# taz.de -- Essay über Reichsbürger: Bullerbü für Erwachsene
       
       > Es reicht nicht, Reichsbürger als Gaga-Nazis abzutun. Ihre Ideologie
       > kommt vor allem dort besonders gut an, wo der Staat auf dem Rückzug ist.
       
 (IMG) Bild: Keine Probleme, heile Welt: „Königreich Deutschland“
       
       Die Gaststätte war leer bis auf die zwei Männer. Ein Themenlokal, gestaltet
       wie ein Wirtshaus in den Alpen, Holzbalken, Steingut, deutsche
       Gemütlichkeit, ein billig gefertigtes Dekor. Die Gaststätte ist Teil der
       Indoorskihalle in Wittenburg, Mecklenburg-Vorpommern, irgendwo zwischen A24
       und Biosphärenreservat Schaalsee.
       
       Rüdiger Hoffmann, reichsideologischer Aktivist und Präsident des Vereins
       „Staatenlos.info“, hatte den Treffpunkt vorgeschlagen, obwohl er für alles
       steht, was er hasst: ein energieverschlingendes Monstrum, Anlageprojekt für
       ausländische Investoren, das das Landschaftsbild verschandelt. Trotzdem war
       wohl ihm und seinem Mitstreiter kein anderer Treffpunkt eingefallen.
       
       „Ich hab noch eine andere Umwelt kennengelernt. Saubere Luft, unberührte
       Natur. Offene Haustüren“, sagte Hoffmann.
       
       „DDR-mäßig“, sagte sein Begleiter.
       
       „Nein, Helmut. Für unsere Großeltern war das normal.“
       
       Es sind Sätze, die man so oder so ähnlich oft von Leuten hört, die dem
       Reichsbürgermilieu angehören. Die Szene ist zersplittert und zerstritten,
       aber alle eint das Gefühl, dass es eine heilere, bessere Welt gab, die im
       Zuge von Liberalisierung und Globalisierung verloren gegangen ist. Eine
       verklärte Vergangenheit ohne Genderforschung, Eurokrise und Hartz IV, kurz
       gesagt: ein Bullerbü für Erwachsene.
       
       Reichsbürger lieben es, aus dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von
       1913, der SHAEF-Gesetzgebung der Alliierten und der Haager Landordnung zu
       zitieren, aber man braucht keine völkerrechtliche Vorbildung, um ihre
       Kernthesen zu verstehen: Deutschland ist kein legitimer Staat, sondern eine
       Firma, die von obskuren Mächten gelenkt wird.
       
       Als Außenstehender fragt man sich, wie es sein kann, dass es Leute gibt,
       die solch eine geballte Ladung Bullshit für bare Münze nehmen. Aber wer
       sich länger mit ihnen unterhält, merkt, dass sich ihr Unmut aus Dingen
       speist, die viele Menschen umtreiben: Bankenrettung und Eurokrise,
       Umweltzerstörung und die zunehmende soziale Ungleichheit.
       
       ## Ein Sammelbecken
       
       Das ist die eine Seite. Bei wem die Thesen der Reichsbürger Gehör finden,
       der zählt in der Regel zu denen, die abgehängt sind von der globalisierten
       Moderne mit ihrer Vielfalt von Lebensstilen, Alltagskulturen und Werten.
       Sie fühlen sich durch die moderne Welt infrage gestellt, also stellen sie
       ihrerseits die moderne Welt infrage. Als Sammelbecken fängt das Milieu
       Menschen auf, die sich von den großen Parteien nicht mehr vertreten fühlen,
       und damit gehören auch die Reichsbürger zu dem Teil der Bevölkerung, über
       den dieser Tage viel gesprochen wird, weil er anderswo Trump und den Brexit
       hervorgebracht hat.
       
       Die Ideologie hat vor allem dort Fuß gefasst, wo der Staat auf dem Rückzug
       ist. Wo Bibliotheken, Schwimmbäder und Schulen schließen, wo Landkreise
       zusammen- und Bahnstrecken stillgelegt werden. An Orten also, wo der Staat
       kaum noch zu spüren ist und sich im Alltag nur noch in Form von maschinell
       angefertigten Briefen zeigt.
       
