# taz.de -- Abschluss der 67. Berlinale: Fäuste und Begegnungen im Traum
       
       > Ein Goldener Bär für Ildikó Enyedi, Kossliks Worte zum Fall Deniz Yücel
       > und ein durchwachsener Wettbewerb – das war die Berlinale.
       
 (IMG) Bild: Ihr gelang ein außerordentlicher Film über die Liebe im Schlachthaus: die ungarische Regisseurin und Gewinnerin des Goldenen Bären, Ildikó Enyedi
       
       Und dann war da auf einmal Deniz Yücel. Überlebensgroß blickte das Gesicht
       des Türkei-Korrespondenten der Welt und ehemaligen taz-Kollegen von der
       Leinwand des Berlinale-Palasts. Yücel war am Dienstag in der Türkei wegen
       angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in
       Polizeigewahrsam genommen worden. Festivalleiter Dieter Kosslick
       informierte über den Fall und [1][zeigte sich, die linke Faust empor
       gereckt, solidarisch mit Yücel]: „Wir hoffen, dass du bald wieder
       freigelassen wirst.“
       
       Ein kurzer Einbruch der Wirklichkeit in die traditionsgemäß von Anke
       Engelke moderierte Abschlussgala der Berlinale am Samstag. Und eine starke
       Geste, mit der das Festival erneut deutlich machte, dass es ihm nicht nur
       um Filmkunst, sondern auch um die politische Situation in den Ländern geht,
       aus denen die Filme stammen. Da wenige Stunden zuvor der türkische
       Ministerpräsident Binali Yıldırım Tausende Menschen in Oberhausen auf das
       zur Wahl stehende Präsidialsystem Erdoğans hatte einschwören können,
       lieferte die Intervention Kosslicks einen gebotenen Kontrapunkt.
       
       Dann lief das Programm auch schon weiter. Schließlich mussten ja noch die
       Bären verteilt werden. Im Wettbewerb hatte es eine Reihe von Filmen
       gegeben, deren Setting vorwiegend privater Natur ist und die eher von
       familienartigen Konstellationen handeln als vom großen Ganzen. Daraus zu
       schließen, dass politische Fragen in diesem Jahrgang weniger stark im
       Vordergrund gestanden hätten, wäre aber falsch. Die Familien, Paare und
       Freundeskreise, die man im Verlauf der 67. Berlinale via Leinwand
       kennenlernen konnte, gaben sich oft als Teil eines gesellschaftlichen
       Zusammenhangs zu erkennen, der an Einzelschicksalen deutlich gemacht wurde.
       Mal mit mehr, mal mit weniger künstlerischem Erfolg.
       
       Freuen kann man sich uneingeschränkt über die große Gewinnerin dieses
       Jahrgangs, die ungarische Filmemacherin Ildikó Enyedi. Mit „Testről és
       lélekről“ (Körper und Seele), ihrem fünften Spielfilm, hat die 61-Jährige
       verdient den Goldenen Bären für den besten Film erhalten. Ihre Geschichte
       des ungleichen Paars Mária (Alexandra Borbély) und Endre (Géza Morcsányi),
       die sich als Arbeitskollegen in einem Schlachthaus begegnen und
       buchstäblich [2][über ihre Träume zueinander finden], verknüpft
       nüchtern-surreale Bildwelten mit absurder Komik.
       
       ## Gibt es Begehren im Falschen?
       
       Allein die Tieraufnahmen, mit denen der Film beginnt – ein Hirsch und eine
       Hirschkuh in zärtlicher Nähe – und die „Testről és lélekről“ wie ein
       Leitmotiv durchziehen, wären eines Bären würdig gewesen. Hinzu kommt das
       Zusammenspiel von Alexandra Borbély und Géza Morcsányi, die wie
       Schlafwandler durch einen Alltag streifen, in den immer wieder Mobbing,
       Korruption und Betrug bei der Rinderverarbeitung einbrechen.
       
       Borbélys wächserne Verletzlichkeit und Morcsányis verunsicherte
       Männlichkeit sind davon nur scheinbar unberührt. Sie stehen vielmehr als
       stummer Protest gegen Gleichgültigkeit und Haltungslosigkeit, als Exempel
       für ein unerschütterliches Begehren im Falschen. Inszeniert mit
       freundlich-distanzierten bis drastischen Mitteln.
       
       Enyedi, seit 2009 die erste Frau, die in der Berlinale mit dem Goldenen
       Bären ausgezeichnet wurde und die zudem den ersten ungarischen Film seit 42
       Jahren abgeliefert hat, dem in Berlin diese Ehre zukam, kann als Beleg
       dafür gelten, dass die Filmkunst, deren Vernachlässigung der Berlinale oft
       vorgeworfen wird, auf dem Festival ihren Platz hat.
       
       Diesmal sogar besonders prominent. Schon im Vorfeld war Enyedis Film
       favorisiert worden, obwohl es ernstzunehmende Konkurrenz gab, wenn auch
       nicht übermäßig viel.
       
