# taz.de -- Clownerie im Tessin: „Der Narr ist immer gefragt“
       
       > Der Schweizer Clown Dimitri ist überraschend gestorben. Erinnerung an
       > eine Begegnung in seinem Theater in Versico.
       
 (IMG) Bild: Clown Dimitri mit seiner Frau auf dem roten Teppich bei einer Filmpreisverleihung in Luzern 2010
       
       Ein junger Mann, der auf einer Wiese mitten im Ort auf dem Kopf steht. Ein
       anderer, der in die Luft springt und Salti schlägt. Eine Frau, die auf
       einer Mauer balanciert. Sind die Spinner wieder los hier, ein paar hundert
       Höhenmeter über dem Lago Maggiore? Nein, die nackten Körneresser leben
       schon lange nicht mehr auf dem Monte Verità über Ascona. Die
       Bildungsreisenden, die sich auf Spurensuche nach dem alternativen Aufbruch
       begeben, finden heute einen wohlgepflegten Teepark an der Stelle, an der
       Anfang des 20. Jahrhunderts Stadtflüchtlinge recht anarchistisch vor sich
       hin gelebt haben.
       
       Die Spinner sind weg. Sind sie nach Verscio umgezogen? Das mag sich fragen,
       wen es in die 1.000-Seelen-Siedlung am Eingang zum Centovalli verschlägt,
       jenem grünen Flusstal des wilden Melezza. Verschwitzte junge Menschen
       ziehen in schlabbrigen Trainingsklamotten durch das stille Dorf mit seinen
       grauen Natursteinmauern. Andere posieren frisch geschminkt in bunten
       Commedia-dell’Arte-Kostümen für ein Foto. Durch ein Fenster sind die
       Anweisungen eines strengen Übungsleiters zu hören.
       
       Wer den Raum betritt, in dem etwa 20 junge Leute, die sich dem
       Bewegungstheater verschrieben haben, lernen sollen, ihre Körper möglichst
       perfekt zu beherrschen, sieht schnell, dass es sehr ernste Spinner sind,
       die sich hier versammelt haben. Es sind Studenten. Sie werden ausgebildet
       an der Academia Teatro Dimitri von Verscio und bringen junge Hochkultur ins
       beschauliche Tessin.
       
       ## Ein Kraftort für Kreative
       
       Was sie auch mitbringen, ist ein wenig Kommunenromantik. Die Akademie, die
       höchstoffiziell ein Institut der Fachhochschule der italienischen Schweiz
       ist, hat Räume in ganz Verscio angemietet. Werkstätten, Proberäume,
       Turnsäle oder eine Gemeinschaftsküche für die Studenten. Das wirkt durchaus
       g’spinnert in der beschaulichen Umgebung, in der sich viele wohlhabende
       Menschen vor eigenwillig gestalteten Protzbauten am eigenen Pool bräunen,
       in der am Grotto, den typischen Kellerwirtschaften, deftige Speisen in
       Wohlstandsbäuchen verschwinden. Es ist eine Hochschule, die die Geschichte
       der Gegend als Kraftort für Kreative wiederbelebt.
       
       „Es lässt sich eben in Ruhe und ohne große Ablenkung arbeiten“, sagt Ruth
       Hungerbühler, die Dekanin der Akademie, auf die Frage, ob in der Landschaft
       oberhalb des Lago Maggiore die Kunst besser gedeihe als anderswo. In der
       Abenddämmerung sitzt sie im Innenhof des Gebäudekomplexes, in dem sich das
       Teatro Dimitri befindet.
       
       Sie begrüßt einen drahtigen, älteren Herrn, der für die künstlerische
       Geschichte des kleinen Ortes steht. Es ist der Clown Dimitri. Der Mann, der
       1935 unten am See in Ascona geboren ist, hat schon beinahe überall auf der
       Welt seine Kunst zum Vortrag gebracht. In der Schweiz ist er eine
       Berühmtheit. Und er ist ein Überlebender jener künstlerisch so produktiven
       Zeit am Lago Maggiore.
       
