# taz.de -- „Resolutionary“ von Vivien Goldman: Alles passierte gleichzeitig
       
       > Vivien Goldman war wichtig in Londons Punkszene, komponierte unter
       > anderem Songs für die Flying Lizards. Ihr neues Album würdigt diese
       > Epoche.
       
 (IMG) Bild: Fand durch Punk zu ihrer eigenen Stimme: Vivien Goldman
       
       Die Gegend um die Londoner U-Bahn-Station Ladbroke Grove war in den
       Siebzigern the place to be. Weltweit gab es zu dieser Zeit keinen Ort, an
       dem musikalisch mehr passierte. Erst gründete sich hier die Spacerockband
       Hawkwind mit Lemmy Kilmister, noch mehr Wirbel entfachte die Punkwelle
       einige Jahre später: The Clash, The Slits, The Raincoats, auch John Lydons
       Public Image Limited (P.I.L.), sie alle waren Teil der Musikszene im Westen
       Londons.
       
       Erstaunliches passierte hier gleichzeitig. Jamaikanische und afrikanische
       Musik und der bis dato weiß geprägte Punk fanden zueinander, Stile wie
       Dubreggae vermischten sich mit Popmusik. Und noch etwas hatte sich
       verändert. Anders als bei den Hippies waren viele Musikerinnen in der Szene
       aktiv.
       
       Die Journalistin und Künstlerin Vivien Goldman war eine von ihnen. Goldman
       war Teil des Künstlerkollektivs The Flying Lizards, spielte aber auch solo
       und zusammen im Afrobeat-/Soukous-Duo Chantage. „London Ende der Siebziger
       hat mich geprägt“, wie die 61-Jährige im Skype-Gespräch aus New York
       erzählt, wo sie heute lebt. „Ich fühle mich sehr europäisch“, sagt sie und
       verweist auf den Brexit. Goldman wirkt herzlich, aber auch selbstironisch,
       eine starke Künstlerin; raue Stimme, vitales Lachen. Sie sitzt auf einem
       Stuhl versunken vor dem Computerbildschirm in ihrer Wohnung in Jackson
       Heights.
       
       „Natürlich ging es in der Punkszene nicht gleichberechtigt zu, das ist
       damals so wie heute, machen wir uns nichts vor“, sagt Goldman, „aber dass
       Frauen selbstverständlich Musik machten, sich ausdrückten, sich entdeckten
       und zu ihrer Stimme fanden, das gab es vor Punk kaum.“ Sie erzählt auch von
       den „anderen Vivs“ zu dieser Zeit in Ladbroke Grove – von Designerin
       Vivienne Westwood und The-Slits-Gitarristin Viv Albertine (mit der sie auch
       zusammenspielte). Vivien Goldman ist diejenige von den Dreien, die am
       ehesten in Vergessenheit geraten ist.
       
       Zu Unrecht. Mit dem nun erschienenen Album „Resolutionary“ sind acht Stücke
       aus all ihren Schaffensphasen wiederveröffentlicht worden, die meisten
       Tracks zwischen 1979 und 1982 entstanden – sie waren lange Zeit vergriffen.
       Damit kann man eine große Künstlerin dieser Zeit wiederentdecken, die nur
       deshalb eher Außenseiterin blieb, weil ihr Output überschaubar war.
       
       ## Songs für die Flying Lizards
       
       Goldman arbeitete in den frühen Achtzigern vor allem als Autorin,
       Journalistin und Filmemacherin. Insbesondere die Songs „Launderette“,
       „Private Army“ und die Abwandlung dieses Stückes „P. A. Dub“ sowie Songs,
       die sie für die Flying Lizards komponierte hatte, wirken so eigenständig,
       groovy und energisch, dass sie unbedingt in den Kanon gehören.
       
       Nebenbei würdigt das Werk diese Epoche, die eigentlich ein gutes Plädoyer
       für die Heterogenität in postkolonialen Gesellschaften sein könnte.
       Ladbroke Grove, so drückte es der Musiker und Journalist Mick Farren mal
       aus, sei eine Community von „Strichern, Rude Boys und Tunichtguten“
       gewesen, „schwarz wie weiß, und wir passten alle gut zusammen in unserer
       Ablehnung von Autoritäten“. Ladbroke Grove ist ein Beispiel dafür, wie dies
       kreativ umgemünzt werden kann – was in den Banlieues oft misslingt.
       Rootsreggae und Dub, sagt Goldman, die mit Fela Kuti und Bob Marley
       zusammengearbeitet hat, seien wie eine Lingua franca gewesen. Sie war
       verrückt nach Dub, sagt sie. Und das hört man.
       
       „Punk war fabelhaft, ich habe mein Leben genossen, aber nicht realisiert,
       wie einzigartig es ist. Es fühlte sich immer so an, als gehörte ich zu
       dieser Musik und die Musik gehörte zu mir.“
       
       Goldman stammt aus einer jüdischen Familie, ihre Mutter kam ursprünglich
       aus Frankfurt, ihr Vater aus Berlin. Beide lernten sich im Londoner Exil
       kennen. Ihr Vater habe Geige gespielt, sie selbst sei früh von Stilen aus
       aller Welt geprägt gewesen: „Ich habe mich für brasilianische Musik und für
       Jazz interessiert und für Reggae. Melodie und Harmonie sind mir sehr
       wichtig.“ Vielleicht entfernte sie sich deshalb schnell vom simplen
       Punksound und verwendete in ihren Songs Chöre und Kanons.
       
       Goldman spielte selbst Keyboard und ein bisschen Bass, „genug, um den
       anderen zeigen zu können, wie die Songs sein sollen“, erklärt sie.
       Kollaborateure waren etwa Produzenten wie John Lydon oder Keith Levene (von
       Public Image), die bei ihren Solosongs an den Reglern standen. „Für die
       Dubversionen“, sagt sie, sei oft der Produzent Adrian Sheerwood zuständig
       gewesen, der später das Label On-U-Sound gründete.
       
       ## Zeitlose Texte
       
       Goldmans Stimme ist ein heller Sopran. Gesungen, sagt sie, habe sie schon
       immer.
       
       Vivien Goldman war der Zeit weit voraus, erkennbar an ihrem Song „Private
       Armies“. Sein Text klingt zeitlos. In Bezug auf religiöse Fundamentalisten
       heißt es da: „Sets of initials print / Licenses to kill / Brand name
       businessmen / Footing the bill / Blood everywhere“. Auch musikalisch
       schimmert die Visionärin Goldman durch. Es gibt Rapparts, zwischendurch
       nervöse, stolpernde elektronische Rhythmen, Laut-leise-Variationen und
       Streicher. Die Stücke, die sie gemeinsam mit Eve Blouin als Chantage in
       Paris produzierte, zeigen eine Künstlerin, die bereits Anfang der Achtziger
       vom kongolesischen Soukous-Stil beeinflusst war.
       
       In den neunziger Jahren ging Goldman schließlich nach New York. Sie schrieb
       Bücher, unter anderem über Kid Creole und Bob Marley. An der New York
       University (NYU) hat sie bis heute einen Lehrauftrag. Als Musikerin trat
       sie eher gelegentlich in Erscheinung, etwa in Housetracks mit Andy Caine
       und Moritz von Oswald. Neugierig ist sie immer noch. Ihr nächster Kurs an
       der NYU dreht sich um Electronic Dance Music (EDM).
       
       Ihr ehemaliges Haus in London ist heute Teil einer
       Popkultur-Stadtrundfahrt.
       
       2 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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