       Wirklich brisant wird es in Verbindung mit persönlichen Schicksalsschlägen:
       Viele haben eine Zwangsversteigerung oder eine Insolvenz hinter sich. Dann
       kann es sein, dass der Punkt kommt, an dem Menschen den Staat nicht nur als
       abwesend empfinden, sondern als feindselig. Von dort bis zu der Idee, dass
       die Bundesrepublik nichts ist als Kulisse für machtpolitische Spiele, ist
       es nur noch ein kleines Stück.
       
       Der Begriff „Reichsbürger“ ist unpräzise: Er definiert keinen Typus,
       sondern eher eine Skala. Auch Rechtsextremisten fühlen sich von den Thesen
       der Reichsbürger angesprochen, was kein Wunder ist, weil es Rechtsextreme
       waren, die sich das meiste davon ausgedacht haben: Der Rechtsterrorist
       Manfred Röder und der Holocaustleugner Horst Mahler haben die Thesen
       formuliert, aus denen Reichsbürger ihre Weltsicht konstruieren. Sie
       verfangen vor allem bei denen, die in der globalisierten Moderne keine
       Heimat mehr finden; also zimmern sie sich ein eigenes Reich zurecht. Eine
       Identität als betrogene Deutsche.
       
       Das ist die andere Seite: Revanchismus und Revisionismus sind unauflöslich
       Teil der Reichsbürgerideologie, ebenso wie antisemitische Stereotype. Denn
       letztlich fügen sich all die historischen und politischen Versatzstücke zu
       einer modernen Mythologie zusammen, die von einer weltweiten Verschwörung
       gegen das deutsche Volk handelt. Strippenzieher sind das
       US-Ostküstenfinanzkapital, die Rockefellers und die Rothschilds, also im
       Klartext: die Juden.
       
       Komplex wird die Sache dadurch, dass sich viele Reichsbürger nicht als
       rechts sehen. Den meisten geht es um eine Art Selbstermächtigung. Die
       Briefe, die sie an die Behörden schicken, seitenlange Traktate voll
       juristisch verschwurbelter Absurditäten, ahmen den Sprachduktus der Ämter
       nach – und greifen sie mit deren eigenen Mitteln an. Dann sind nicht sie
       es, die etwas bezahlen müssen, sondern die „Firma Finanzamt“ ist ihnen
       horrende Summen schuldig. Sie sind nicht mehr Empfänger von Forderungen,
       sondern Absender.
       
       ## Dunkle Alternativrealität
       
       In der US-Science-Fiction-Serie „Stranger Things“ gibt es eine
       Paralleldimension. Die Helden, eine Gruppe Kinder, nennen sie „The Upside
       Down“ – die Übersetzung „Die andere Seite“ spiegelt die
       Auf-den-Kopf-Gekehrtheit des englischen Originals nicht wider. Die Welt, in
       der sich Reichsbürger bewegen, kann man als das „Upside Down“ der
       Bürokratie bezeichnen: Alles in dieser verdrehten Alternativrealität
       spiegelt die wirklichen Gegebenheiten, nur dunkler, kälter und aufgeladen
       mit übernatürlichen Schrecken.
       
       Dokumente haben in ihrer Gedankenwelt etwas Okkultes; als hätten bestimmte
       Papiere die Macht, den Menschen Freiheit zu geben und vor Bedrohungen zu
       schützen. Dazu passt, dass manche Reichsbürgerdokumente mit einem blutigen
       Daumenabdruck signiert werden müssen – wie ein dämonischer Pakt im Märchen.
       
       Wahnvorstellungen und Paranoia mögen eine Rolle spielen bei dieser
       Ideologie, die in weiten Teilen klingt wie eine politische Gruppenpsychose.
       Aber damit lässt sich nicht erklären, wie weit die Thesen in die
       Bevölkerung eingesickert sind: Es gibt Lehrer, die kaum noch unterrichten
       können, weil Schüler in ihrer Klasse behaupten, die Bundesrepublik werde
       noch von den Alliierten kontrolliert. Es gibt Unternehmer, die
       Reichsbürger-Passus in ihre Werbeanzeigen eingliedern. Das Milieu hat sich
       in ganz Deutschland ausgebreitet, zugleich wächst an den Rändern die
       Radikalität. Immer häufiger kommen die Anhänger in den Ämtern vorbei und
       lassen ihre Wut an den Mitarbeitern aus. Reichsbürger gibt es seit Mitte
       der 80er. Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die viel
       militanter auftritt.
       
