“. Und dass wir beide einer Generation angehören, für die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der Traum eines geeinten Europas eigentlich längst Wirklichkeit geworden ist. Tatsächlich? 25 Feb 2016 ## LINKS (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=RWxcdWk9ibE ## AUTOREN (DIR) Martin Reichert ## TAGS (DIR) Schwerpunkt Rassismus (DIR) Europa (DIR) Sommer vorm Balkon (DIR) Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin (DIR) Aleppo (DIR) Europa (DIR) Balkanroute (DIR) DGB ## ARTIKEL ZUM THEMA (DIR) taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Geschichte am See Der Bogensee ist landschaftlich schön, mit markanter Geschichte: Hier findet sich eine Goebbels-Villa und die ehemalige FDJ-Jugendhochschule der DDR. (DIR) Geschichtsträchtiger Ort bei Berlin: Die FDJ-Schule verfällt An den Bogensee baute Goebbels eine Villa; die DDR schickte FDJler zur Fortbildung. Berlin hat keine Idee für das heute zugewachsene Gelände. (DIR) Kolumne Herbstzeitlos: An einem Vormittag in Tanger Die Regierungstruppen haben Aleppo eingenommen. In Marokko geht alles seinen gewohnten Gang. Ungerechtigkeit inklusive. (DIR) Kolumne Herbstzeitlos: Ein Eis in Eisenhüttenstadt Nicht wenige zweifeln daran, dass Europa eine Zukunft hat. Doch die Gegenwart spricht dafür. Ein kulinarischer Eurovision-Contest. (DIR) Flüchtlingspolitik in Österreich: Das Grenzmanagement von Spielfeld Die neue Obergrenze von 80 Asylanträgen täglich ist nun gültig: Am österreichisch-slowenischen Übergang in der Steiermark bleibt es ruhig. (DIR) Nach Überfall auf DGB-Kundgebung: Sechs Neonazis angeklagt Im Mai hatten Neonazis die Maikundgebung des DGB in Weimar überfallen. Drei Menschen wurden verletzt. Nun stehen sechs Personen vor Gericht. (DIR) Stadtentwicklung I: Auch Kleinvieh macht Mist Der für den Verkauf von Landesimmobilien zuständige Liegenschaftsfonds macht Rekordeinnahmen. Und verspricht: Die lukrativen Grundstücke um den Hauptbahnhof kommen 2008 unter den Hammer.