# taz.de -- Unkonventionelle Tierhaltung: Das Säugen der Kälber
       
       > In der konventionellen Milchviehhaltung werden die Kälber oft kurz nach
       > der Geburt von ihren Müttern getrennt. Ein Hof in Schleswig-Holstein
       > macht es anders
       
 (IMG) Bild: Große Box, viel Nähe und echte Euter: Die Kuh gibt mehr als einfach nur Milch an ihr Kalb ab“
       
       FREDEBURG taz | Es ist kurz nach 17 Uhr, als für sieben Kälber in ihrem
       Fredeburger Stall die Sonne aufgeht. Sie stürzen durch das geöffnete Gatter
       auf ihre Mütter zu, begrüßen sie stürmisch und beginnen zu trinken. Die
       Domäne Fredeburg, etwa 50 Kilometer östlich von Hamburg im Herzogtum
       Lauenburg gelegen, betreibt seit etwa dreieinhalb Jahren die sogenannte
       muttergebundene Kälberaufzucht. Hier werden die Kälber nicht wie sonst in
       der Milchviehhaltung üblich kurz nach der Geburt von der Mutter getrennt.
       Es ist der Versuch, die Aufzucht von Kälbern so stressfrei für die Tiere
       wie möglich zu gestalten.
       
       Die Domäne Fredeburg ist ein Bio-Hof. Vier Familien haben vor mehr als 25
       Jahren den gemeinsamen Hof gegründet und bewirtschaften ihn nach
       Demeter-Richtlinien. Außer den Milchkühen gibt es Schweine, Hühner,
       Ackerbau und eine eigene Käserei. Die Arbeit haben sich die Betreiber
       aufgeteilt. Milchbauer Florian Gleißner ist für die Kühe zuständig. Seine
       Herde umfasst 33 Kühe und derzeit 14 Kälber, die unterschiedlich alt sind.
       Da ist zum Beispiel die erst vor wenigen Tagen geborene Undine, die mit
       zwei weiteren Kälbern bei ihrer Mutter in einer Extra-Box steht. Oder die
       etwa vier Monate alten Kälber, die nicht mehr gesäugt werden, sondern schon
       Heulage, Schrot und Möhren bekommen.
       
       Mütter und Kälber verbringen auf dem Hof drei Wochen Tag und Nacht in einer
       mit Stroh eingestreuten Box, danach werden sie schrittweise entwöhnt. Die
       Kälber sind während dieser Entwöhnungsphase alle zusammen in einer Box
       untergebracht, die Milchbauer Gleißner den „Kindergarten“ nennt. Derzeit
       sind sieben Kälber im Kindergarten und die dürfen zweimal am Tag zu ihren
       Müttern, um zu trinken. Aber bevor die Kälber dran sind, werden die Mütter
       gemolken.
       
       Jeweils vier Kühe passen gleichzeitig in den Melkstand. Gleißner putzt erst
       mal die Euter. „Wir machen hier eigenen Rohmilchkäse und müssen daher
       besonders darauf achten, dass keine Verschmutzungen in die Milch kommen“,
       erklärt er. Dann melkt er von Hand einige Spritzer in einen Topf, um die
       Milch zu überprüfen. Ist alles in Ordnung, wird die Melkmaschine
       angeschlossen. Gleißner muss genau darauf achten, welches Tier er da
       eigentlich vor sich hat. Denn die Kühe, die noch säugen, dürfen nicht ganz
       leer gemolken werden. „Das ist eine Daumenpeilung, das weiß man nie so
       genau“, sagt er. Um so genauer beobachtet er seine Kälber: Wachsen und
       gedeihen sie, hat seine Daumenpeilung gestimmt. „Man muss auf die
       tierindividuellen Unterschiede achten. Wenn man dazu nicht die Bereitschaft
       hat, sollte man diese Art der Kälberaufzucht lieber lassen.“
       
       ## „Die saufen einem die Haare vom Kopf“
       
       Das Paradox, das der Milchviehhaltung zugrunde liegt, geht so: Kühe müssen,
       um Milch zu geben, jedes Jahr ein Kalb bekommen. Die Milch aber soll an die
       Molkereien verkauft werden. Hätte das Kalb freien Zugriff auf die Milch
       seiner Mutter, lohnte sich der Verkauf der restlichen Milch kaum. Denn die
       Kälber, das sagt auch Gleißner, „saufen einem die Haare vom Kopf“, wenn man
       sie lässt. Darum werden die Kälber in der konventionellen Milchviehhaltung
       oft schon Minuten, manchmal Stunden nach der Geburt von ihren Müttern
       getrennt und dann aus Saugeimern ernährt.
       