       ## Kaurismäki bleibt sitzen
       
       Der finnische Altmeister Aki Kaurismäki etwa hatte mit „Toivon tuolla
       puolen“ (Die andere Seite der Hoffnung) [3][ein satirisches Plädoyer gegen
       die auf Abschottung setzende europäische Flüchtlingspolitik] beigesteuert
       und noch einmal alle Register seines Könnens gezogen. Wie er vor wenigen
       Tagen gegenüber der finnischen Presse ankündigte, soll dies sein letzter
       Film gewesen sein. Zu Recht bekam er dafür den Silbernen Bären für die
       beste Regie. Als einziger Preisträger ließ er sich die Trophäe zu seinem
       Sitzplatz bringen, da er keine Anstalten machte, auf die Bühne zu steigen.
       Hier könnte Alkohol im Spiel gewesen sein.
       
       Alkohol ist stets auch ein Begleiter der Filme des Koreaners Hong Sangsoo.
       Mit „Bamui haebyun-eoseo honja“ (On the Beach at Night Alone) hatte er
       diesmal seine Darstellerin Kim Minhee in das Zentrum einer Fluchtgeschichte
       gerückt. Ihre Rolle der Schauspielerin Younghee, die nach einer Affäre mit
       einem Regisseur im herbstlichen Hamburg zu sich kommen will und später,
       zurück in Korea, dem Regisseur – im Traum – noch einmal begegnet, gehörte
       in ihrer unberechenbaren, widersprüchlichen und immer ungekünstelt offenen
       Darbietung zu den stärksten schauspielerischen Leistungen überhaupt. Ihren
       Silbernen Bären nahm sie sichtlich gerührt entgegen.
       
       Hong Sangsoo war ebenfalls ein Vertreter der außereuropäischen Minderheit
       im Wettbewerb der Berlinale – zwei Drittel der Filme kamen aus EU-Ländern.
       Dass der japanische Kollege Sabu für seinen wunderbar eigensinnigen
       Killer-wird-Koch-Film „Mr. Long“ leer ausging, war schade. Die Auszeichnung
       mit dem Alfred-Bauer-Preis hätte man ihm eher gewünscht als der polnischen
       Regisseurin Agnieszka Holland, die mit „Pokot“ eine eher fragwürdige
       Öko-Thriller-Komödie vorgelegt hat.
       
       Die mutigen Filme fand man ohnehin nur vereinzelt. Thomas Arslans
       [4][Studie einer dysfunktionalen Familie] „Helle Nächte“ hatte mit dem
       Österreicher Georg Friedrich immerhin einen starken Hauptdarsteller, der
       sich denn auch über den Silbernen Bären für den besten Schauspieler freuen
       durfte – so sehr, dass er ihm seinen Kaugummi an die Pfote klebte –,
       insgesamt bot Arslan aber zu wenige große Momente, um wirklich zu
       begeistern.
       
       ## Überraschende Voten bleiben die Ausnahme
       
       Eine starke Hauptdarstellerin präsentierte wiederum der
       französisch-senegalesische Regisseur [5][Alain Gomis in „Félicité“]: Die
       Schauspielerin Véro Tshanda Beya verleiht ihrer Titelrolle bei aller Härte,
       die sie im Alltag Kinshasas aufbringen muss, gleichwohl eine unter vielen
       Schichten verborgene Sanftheit. Am Ende ist es ihr Spiel, das den Film
       zusammenhält, für den Gomis als Konsequenz den Großen Preis der Jury
       erhielt.
       
       Gomis war dabei einer der wenigen Filmemacher im Wettbewerb diesseits der
       fünfzig. Desgleichen sein rumänischer Kollege Călin Peter Netzer, dessen
       [6][unerschrockene Paarstudie] „Ana, mon amour“ lediglich einen Bären für
       eine Herausragende Künstlerische Leistung bekam: Der bewusst chronologisch
       durcheinandergewürfelte Schnitt Dana Bunescus, die sich über ihre Trophäe
       ehrlich überrascht zeigte, war in seinen scharfen Gegenüberstellungen aber
       allemal preiswürdig.
       
       Die Jury unter [7][Paul Verhoeven] hat damit in der überwiegenden Mehrheit
       nachvollziehbare Entscheidungen getroffen. Überraschende Voten blieben die
       Ausnahme. Einen großen US-amerikanischen Beitrag wie Jim Jarmuschs
       „Paterson“, der im vergangenen Jahr in Cannes lief, suchte man ebenso
       vergebens wie einen herausragenden Genrefilm, der es zum Beispiel mit der
       2016 in Venedig gezeigten klugen Science-Fiction-Aneignung „Arrival“ von
       Denis Villeneuve hätte aufnehmen können. Von einem deutschen Beitrag der
       Größenordnung eines „Toni Erdmann“ oder „Vor der Morgenröte“ ganz zu
       schweigen. Aber das Filmjahr hat ja erst begonnen.
       
       19 Feb 2017
       
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