# taz.de -- Toleranz in Märchen: Nur wenige werden „erlöst“
       
       > Däumling, der Bucklige, das Mädchen ohne Hände: In Märchen sind
       > behinderte Figuren oft Sympathieträger. Das Ziel: die Akzeptanz des
       > Andersseins.
       
 (IMG) Bild: Anderssein: Im Märchen ist das nichts Ungewöhnliches
       
       Kaum ein Zeitung, die Inklusion nicht schon einmal als Märchen bezeichnet
       hat. Märchen im Sinne von Lüge, von „geht doch nicht“. Dabei können wir uns
       viel abschauen von Märchen. Denn sie erzählen von Wundern, Flüchen und
       nicht selten auch von Menschen, die alles andere als perfekt und gerade
       deshalb besonders sind.
       
       In etwa 80 von 200 Märchen der Brüder Grimm tauchen Figuren mit
       körperlicher oder geistiger Behinderungen auf. Meist sind sie für ihre
       Behinderungen nicht selbst verantwortlich, meist werden sie als
       selbstständig dargestellt. Besonders Figuren mit geistiger Behinderung
       gelten oft als überaus fürsorglich.
       
       Die schöne Prinzessin war anfangs ein armes Mädchen, der tapfere Prinz galt
       als dümmster der drei Brüder. Es gibt den Buckligen, den Däumling, das
       Mädchen ohne Hände. Das vergessen wir gerne, weil wir uns oft nur an das
       glückliche Ende eines Märchens erinnern.
       
       Dabei erzählen Märchen sehr häufig von gesellschaftlichen Außenseitern die
       mit Hilfe von Zaubereien oder wundersamen Begegnungen ihre Situationen und
       die Vorurteile der anderen überwinden. Märchenfiguren mit Behinderung sind
       häufig Sympathieträger.
       
       ## Nur wenige werden „erlöst“
       
       Wie mit behinderten Figuren in Märchen besonders beim Happy End umgegangen
       wird, hängt vor allem davon ab, wann die Behinderung eingetreten ist. Wenn
       die Behinderung von Anfang an Teil des Märchens ist, ist die
       Wahrscheinlichkeit groß, dass die Figur sie auch am Ende behält. Nur wenige
       werden „erlöst“.
       
       Ein typisches Beispiel sind die Geschichten über Däumlinge, die zwar
       aufgrund ihrer Tapferkeit oder ihrer Klugheit über sich hinauswachsen aber
       dabei ihre tatsächliche Größe behalten. Tritt die Behinderung erst im Laufe
       der Erzählung auf, etwa durch eine Bestrafung, einen Fluch oder sogar als
       Opfer für andere, wird sie am Ende aufgelöst. Auf diese Weise bekommt etwa
       das Mädchen ohne Hände am Schluss ihre Hände wieder, die sie zu Beginn für
       ihren Vater opfern musste.
       
       In Märchen steckt also häufig Toleranz. Denn anders als in modernen
       Erzählungen hängt das Glück der Menschen nicht an der Auflösung der
       Behinderung. Das Mädchen ohne Hände ist bereits wieder mit Mann und Kind
       vereint, noch bevor sie ihre Hände wiederbekommt.
       
       Viele der Märchen stellen damit einen sehr inklusiven Gedanken in den
       Mittelpunkt der Geschichte: Der Glaube an sich selbst und die Akzeptanz des
       Andersseins ist das eigentliche Ziel, die Auflösung der Behinderung
       erscheint nur als Zugabe. Wir sollten daran denken, wenn also das nächste
       Mal die Idee der Inklusion als Märchen verschrien wird.
       
       2 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tanja Kollodzieyski
       
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