       Die Szene ist, wie die AfD oder Pegida, Ausdruck eines politischen
       Protests, der von rechts kommt und politisch entfremdete Normalbürger mit
       Neonazis im Hass auf die liberale Elite vereint. All diese Gruppen sind
       Anzeichen für Auflösungserscheinungen in der Mitte der Gesellschaft.
       Termini wie „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ zeugen davon, wie tief die
       Gräben sind. Im Internet kursieren Haftbefehle oder gar Todesurteile, die
       sich gegen missliebige Beamte und Kritiker richten. Oft beginnt es damit,
       dass Leute Wege suchen, die Rundfunkgebühren zu sparen. Wer danach googelt,
       stößt schnell auf Blogs oder YouTube-Channels von Reichsbürgern. Wer
       feststellt, dass die Mahnungen dann aufhören oder der Gerichtsvollzieher
       unverrichteter Dinge abzieht, erlebt einen Triumph – und wird sich in der
       Folge noch tiefer in die Reichsbürgerideologie verstricken.
       
       ## Geschlossenes Weltbild
       
       In der Folge wird der Staat zu immer härteren Druckmitteln greifen, und so
       mancher bringt sich letztendlich um Haus und Hof. Die Reichsbürger können
       ihre Versprechen nicht halten. Aber für die Demokratie sind solche Menschen
       oft verloren.
       
       Die sozialen Medien haben ihren Anteil daran, dass sich Menschen in solchen
       Phantasmen verstricken; die Algorithmen zeigen uns immer wieder nur das,
       was zu unseren bisherigen Klicks und Likes passt – jeder kann also in
       seiner geschlossenen Abteilung des Internets ein eigenes Weltbild
       entwerfen, das von den Tatsachen nicht mehr berührt wird.
       
       Aber es reicht nicht, Reichsbürger als Gaga-Nazis abzutun. Denn was sie
       sagen, ist nicht so bekloppt, wie es klingt. Es stimmt ja, dass eine
       Demokratie, in der Wirtschaftslobbyisten Einfluss auf die Gesetzgebung
       nehmen, zur Kulisse zu werden droht. „Deutschland GmbH“, sagen
       Reichsbürger, „Postdemokratie“ sagen Sozialwissenschaftler.
       
       Die Unterschiede liegen im Stil und in der logischen Herleitung; aber im
       Kern sagen beide das Gleiche: dass politische Akteure ihre Glaubwürdigkeit
       verlieren, wenn sich der Staat zunehmend mit multinationalen Konzernen
       vernetzt; dass Wahlen immer mehr zu einem folgenlosen Prozess werden, weil
       die Unterschiede zwischen den Parteien verschwimmen. So irre die Theorien
       der Reichsbürger auch klingen – die Bundesregierung treibt die
       Ökonomisierung des Gemeinwesens tatsächlich voran; wichtige Teile der
       staatlichen Verwaltung werden privatisiert, Public Privat Partnerships
       machen Schulgebäude, Feuerwachen und Straßen zum Anlageobjekt für
       Investoren. Hinzu kommt ein Unternehmensberatersprech, der in die
       öffentliche Verwaltung Einzug gehalten hat – man denke nur an die
       Arbeitsämter, die nun „Jobcenter“ heißen und „Kunden“ zu betreuen haben.
       
       Eine Demokratie aber, die sich nicht behauptet gegen wirtschaftliche
       Interessen, die Steuerflucht, Finanzspekulation und irrsinnigen Managerboni
       keine Grenzen setzt und nicht ernsthaft versucht, den immer größeren
       sozialen Unterschieden etwas entgegenzusetzen, verliert ihre Substanz. Dann
       scheint die Schlussfolgerung von der „Deutschland GmbH“ plötzlich gar nicht
       mehr so abwegig.
       
       3 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriela Keller
       
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       Gewissheiten, nur Mythen und Spirituelles. Dem Publikum gefällt's.