# taz.de -- Klassengesellschaft in Deutschland: Rückkehr nach Flörsheim
       
       > Unsere Autorin las Didier Eribon – und fühlte sich zum ersten Mal
       > verstanden. Sie weiß, was es bedeutet, den gesellschaftlichen Aufstieg zu
       > wagen.
       
 (IMG) Bild: „Piepmatz, guck einmal!“ Papa, Doris und Johnny, 1975
       
       BERLIN taz | „Wie? Nicht mal Religionslehrerin wirst du?“ Das ist einer von
       meinen Gespenstersätzen. Er stammt von meiner Mutter und steht in meinem
       Erinnerungsregal mit ihren Sinnsprüchen gleich neben „Du glaubst wohl, du
       bist was Besseres.“ Erwachsen ist man, wenn man feststellt, dass die
       Gespenster der Vergangenheit keine weißen Bettlaken tragen, nicht fliegen
       und nicht „Hui“ sagen. Sondern wenn man feststellt, dass die Sätze der
       Eltern die Gespenster sind, die man nicht los wird.
       
       Den Satz mit der Religionslehrerin sagte meine Mutter zu mir, als ich
       versuchte, ihr zu erklären, was ich an der Uni treibe. Zugegeben, mit
       Religionswissenschaft habe ich es ihr nicht gerade leicht gemacht. Selbst
       Leute mit bürgerlichem Hintergrund und Hochschulabschluss in Germanistik
       wissen nicht, was das ist. Wenn ich meine Mutter an ihren Satz erinnere,
       lacht sie und sagt: „Stimmte doch auch.“ Stimmte ja auch. Ich bin keine
       Religionslehrerin. Sie versteht nur bis heute nicht, warum ich den Satz
       trotzdem schlimm finde. So wie sie bis heute nicht versteht, dass ich
       Karlheinz Böhm nicht mag.
       
       „Was magst du eigentlich? Hauptsache dagegen“, hatte sie mir immer gesagt,
       wenn ich irgendwas, was sie gut fand, nicht so gut fand. Vielleicht hatte
       sie Recht. Ich war ein Papakind. Meine jüngere Schwester das Mamakind.
       Alles, was Mutter tat, dachte, mochte, war mir suspekt. So wie ihr suspekt
       war, was ich tat, dachte, mochte.
       
       Aber wie soll sie mich auch verstehen. Mich, der ich ihren Satz „Nicht
       einmal Religionslehrerin wirst du“ in den Stand eines Kronzeugen berief.
       Dort repräsentiert er das komplette Unverständnis einer Mutter aus der
       Arbeiterklasse für das, was ich mit meinem Leben anstellte. Und das stellte
       ich so an, wie ich es später bei dem Schriftsteller Saul Bellow gelesen
       hatte: „Ich gehe die Dinge im Freistil an, so wie ich es mir selbst
       beigebracht habe.“ Ohne Rücksicht auf Kontostand und Rente.
       
       Ätzende Enge in Arbeiterhaushalten 
       
       Als ich diesen Sommer „Rückkehr nach Reims“ las, das autobiografische Buch
       des französischen Soziologen Didier Eribon, hatte ich ein Gefühl, das
       derzeit wohl vor allem AfD-Wähler haben: „Endlich sagt mal jemand, wie es
       ist.“ Und nicht nur, weil mich der Satz seiner Mutter – „Soziologie? Hat
       das was mit der Gesellschaft zu tun?“ – an meine Mutter erinnerte. Ich bin
       weder homosexuell noch Universitätsprofessorin, und auch in vielen anderen
       Details unterscheidet sich meine Familie deutlich von der Eribons.
       
       Trotzdem: Es war das erste Mal, dass jemand in meiner linken, bürgerlichen
       Filterblase über seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie so über diese
       redete, wie es Linke nicht so gern hören: wie ätzend eng es in
       Arbeiterhaushalten ist, räumlich, ökonomisch, geistig und emotional. Er
       thematisiert, was für bürgerliche Linke kein Thema ist: Dass man als Exot
       mit proletarischer Herkunft keinen profitablen Sonderstatus in der
       bürgerlichen Welt hat, sondern einen hohen Preis zahlt: den radikalen Bruch
       mit der eigenen Herkunft, die man dennoch nicht los wird.
       
