# taz.de -- Schlägerei im türkischen Parlament: Immunität soll ausgehebelt werden
       
       > Der Verfassungsausschuss segnet die Aufhebung der Immunität ab. Davon
       > sind auch 50 der 59 Abgeordneten der kurdisch-linken Partei HDP
       > betroffen.
       
 (IMG) Bild: Der HDP-Politiker Selahattin Demirtas während des Wahlkampfes: Ihn und seine Parteikollegen will Erdogan ausschalten
       
       ISTANBUL taz | Es waren Szenen, wie man sie in keinem Parlament der Welt
       sehen möchte. Zum dritten Mal seit Donnerstag vergangener Woche flogen im
       Verfassungsausschuss des türkischen Parlaments in der Nacht von Montag auf
       Dienstag die Fäuste. Am Ende winkten die Vertreter von drei der vier im
       Parlament vertretenen Parteien eine Gesetzesvorlage durch, mit der die
       Immunität aller Parlamentarier, gegen die derzeit ein Ermittlungsverfahren
       anhängig ist, aufgehoben werden soll.
       
       Das sind eine ganze Menge. Es gibt insgesamt 600 Ermittlungsverfahren, die
       136 Parlamentarier betreffen. Allerdings richten sich allein 354
       Ermittlungsverfahren gegen 50 Abgeordnete der kurdisch-linken HDP. Nur neun
       Parlamentarier der HDP sind nicht betroffen.
       
       Während es bei den Abgeordneten der anderen Partei um Beleidigungsklagen
       oder einen Korruptionsverdacht geht, richten sich die Verfahren gegen
       HDP-Abgeordnete gegen die vermutete Unterstützung einer „terroristischen
       Vereinigung“. Gemeint ist, dass die HDP der parlamentarische Arm der
       kurdischen PKK-Guerilla sei.
       
       Seit Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2015 die Wiederaufnahme des
       Krieges befahl, herrscht im mehrheitlich kurdischen Südosten wieder Krieg.
       Die HDP, die sich für eine Friedenslösung zwischen der PKK und dem Staat
       einsetzt, wird in diesem Krieg zerrieben. Sie ruft zwar beide Seiten dazu
       auf, die Waffen niederzulegen, beklagt aber auch das Leid der kurdischen
       Bevölkerung und äußert Verständnis, dass kurdische Jugendliche sich gegen
       die Repression des Staates wehren. Für die Regierung steht sie damit auf
       Seiten der „Terroristen“.
       
       Dafür wird sie seit Monaten im Parlament angegriffen, seit Kurzem auch von
       prügelnden AKP-Abgeordneten. Die HDP vermutet, dass es bei der Aufhebung
       der Immunität für beschuldigte Parlamentarier in Wahrheit darum geht, 50
       ihrer 59 Abgeordneten aus dem Parlament auszuschließen und ins Gefängnis zu
       stecken.
       
       Die meisten der anderen Verfahren, vermutet ein Mitglied des HDP-Vorstands,
       werden eingestellt oder mit Geldstrafen abgegolten werden. „Das ist
       Kosmetik, um zu verschleiern, dass es in Wahrheit allein darum geht, die
       HDP aus dem Parlament zu verdrängen.“
       
       Voraussichtlich am Donnerstag soll im Plenum des Parlaments abgestimmt
       werden. Die Gesetzesvorlage braucht eine Zweidrittelmehrheit. Beobachter
       rechnen damit, dass die Mehrheit der AKP-Abgeordneten und der ultrarechten
       MHP-Abgeordneten zustimmen werden.
       
       In der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP-Opposition ist das Gesetz
       umstritten. Trotzdem wird es wohl die nötige Mehrheit bekommen. Die HDP
       wird geschlossen dagegen stimmen. Sie bezeichnet das Gesetz als Putsch
       gegen das Parlament.
       
       3 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Parlament
 (DIR) HDP
 (DIR) Immunität
 (DIR) PKK
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) HDP
 (DIR) Hürriyet
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) HDP-Chef zur Situation seiner Partei: „Wir sind kein Anhängsel der PKK“
       
       HDP-Chef Selahattin Demirtaş über seine drohende Haftstrafe, den Zugang zu
       kurdischen Jugendlichen, das Verhältnis seiner Partei zur PKK und Erdoğans
       Ziele.
       
 (DIR) Verfassungsänderung in der Türkei: „Totalitärer Angriff“ aufs Parlament?
       
       Geht es nach dem Willen der Regierungspartei AKP, verlieren bald 138
       Abgeordnete ihre Immunität. Dies würde vor allem die prokurdische HDP
       schädigen.
       
 (DIR) Kommentar Immunität in der Türkei: Erdoğan provoziert mehr Gewalt
       
       In der Türkei soll Abgeordneten aller Parteien die Immunität entzogen
       werden können. Aber das ist reine Dekoration. Es geht nur um die HDP.
       
 (DIR) Pressefreiheit in der Türkei: Unfreiwillig auf der Ersatzbank
       
       Der Autor war Leiter von Hürriyet Online, der reichweitenstärksten
       Nachrichtenseite des Landes. Jetzt ist er arbeitslos.
       
 (DIR) Kommentar Verfassung der Türkei: Auf dem Weg zur Scharia
       
       Noch vor wenigen Jahren hätte die Forderung nach einer islamischen
       Verfassung als verfassungsfeindlich gegolten. Nun ist das anders.
       
 (DIR) Türkei unter Erdoğan: Islamische Verfassung gefordert
       
       Der Parlamentspräsident will mit dem Säkularismus Schluss machen. Soll die
       Scharia künftig wieder zur Grundlage des Rechts werden?
       
 (DIR) Kommentar Griechland inmitten der Krise: Zynismus hat keine Zukunft
       
       Der Deal mit der Türkei soll die Festung Europa sichern. Doch es gibt auch
       ein anderes, ein solidarisches Europa, das Hoffnung macht.
       
 (DIR) Staatsbürgerschaft von PKK-Unterstützern: Erdogan droht mit Aberkennung
       
       Der türkische Präsident sieht in den Unterstützern der PKK „Wölfe im
       Schafspelz“. Sie hätten es nicht verdient, türkische Mitbürger zu sein.
       
 (DIR) Journalistenprozess in der Türkei: Wegen Tumult abgebrochen
       
       Die Verhandlung gegen Cumhuriyet-Journalisten, die sich mit Erdogan
       angelegt hatten, ist vertagt worden. Es war zu Handgreiflichkeiten
       gekommen.