# taz.de -- Kant-Tagung in Berlin: Ein europäisches Angebot an die Welt
       
       > Um Aufklärung, Freiheit und Gastrechte ging es in einem Symposium zu
       > Immanuel Kant. Eine Frage bleibt: die Vermittlung seiner Werke an
       > Jüngere.
       
 (IMG) Bild: Der Philosoph als Miniatur, nach einer Zeichnung des Künstlers Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld, 1789
       
       Große Ereignisse werfen, so heißt es, ihre Schatten voraus. Umgekehrt gilt
       aber auch, dass Schatten geworfen werden, wo sich etwas Großes ereignen
       soll.
       
       Der Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant wurde im Jahr 1724 geboren, aber
       eine erste Auftaktveranstaltung zu seinem dreihundertsten Geburtstag fand
       bereits jetzt, acht Jahre vorher, in Berlin statt. Unterstützt von der
       Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters,
       und dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen
       Europa lud die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften in und
       mit dem Deutschen Historischen Museum zu der Tagung „300 Jahre Immanuel
       Kant. Der Weg zum Jubiläum“ ein.
       
       Dazu begrüßte Monika Grütters auch Angehörige des diplomatischen Korps
       aus Russland und Polen. Umrahmt von den wenig bekannten „Claviersonaten“
       von Kants Zeitgenossen Christian Wilhelm Podbielski, virtuos von der jungen
       Pianistin Mira Lange auf einem historischen Hammerflügel gespielt, nahm
       das Auftaktsymposium seinen Lauf.
       
       Freilich war gleich zu Anfang, in den Begrüßungsworten von Grütters, ein
       Rest von – sagen wir – Vertriebenenpolitik zu verspüren, als die
       Bundesbeauftragte für Kultur auf den den meisten Anwesenden völlig
       unbekannten Paragrafen 96 des Bundesvertriebenengesetzes aufmerksam machte.
       Dort heißt es unter anderem: „Bund und Länder haben entsprechend ihrer
       durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der
       Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge,
       des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten. […] Sie haben
       Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der
       Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben,
       sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und
       Flüchtlinge zu fördern […].“
       
       ## Der Kosmopolit als Deutscher?
       
       Immanuel Kant – lange Jahre ein Untertan des Zaren – zentraler
       Bestandteil des Kulturguts der Vertreibungsgebiete? Der Kosmopolit als
       Deutscher?
       
       Die Tagung selbst stellte im Gegenzug Immanuel Kant aus Königsberg, nach
       1945 in Kaliningrad umbenannt, als Universalisten, Aufklärer und, ja, als
       scharfen Kritiker des Kolonialismus vor – ein deutsches, ein europäisches
       Angebot an die Welt, worauf vor allem die US-amerikanische Philosophin
       Onora O’Neill abhob. Sie nahm in ihrem Vortrag Bezug auf Heinrich Heines
       Schrift über „Philosophie und Religion in Deutschland“ und seinen ätzenden
       Spott über den schließlich doch Gott postulierenden „Alleszermalmer“.
       
       Und sie legte dar, dass der Königsberger Philosoph wie kein anderer an der
       Stelle komplexer metaphysischer Gebilde eine Theorie der Philosophie
       vorgelegt habe, die deshalb demokratisch sei, weil sie auf den allen
       Menschen möglichen Gebrauch guter sprachlicher Gründe abgehoben habe.
       
       Unter Berufung auf genau diesen demokratischen Charakter von Kants
       Philosophie wiederholte O'Neill einen philosophischen Schlachtruf, der
       schon im Deutschland der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert
       erklang: „Zurück zu Kant!“. Wie sinnvoll diese Parole zumal in der
       Gegenwart ist, entfaltete der politische Philosoph Otfried Höffe in
       einleitenden Bemerkungen zu einem Workshop über „Kant und die Politik“.
       
       Dabei ging es zunächst um die Frage, ob der Universalist Kant bereits eine
       Theorie der Menschenrechte entwickelt habe, sowie darum, ob Kants
       Vorstellungen vom „ewigen Frieden“ tatsächlich bereits ein politisches
       Gebilde wie die heutigen UN vorweggenommen haben. Höffe wies darauf hin,
       dass Kant keine Menschenrechte, sondern nur ein einziges Menschenrecht
       postuliert habe, nämlich das Recht auf Freiheit, das mit der Freiheit aller
       anderen kompatibel sei. Dieses Recht bestehe – so Kant in der „Metaphysik
       der Sitten“ – in einer menschlichen Ordnung, gemäß derer „die Willkür des
       einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der
       Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.
       