       Als Klassenflüchtling musste ich alles neu lernen: wie man denkt, spricht,
       sich benimmt. Das heißt lernen, was es überhaupt bedeutet, sich mit einem
       Gegenstand auseinanderzusetzen. „Ach, du immer mit deinen Ideen“, beendete
       meine Mutter jedes Gespräch, das meine Fragen an die Welt, an sie, an mich
       zum Gegenstand hatte. Als Lohnabhängige hatte sie nichts zu verschenken und
       zu verschwenden. Auch keinen Gedanken an Weltsichten, an denen sie
       vielleicht auch festhielt, damit sie wenigstens irgendein Kapital hatte,
       das sicher war.
       
       „Von dir erwarte ich sowieso nichts mehr“, lautete das Fazit meiner Mutter
       schon zu Zeiten, als ich lieber in den Bücherbus stieg, um in der
       Erwachsenenabteilung Thomas Manns „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix
       Krull“ auszuleihen, anstatt mit meiner Mutter die Prospekte vom Supermarkt
       nach Angeboten zu durchstöbern. Ich hatte keine Ahnung, wer Thomas Mann
       war. Aber das Wort „Hochstapler“ klang halt aufregend und erinnerte mich an
       die Sendung, von der meine Mutter keine Folge verpasste: „Aktenzeichen XY …
       ungelöst“.
       
       Meine Mutter hatte nur ein paar Jahre auf einer Schule verbracht, war
       Textilreinigerin, Hausfrau, Putzfrau, Küchenhilfe in dem
       Kleinstadtkrankenhaus im Südhessischen, in dem sie mich geboren hatte. Ich
       hatte nichts dagegen, dass sie an SOS-Kinderdörfer spendete. Dass sie mir
       bis ich 14 war, nur 5 Mark Taschengeld im Monat gab. Aber, dass sie ich die
       von der Nachbarstochter abgelegten Winterjacken aus Kunstschaffell tragen
       musste und sie mir in den Spendenbriefumschlag für die Schule nur ein
       50-Pfennig-Stück legte, fand ich unmöglich.
       
       „Bei den anderen Kindern klimpert es nie im Briefumschlag.“ „Die sind ja
       auch reich.“ Was mir damals total peinlich war, wofür ich mich schämte und
       wofür ich meine Mutter hasste, kann ich heute als souveränen
       Klassenstandpunkt betrachten. Aber erzählen Sie mal Sechstklässlern was von
       Klassenstandpunkten.
       
       „Du bist doch so schlau“ 
       
       Meine Mutter hatte keine Ahnung, was Klasse bedeutete. Sie sprach von „den
       kleinen Leuten“, so wie sie auch von „den Ausländern“ sprach, obwohl sie
       selbst mit einem verheiratet war und eine ihrer Töchter, ich, eine
       Aufenthaltsgenehmigung brauchte.
       
       „Was soll nur aus dir werden?“ Diese rhetorische Frage stellen Mütter und
       Väter klassenübergreifend. Auch meiner Schwester stellte meine Mutter diese
       Frage. Die aber hatte sich irgendwann entschieden, eine Ausbildung zur
       Hotelfachfrau zu machen. Mutter gefiel das. Wenn ich sie allerdings fragte,
       was denn ihrer Meinung nach aus mir werden solle, antwortete sie: „Das
       musst du doch wissen. Du bist doch sonst so schlau.“ Ihr einziger Vorschlag
       für meine Karriereplanung lautete: „Warum gehst du nicht ins Fernsehen. Zu
       ‚Wer wird Millionär?‘. Wozu bist du denn sonst so schlau?“
       
       Wie wenig schlau ich wirklich war, wusste sie nicht. Ein Selbstversuch: Ich
       scheitere auf der Website der Sendung schon bei der 1.000-Euro-Frage. Zum
       Schlaumachen hielt man sich bei uns zu Hause vor allem einen Fernseher.
       Samstags wurde das Programm erweitert, meine jüngere Schwester und ich in
       den „Lottoladen“ geschickt, um die Bild-Zeitung zu kaufen und den
       Lottoschein mit Spiel 77 abzugeben.
       
       Auf dem kleinen Bücherregal (Möbelhausware, Eiche rustikal) in unserem
       Wohnzimmer standen: ein Atlas, zwei Bände Konsalik, ein Simmel, Putzos „Der
       Pate“, Falladas „Kleiner Mann was nun“ und „Der eiserne Gustav“, „Wir
       Kinder vom Bahnhof Zoo“ und „Nicht ohne meine Tochter“. Dann waren da noch
       einige Deutsch-Lehrbücher meines Vaters, ein Band kroatische Märchen und
       Émile Zolas „Germinal“, von dem bis heute niemand weiß, wie er überhaupt in
       unser Wohnzimmer kam. Ebenso unbekannt blieb bis heute dessen Inhalt,
       Arbeiterkämpfe in einem Bergwerk im 19. Jahrhundert.
       
