# taz.de -- Debatte Zukunft der Ukraine: Der unendliche Maidan
       
       > Der Maidan ist ein Synonym für Aufbruch und Europa. Er steht aber auch
       > für das Scheitern gesellschaftlicher Bewegungen.
       
 (IMG) Bild: Generationswechsel: Eine europäische Perspektive würde den jungen Reformern helfen
       
       Wer kommt mit auf den Maidan? Wenn wir mehr als tausend sind, organisieren
       wir uns!“ So lautete der Facebook-Post von Mustafa Najem vor drei Jahren.
       Und es kamen weit mehr als tausend Menschen, um gegen den damaligen
       ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu demonstrieren. Der hatte
       nach einem kurzfristig anberaumten Moskau-Besuch Mitte November 2013
       ankündigt, dass er das unterschriftsreife Assoziierungsabkommen mit der EU
       doch nicht unterzeichne. Damit begann der vierte Maidan in Kiew.
       
       Das Wort Maidan bezeichnet einen offenen urbanen Raum, der in der Ukraine
       zum wiederholten Mal zum Synonym für gewaltfreien Widerstand wurde. Der
       erste Maidan fand 1990 als „Studentenrevolution auf Granit“ in Kiew statt.
       Der zweite Maidan folgte im Jahr 2000/2001 unter dem Motto „Ukraine ohne
       Kutschma“ (der damalige ukrainische Präsident wurde unter anderen
       verdächtigt, die Ermordung eines regierungskritischen Journalisten
       angeordnet zu haben).
       
       Dieser Maidan wurde von der Stadtverwaltung gewaltsam aufgelöst unter dem
       Vorwand, den Platz umzugestalten. Das Ergebnis ist ein architektonischer
       Erinnerungskitsch mit einem martialischen Erzengel Michael und
       Granitplatten, die wie das Muster einer traditionellen ukrainischen
       Stickerei gepflastert sind.
       
       ## Kampf für eine andere Ukraine
       
       2004 wurde der Maidan mit der Orange Revolution als Zentrum des Protests
       gegen den Wahlbetrug Wiktor Janukowitschs weithin bekannt. Die Orange
       Revolution zeitigte wie die vorangegangenen Maidan-Proteste jedoch kaum
       nachhaltige Veränderungen. Der Maidan ist somit eine ambivalente Chiffre
       des Kampfs für eine andere Ukraine. Das wird an der Personalie Wiktor
       Janukowitsch deutlich: Nachdem er seinen Wahlbetrug eingestanden hatte,
       wurde Wiktor Juschtschenko Präsident. Allerdings wurde Janukowitsch dann
       nicht einmal ein Jahr darauf von Juschtschenko zum Regierungschef gemacht.
       
       Jeden Ukrainer, der sich daraufhin resigniert von der Politik abwendete,
       kann man nur zu gut verstehen. Und so hat auch keiner der mittleren und
       älteren Generation, die die Orange Revolution getragen hatte, damit
       gerechnet, dass so bald ein weiterer Maidan, für den sich die Bezeichnung
       „Euro-Maidan“ einbürgerte, möglich wäre.
       
       Es waren erneut Janukowitsch und seine Politik, die besonders Studenten und
       die jüngere Generation auf die Straßen brachte. Nach den ersten
       Gewaltaktionen gegen die Demonstranten schloss sich die mittlere und ältere
       Generation den Maidan-Protesten an. Am Ende waren mehr als hundert Menschen
       getötet und die Ukraine zu einem anderen Land geworden – oder hätte es
       zumindest werden können.
       
       Nach der Flucht von Janukowitsch schienen die Menschen wie im Märchen durch
       die Villen ihres räuberischen Präsidenten und seiner Kumpane zu wandeln. Es
       sah für einen Moment so aus, dass das europäische Luftschloss in der
       Ukraine Realität werden könne. Doch dann tauchten jene grünen Männer auf
       der Krim und in den südöstlichen Gebieten auf, und die Bilder erinnerten an
       eine Antiutopie, die sich mit der Okkupation der Krim und dem sogenannten
       hybriden Krieg von Russland in die heutige europäische Realität
       verwandelte.
       
       Wie soll es mit der Ukraine weitergehen? Die Führungselite ist nach wie vor
       korrupt, die Abkommen von Minsk I und II funktionieren nicht, und die
       internationale Politik richtet ihr Augenmerk auf andere Regionen. Und wie
       wird sich der neue amerikanische Präsident positionieren? Eine Frage, die
       nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa beschäftigt. Hinzu kommt die
       Sorge um den Rückfall in nationale Denkschemata, die sich mit sogenannter
       postfaktischer und populistischer Rhetorik vereinen. Die europäische Vision
       der Ukraine droht zu einem Auslaufmodell zu werden, da Europa selbst zum
       Auslaufmodell werden könnte.
       
       Und doch inspiriert und mobilisiert dieses „Europa“ noch immer den Großteil
       der Ukraine, und so gibt es durchaus positive Anzeichen wie die Reform des
       Justizwesens, erste Erfolge in der Korruptionsbekämpfung und die
       Offenlegung der Vermögen.
       
       Es löste zwar einen Schock bei vielen Ukrainern aus, als sie erfuhren,
       welche Reichtümer in Form von Bargeld, Autos und Immobilien hohe Beamte aus
       Steuer- und Zollbehörden, Militär, Polizei sowie Parlamentsabgeordnete und
       Ministerialbeamte angehäuft hatten, doch ist dieser Schock ein Indiz für
       zunehmende Transparenz, zu der auch gehört, dass die Immunität von
       Oligarchen aufgehoben werden soll.
       
       ## Unort der Erinnerungen
       
       Der Schlüssel für die Zukunft der Ukraine bleibt jedoch der Friedensprozess
       oder besser gesagt der Krieg. Hier gibt es gegenwärtig keine Alternative,
       als auf der Grundlage der Verträge von Minsk weiterzuverhandeln. Zugleich
       aber muss der Ukraine eine wirkliche europäische Perspektive in Aussicht
       gestellt werden, nicht nur halbherzige Visaerleichterungen, sondern
       ernsthafte Vorbereitungen von Beitrittsverhandlungen zur EU.
       
       Das würde die Kompromissbereitschaft der ukrainischen Seite in den
       Friedensverhandlungen und Reformen im Land fördern. Zudem würde eine klare
       europäische Perspektive die Position der jüngeren Politiker wie Mustafa
       Najem und die aus dem Maidan hervorgegangenen zivilgesellschaftlichen
       Gruppen stärken, die zum Marsch durch die Institutionen aufgebrochen sind,
       um das Land mit einem institutionell getragenen Generationswechsel zu
       verändern.
       
       Eine Generation dauert es, bis für traumatische Ereignisse wie Revolution,
       Krieg, Katastrophen und deren Opfer eine angemessene Sprache und Erinnerung
       gefunden werden. Der heutige Maidan ist ein Unort der Erinnerung mit einer
       traumatischen Kitschproduktion. Die hat sicher eine Schutzfunktion und
       überdeckt die albtraumhafte Erfahrung von Gewalt und Tod sowie die bohrende
       Frage, ob der Euro-Maidan nicht wie die Orange Revolution gescheitert sei.
       Es gibt allerdings zivilgesellschaftliche Initiativen und
       Architekturprojekte wie Terra Dignitas, die den Maidan als Ort
       interpretieren, an dem die Ukraine wirklich unabhängig wurde und die
       postsowjetische Zeit in die Erinnerung verabschiedet wird.
       
       29 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Kratochvil
       
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