       ## Weltbürger- und Gastrecht
       
       Erwartbar war des Weiteren, dass mit einem Vortrag und anschließender
       Diskussion das Thema Flucht im Zusammenhang mit Kants Ausführungen über ein
       „Weltbürgerrecht“ diskutiert wurde. Dabei unterscheide Kant zwischen einem
       „Besuchs-“ und einem „Gastrecht“, einem Gastrecht, das aber in seinem Kern,
       im Recht der „Hospitalität“, „im Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf
       dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu
       werden“, bestehe. Die Debatte machte aber auch klar, dass Kant sich in
       seiner Schrift zum „ewigen Frieden“ als schärfster Kritiker des damaligen
       Kolonialismus positionierte – worauf die Direktorin des Einstein Forums
       Potsdam, die bekennende Kantianerin Susan Neiman hinwies.
       
       Mehr noch: Neiman kritisierte aufs Schärfste Philosophen und
       Philosophinnen, die als Poststrukturalisten oder Postkolonialistinnen
       meinen, die Philosophie der Aufklärung pauschal als Ausdruck von Herrschaft
       und Unterdrückung kritisieren zu sollen und damit doch nur einem
       ethnozentrischen Relativismus das Wort redeten.
       
       Womit das Symposion in das abschließende, von dem Feuilletonisten Patrick
       Bahners launig moderierte Schlusspodium mündete, bei dem die Wiener
       Philosophin Violetta Waibel sich mit der Kant-Rezeption im
       „preußenfeindlichen“ Österreich befasste. Schließlich wies Marcus
       Willaschek, Herausgeber des gerade vor einem Jahr erschienenen
       dreibändigen, auf Jahre unersetzbaren Kant-Lexikons, darauf hin, dass man
       es sich zu leicht mache, Kant je nach Gusto zur Untermauerung der eigenen
       Position zu nutzen; vielmehr seien der Eigencharakter und Eigensinn dieses
       Philosophen ernst zu nehmen.
       
       ## Mut und Verstand
       
       Fragen und Hoffnungen galten schließlich dem Problem, ob und wie Kant und
       sein Werk jüngeren Menschen, nicht zuletzt Schülerinnen und Schülern zu
       vermitteln sei. Das ist ein Wunsch, der sich immer wieder Kants Programm
       der Aufklärung versichert: also „dem Ausgang aus selbstverschuldeter
       Unmündigkeit“, wozu es des Muts bedürfe, „sich seines Verstandes ohne
       Leitung anderer zu bedienen“.
       
       Als Auftakt durchweg gelungen, wünscht man dem in acht Jahren
       bevorstehenden Kant-Jubiläum gleichwohl, dass es nicht wie das nächste Jahr
       anstehende Luther-Jubiläum so zerredet und zerschrieben werde, dass man
       schon vorher des Autors überdrüssig wird.
       
       9 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Immanuel Kant
 (DIR) Philosophie
 (DIR) Aufklärung
 (DIR) Linke
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Philosophie
 (DIR) Aufklärung
 (DIR) Immanuel Kant
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gastgeber über neuen Roten Salon Hamburg: „Marxismus und Club-Musik“
       
       Reden über linke Politik (und gleich noch ein paar Verlagen helfen):
       Mit-Gastgeber Michael Hopp über den erstmals eröffnenden „Roten Salon
       Hamburg“.
       
 (DIR) Sozialkritisches Buch „Anerkennung“: Nicht ohne die anderen
       
       Das Wort Selfie kommt in Axel Honneths neuestem Werk „Anerkennung“ nicht
       vor. Obwohl es nahe läge.
       
 (DIR) Philosophie des Neuen Realismus: Die weiten Felder des Sinns
       
       Markus Gabriel lehnt die Welt ab. Als Begriff zumindest. In „Sinn und
       Existenz“ argumentiert er dafür, warum es auch ohne geht.
       
 (DIR) Buch über das Zeitalter der Aufklärung: Habe Mut zu wissen
       
       Mündigkeit, gute Politik und vor allem Vernunft: Steffen Martus erzählt von
       der Aufklärung und einem großem deutschen 18. Jahrhundert.
       
 (DIR) Neues Lexikon: Update für Kant
       
       Das neue Kant-Lexikon erschließt den Philosophen auf 3.000 Seiten. Darunter
       sind auch Einträge zu „Hexen“, „Fleischeslust“ oder „Trunkenheit“.