       Während die Bücher so wie die bunten Römergläser in der Vitrine vor allem
       als Deko fungierten, waren die Platten in den zwei Taschen aus Kunstleder
       mindestens so oft im Gebrauch wie der Videorecorder: Neben Beatles, Abba,
       jugoslawischen Chansons, Heintje, Karel Gott und Bruce Springsteen war es
       vor allem Miles Davis: „Porgy & Bess“, „Fahrstuhl zum Schafott“, „Sketches
       of Spain“.
       
       „Zu Gast“ in Deutschland 
       
       Mein Vater verehrte Miles Davis, weil der, wie mein Vater sagte, „immer auf
       der Flucht“ war. Immer auf der Suche nach dem Neuen. Mein Vater war alles
       andere als ein Jazzkenner. Er war Baustellenarbeiter, Küchenmonteur und
       arbeitete für die US-Army in Hessen. Vielleicht verehrte mein Vater Miles
       Davis, weil er selbst als jugoslawischer Marinesoldat die neue Welt bereist
       hatte. Vielleicht weil er vor seiner Vergangenheit floh, in der die Nazis
       seine Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel ermordet hatten, worüber er nie
       redete. Vielleicht wurde er deswegen zu einem großen Gesellschafter, der
       immer Leute um sich haben musste, immer die ganz großen Feste feiern
       musste, auf denen er der Unterhalter war. Nie blickte er zurück, immer nur
       nach vorne.
       
       Aber auch mein Vater konnte mir nicht sagen, wo ich mich umschauen könnte,
       damit ich es einmal besser habe. Aber er erwartete von mir auch nicht, dass
       ich irgendeinen Job hatte, sondern dass ich auf Familienfesten nicht mein
       Lieblingsjackett vom Flohmarkt trug, sondern das grellgrüne Damenjackett
       mit den Schulterpolstern, das er mir gekauft hatte. Er erwartete, dass ich
       so schwimmen können sollte wie Esther Williams, dass ich sonntags in die
       Kirche ging, während er im Radio jugoslawischen Gastarbeiterfunk hörte. Und
       er erwartete, dass ich mich politisch nicht so vorlaut äußere, weil wir in
       diesem Land „zu Gast“ seien und uns nicht darüber beschweren dürften, wie
       wir hier behandelt werden. „Sonst schmeißen die mich hier raus, und ich
       werde arbeitslos.“
       
       Anfang der 80er Jahre, Wirtschaftskrise, mein Vater wurde arbeitslos. Die
       große Mietwohnung mit der großzügigen amerikanischen Küche wurde zu teuer.
       Meine Mutter impfte mir und meiner Schwester ein, niemandem davon zu
       erzählen, dass unser Vater nun „schwarz arbeite“. Wir hatten beide keine
       Ahnung, was das überhaupt hieß, und stellten uns vor, dass er sehr
       dreckige, aber auch sehr geheimnisvolle Arbeit machen musste.
       
       Als ich in der 7. Klasse ein Schülerpraktikum machen sollte, war das
       Geschrei dann groß. Meine Schulfreundinnen, deren Eltern Deutsch- und
       Kunstlehrer waren, gingen zu Verlagen und Siebdruckereien. Ich weiß bis
       heute nicht genau, was eine Siebdruckerei so macht, damals hätte ich gerne
       näher gewusst, was es mit der Schwarzarbeit auf sich hat. Aber mein Vater
       hatte sich schon beim Nachbarn unter uns informiert, der einen dubiosen,
       aber florierenden Metallhandel führte. Er kam mit der Information zurück,
       dass sich derzeit als Bauzeichner oder Zahntechniker gutes Geld verdienen
       lasse. Was ein Bauzeichner genau machte, fand ich nicht heraus, ein
       Internet gab es damals noch nicht, und außerdem hatte ich genug von den
       Baustellen, auf denen ich meinem Vater geholfen hatte, Küchen- und
       Werkzeugteile durch die Gegend zu tragen. Und an anderer Leute Zähne
       herumzufummeln, hatte ich auch keine Lust.
       
       Stattdessen landete ich bei einem Optiker in Wiesbaden. Wie ich auf Optiker
       kam, weiß ich nicht, ich trug ja nicht einmal eine Brille. Auf der Suche
       nach einem Beruf hatte ich die Gelben Seiten durchgeblättert, und die
       Anzeige des Optikers hatte mir wohl gefallen.
       