       Dass in der konventionellen Tierhaltung die Kälber von ihren Müttern
       getrennt werden, hat aber noch einen anderen Grund. „Wenn man sie erst nach
       einigen Monaten trennt, kann es sein, dass das Kalb in den Hungerstreik
       tritt, und sowohl die Kuh als auch das Kalb brüllen nacheinander“, sagt
       Gleißner.
       
       Er kommt aus der Stadt und studierte nach seiner landwirtschaftlichen
       Ausbildung Öko-Landbau. Bis vor dreieinhalb Jahren setzte Gleißner auf die
       frühe Trennung von Kalb und Mutter. „Irgendwann hatte ich aber das Gefühl,
       dass man permanent gegen die Natur arbeitet.“ Er informierte sich, belegte
       Seminare, schaute sich Höfe an, die die muttergebundene Kälberaufzucht
       schon länger praktizieren. Meist sind es Bio-Höfe mit kleineren Herden so
       wie die Domäne Fredeburg.
       
       Wie viele Höfe in Deutschland diese Art der Aufzucht betreiben, weiß
       keiner. Die Initiative Kuh+Du von der Welttierschutzgesellschaft hat zwar
       eine Liste erstellt, die fortwährend ergänzt wird. Aber die erhebt
       keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Auch der Niedersächsische
       Bauernverband hat keine Zahlen, in Schleswig-Holstein weiß man von fünf
       Höfen, die ihre Kälber länger bei den Müttern lassen: Einer ist in
       Lentföhrden im Kreis Segeberg, einer in Lutzhorn im Kreis Pinneberg,
       weitere gibt es im lauenburgischen Fuhlenhagen und in der Nähe von Kloster
       Cismar. Und eben die Domäne Fredeburg.
       
       Ebenfalls in Schleswig-Holstein, in Futterkamp, betreibt die
       Landwirtschaftskammer ein Lehr- und Versuchszentrum (LVZ). Dazu gehöhrt ein
       Milchviehbetrieb mit 200 Kühen. Hans-Jürgen Kunz ist im LVZ für das Thema
       Kälberaufzucht verantwortlich und kein Freund der muttergebundenen
       Variante. „Erstmal muss man klären, was damit überhaupt gemeint sein soll“,
       sagt Kunz. „Unter dem Schlagwort wird einem ja viel verkauft.“ Er verstehe
       darunter, dass die Kälber mindestens acht Monate bei ihren Müttern bleiben.
       „Entweder ganz oder gar nicht“, sagt Kunz – und plädiert für gar nicht.
       „Das ist besser als so ein Pseudo-Dings.“ Da werden Kälber nicht satt und
       der Trennungsschmerz verlängere sich bloß.
       
       ## „Die Kälber müssen satt ernährt werden“
       
       Im LVZ arbeiten sie mit der ad-libitum-Tränke – was aus dem Lateinischen
       übersetzt so viel wie „nach Gutdünken oder „nach Belieben“ bedeutet. Die
       Kälber können also immer so viel Milch trinken, wie sie wollen. Aber eben
       aus dem Eimer und nicht aus dem Euter. „Die Kälber müssen satt ernährt
       werden, dann werden sie proper“, sagt Kunz. Zugefüttertes Heu reiche da
       nicht aus.
       
       „Das wird oft sehr schwarz-weiß gesehen“, sagt Gleißner. Trotz seiner guten
       Erfahrungen möchte er „auf gar keinen Fall Kollegen an den Pranger stellen,
       die das nicht – oder noch nicht – so machen“. Es komme auch immer auf die
       jeweiligen Gegebenheiten im Betrieb an, auf die Stallgröße, auf die
       vorhandene Flächen. „Es macht nicht mehr, aber auch nicht weniger Arbeit
       als vorher“, sagt Gleissner. „Natürlich habe auch ich mich anfangs gefragt:
       Wie kriegt man das hin, dass die Kälber trinken und zufrieden sind, aber
       trotzdem noch genug Milch für den Verkauf und die Käserei übrigbleibt?“ Er
       sagt, man bekomme durch die andere Art der Aufzucht einfach einen anderen
       Blick. „Man guckt nicht mehr, ob der Eimer leer ist, sondern, ob es den
       Kälbern gutgeht.“
       
       „Seit wir auf die muttergebundene Aufzucht umgestellt haben, gibt es
       weniger kranke Kälber“, sagt er. „Und wenn mal was kommt, dann haut die das
       nicht gleich um.“ Robuster seien die Kälber durch diese Art der Aufzucht.
       Der Ansatz habe noch einen weiteren Vorteil: „Sie bekommen durch das
       Trinken am Euter auch soziale Körperpflege, da wird geschleckt und
       geschmust. Da wird noch mehr ans Kalb abgegeben als einfach nur Milch.“
       
       12 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karolina Meyer-Schilf
       
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