       Etliche Kulturschaffende haben sich in der italienischen Schweiz
       niedergelassen, als diese in eidgenössischem Vergleich noch eine arme
       Gegend war. Seine Eltern waren bildende Künstler und hatten nichts dagegen,
       dass sich Dimitri zu einem professionellen Spinner entwickelt hat. In
       Verscio hat er 1971 zusammen mit seiner Frau das Teatro Dimitri gegründet,
       danach eine Clownschule. Bis heute tritt er mit Soloprogrammen oder mit
       seiner Familie im eigenen Theater auf. Ein Clownmuseum hat er auch in
       Verscio aufgebaut. Er hat bis heute sein Publikum und ist sich sicher, dass
       er es immer haben wird.
       
       „Der Narr, der Komiker, der Clown, wird immer gefragt sein“, sagt er eine
       Stunde vor seinem Auftritt und süffelt an einer Flasche Rivella-Limonade.
       Gehört er einer aussterbenden Art an? „Clowns wird es immer geben“, sagt
       er, „aber eben nicht viele. Es hat ja nie viele gegeben.“
       
       Einführungen ins professionelle Spinnen gibt es in Verscio übrigens auch
       für Laien. Die Sommerakademie der Academia Teatro Dimitri bietet Kurse in
       Clownerie an. Dass seine Clownschule zu einer Uni für Bewegungstheater
       geworden ist, erfüllt Dimitri mit Stolz. Und dass sein Clowntheater gerade
       zu einer Spielstätte für anspruchsvolles Offtheater umgemodelt wird, macht
       ihm nichts aus, solange er weiter in seinem Theater auftreten kann.
       
       „Das neue kulturelle Zentrum abseits der Metropolen“ nennt sich das Theater
       heute. Unter der Leitung der Regisseurin, Schauspielerin und Tänzerin Kami
       Manns wagt das Teatro Dimitri den Sprung weg vom Varieté hin zur
       Performance. Es wird jetzt anders gesponnen in der Clownskulisse ganz groß:
       mit Aufführungen von Rimini Protokoll und Forced Entertainment. Sheffield,
       Berlin, Verscio. Die Rückkehr der Spinner an den Lago Maggiore ist ein
       großes Ding.
       
       Unten in Locarno, in den teuren Restaurants an der Piazza Grande, die mit
       dem Gotthardtunnel ganz nahe an die Geldstadt Zürich heranrückt, sitzen die
       Wochenendurlauber, die ein wenig mediterranes Klima auf Schweizer Boden
       genießen wollen. Da hängen Plakate für das Teatro Dimitri. Ein wenig größer
       sind die Plakate, die für die Sammlung der Fondazione Ghisla werben. Die
       ist in einem knallroten Kubus untergebracht und zeigt, was der Kunstsammler
       Pierino Ghisla und seine Frau Martine über die Jahre zusammengetragen
       haben.
       
       ## Botschafter der Kunst
       
       Ghisla war einst aus dem Tessin aufgebrochen, um in Belgien sein Glück zu
       suchen. Gefunden hat er es als Großhändler für Obst und Gemüse. Als solcher
       ist er zu Wohlstand gekommen. Jetzt ist er zurückgekehrt und stellt in
       seiner alten Heimat aus, was er sich über die Jahre zusammengekauft hat. In
       seiner Selbstwahrnehmung ist auch Ghisla ein Spinner, einer, der zu wissen
       glaubt, dass im konservativen Tessin die meisten nicht viel anfangen können
       mit moderner Kunst. Er sieht sich als Botschafter seiner Kunstwerke.
       
       Eine Rostbronze von Robert Indianas „Love“-Skulptur, eine Grafik von
       Christo, den er mal in dessen Atelier besuchen durfte, ein Lichtenstein,
       ein Boetti, ein Bonalumi. Manches hat er, weil man es haben muss, manches,
       weil er es haben wollte, und manches, weil er dem Geschmack seiner Frau
       genüge tun wollte. Langsam werde die Sammlung, die seit 2014 zu sehen ist,
       wahrgenommen, sagt Ghisla, obwohl es von der Kommune sehr wenig
       Unterstützung für Werbung gebe. Er zeigt einen Artikel, der im
       italienischen Kunstmagazin Arte erschienen ist. „Die haben über mich
       geschrieben“, sagt er.
       
       Die hätten ihn verstanden. Der Millionär gefällt sich in der Rolle des
       Spinners. Beim Kaninchen mit Polenta nach dem Rundgang durch die
       Ausstellung sollte man sich Zeit nehmen darüber nachzudenken, was die
       konservativen Tessiner wohl über die vegetarischen Spinner vom Monte Verità
       gedacht haben.
       
       30 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Rüttenauer
       
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