       Ich schmiss dann ein paar Wochen lang die Brillen von Heinz Schenk, von
       Schimanski und von Roncalli-Gründer Bernhard Paul in den
       Ultraschallreiniger. Danach war ich einen Schritt weiter: Optikerin würde
       ich nicht werden.
       
       Meiner Mutter gefiel das nicht. Heinz Schenk und Schimanski fand sie ja
       gut. Was ihr auch gefallen hätte, wäre, wenn ich Gärtnerin, Tierpflegerin
       oder Supermarktkassiererin geworden wäre. Echte Berufe eben. Erwartet hat
       sie von mir nicht, dass ich mich in der Welt der anderen Leute umschaue.
       Und noch weniger, dass ich mir für diese andere Welt eine
       Aufenthaltsgenehmigung besorgte. Ich flüchtete aus ihrer Welt. Aus der Welt
       der Arbeiterklasse.
       
       „Akrap droht Haftstrafe“ 
       
       Ich ging auf Demonstrationen gegen die Abschaffung des Asylrechts und
       gründete eine linksradikale Spaßpartei. Eines morgens weckte mich mein
       Vater mit dem Lokalblatt in der Hand, auf dessen Titel in großen Lettern
       stand: „Akrap droht Haftstrafe“. Weil ich als Ausländerin bei den
       Stadtparlamentswahlen kandidierte, hatten lokale Politiker versucht, mir
       Angst einzujagen. Angst hatte nun aber vor allem mein Vater, weil nachts
       mehrfach jemand anrief und „Scheiß Ausländer! Euch sollte man vergasen!“
       ins Telefon brüllte.
       
       Ich bildete mir lange ein, dass ich zu den Linken und den Bürgerlichen
       ging, um etwas zu tun, damit meine Eltern es später mal besser haben
       würden. Und lange war ich der Meinung, dass nicht ich es war, die gegangen
       ist, sondern dass ich zu Hause unerwünscht war. „Dann geh doch, wenn es dir
       nicht passt“ ist noch so ein Gespenstersatz aus der unveröffentlichten
       Anthologie „Mutters Sätze“.
       
       Ein Jahr vor dem Abi zog ich von zu Hause aus. Die Streitereien mit meiner
       Mutter waren zu heftig geworden, wir brachen den Kontakt ab. Da ich kein
       Geld hatte, ging ich auf einen besetzten Bauwagenplatz und putzte bei einem
       maoistischen Motorradhändler die Wohnung. Dann starb mein Vater, kurz bevor
       ich Abitur machte, und meine Mutter und ich näherten uns wieder an. Als sie
       hörte, dass ich putzen ging, blühte sie auf. Endlich ein Thema, über das
       sie mit mir reden konnte, ein Terrain, auf dem sie sich sicher fühlte, mir
       etwas erklären konnte. Auch sie hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen in
       Mecklenburg-Vorpommern stammend, ihr ganzes Leben selbst finanzieren
       müssen. In ihren Augen war ich jetzt nicht mehr ein Sonderling, sondern mit
       ihr auf Augenhöhe oder besser auf Kniehöhe, die Fliesen schrubbend.
       
       Als ich dann aber bei den Linken blieb und zu den Studenten ging, hatte sie
       erwartet, dass ich heroinabhängig werde und unter Brücken schlafe. Nicht
       erwartet hatte sie, dass sich mein Leben mehr oder weniger so abspielen
       würde wie jedes andere auch: in einer Wohnung mit Küche und Bad, an einem
       bezahlten Arbeitsplatz, auf Betriebsfeiern und an Urlaubsorten, die von
       Chartermaschinen angeflogen werden.
       
       „Ja, ja, Madame geht zur Universität. Bildest dir wohl was drauf ein“,
       sagte sie mit Vorliebe dann zu mir, wenn ich versuchte, ihre Meinung über
       Linke – „Die reden auch viel, wenn der Tag lang ist, anstatt zu arbeiten“ –
       auszureden. Auf der Universität begegnete ich linken Studenten, die sich
       darüber empörten, dass der Studentenrabatt für den öffentlichen Nahverkehr
       gestrichen wurde. Wenn ich denen sagte, dass der Studentenrabatt kein
       Menschenrecht sei und meine putzende Mutter auch den vollen Preis für das
       Busticket zahlen musste, guckten die mich nur komisch an.
       
       Als ich meinen ersten Job als Redakteurin bei einer großen Boulevardzeitung
       hatte, wusste ich: Meinen linken Freunden würde das überhaupt nicht
       gefallen. Aber ich hoffte, wenigstens meiner Mutter ein Mal imponieren zu
       können: Ich machte Geschichten über Pferde und Fußballer und saß bei der
       Schwimmerin Britta Steffen auf dem Schoß. Glücklicherweise saß Britta
       Steffen dann auch bald bei „Wetten, das..?“ im Fernsehen – und als ich zu
       Weihnachten mit ein paar Ausgaben der BZ nach Hause kam, feierten wir zum
       ersten Mal seit dem Tod meines Vaters wieder ein fröhliches Weihnachtsfest.
       
       Im Überschwang hatte ich Karten für etwas besorgt, von dem ich dachte, ich
       würde meiner Mutter damit eine Riesenfreude machen: „Schwanensee on Ice“,
       dargeboten vom russischen Staatsballett in der Alten Oper in Frankfurt.
       
       Die drei Stunden auf den billigsten Plätzen waren die Hölle. Ich strengte
       mich an, alles toll zu finden, sagte bei jeder artistischen Einlage „Wow“
       und „Guck mal“. Meine Mutter aber war ultragelangweilt und ärgerte sich,
       dass sie wegen des „Gehampels“ die TV-Aufzeichnung des Konzerts von Semino
       Rossi verpasst hatte, ihrem Lieblingsschlagersänger, der ein paar Wochen
       vorher in derselben Oper aufgetreten war.
       
       Didier Eribons Buch las ich im Sommer am Strand des kroatischen Dorfs, in
       dem mein Vater sich seinen kleinen Traum vom Haus am Meer selbst
       zusammengezimmert hatte. Meine Schwester war da. Wir stritten uns. Auch,
       weil die Lektüre Eribons die Erinnerungen an unsere gemeinsame
       Vergangenheit hochspülte. Ich warf ihr „Ressentiments“ vor. „Du und deine
       Ressentiments. Hauptsache, du weißt, was das ist“, antwortete sie.
       
       Linke arrogante Kinder 
       
       Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich befand kürzlich, Didier Eribon
       hätte seinen Eltern halt mal früher erklären sollen, was er so mache, dann
       wäre es auch nicht zu dem großen Bruch mit ihnen gekommen. Sie habe ihrer
       proletarischen Mutter schließlich auch immer erklärt, was sie so mache. Es
       sei kein Wunder, dass die Arbeiter rechts werden, wenn ihre linken Kinder
       so arrogant seien wie Eribon.
       
       Arrogant? Jemandem, der versucht zu verstehen, was er lange verdrängt hat,
       Arroganz vorzuwerfen, ist nicht gerade das Gegenteil von arrogant. Zudem
       ist Heidenreich einer Meinung mit Eribon: Die Linken sind schuld daran,
       dass die Arbeiter heute rechts wählen. Didier Eribons These, die
       hierzulande vor allem von bürgerlicher Seite begeistert rezipiert wurde,
       teile ich nicht gänzlich. Schon allein deswegen, weil mittlerweile völlig
       unklar ist, was und wo „links“ überhaupt sein soll. Und, weil Deutschland
       nicht Frankreich ist.
       
       Wenn ich meine Arbeitereltern fragte, warum sie eigentlich nie
       kommunistisch wählten und sie dann von Verbrechern sprachen, ist das auch
       ein Ergebnis deutscher Politik, die kriminalisierte, wer die Sache der
       Arbeiter radikal vertrat: Die Kommunistische Partei wurde 1933 von den
       Nazis und 1956 von der CDU verboten. Links war die deutsche Arbeiterklasse
       in der BRD vor allem in der Vorstellung bürgerlicher Linker. Aber nicht in
       der Realität.
       
       Meinen eigenen Arbeitereltern haben nie links, sondern konservativ gewählt.
       Und jetzt sitze ich da und frage mich, ob ich mich fragen muss, welchen
       Teil ich dazu beigetragen habe, dass meine Mutter nie links wurde. Das ist
       absurd.
       
       Es wird viel über den Arbeiter geredet. Aber den gibt es nun mal nicht.
       Auch für den Arbeiter gilt wie für jeden Bürger das Recht auf
       Individualität. Ich bin mir sicher, auch im Erinnerungsregal meiner Mutter
       gibt es einen Band „Tochters Sätze“, den sie immer wieder liest. Ich weiß,
       dass sie sich fragt, welchen Anteil sie daran hat, dass ich zu den anderen
       gegangen bin.
       
       Wenn wir darüber wirklich reden könnten, es könnte eine schöne
       Weihnachtsgeschichte werden. Dazu aber müssten wir auch darüber reden, was
       sie bei der Bundestagswahl wählt. Und das hab ich mich bisher noch nicht
       getraut.
       
       24 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Doris Akrap
       
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