# taz.de -- Die Wahrheit: Der Sieg des Untergrundwutbürgers
       
       > Die Berliner U-Bahn ist ein Tummelplatz für Extremindividualisten, die
       > vom Hauptstädter eisern ignoriert werden. Ist das immer richtig?
       
 (IMG) Bild: Holger Stahlknecht (CDU), Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt, hat immer einen Stahlstab für ein Stahlbad zur Hand
       
       Berlin ist die Stadt der Exzentriker und der Verrückten. Man begegnet ihnen
       allerorten. Die Grenze zwischen exzessiver Selbstverwirklichung und
       geistiger Wirrnis ist dabei nicht in jedem Falle klar ersichtlich. Aber den
       Einheimischen ist eine solche Unterscheidung auch gar nicht sonderlich
       wichtig, sie begegnen den bunten Vögeln und Vollmeisen im öffentlichen Raum
       einfach mit routiniertem Desinteresse. Ein Mann, der im Winter nur mit
       einem weißen Bademantel bekleidet die S-Bahn betritt, um aus voller Kehle
       das Lied Ein Bett im Kornfeld zu singen, bringt den echten Berliner
       allenfalls dazu, einmal kurz von seinem Mobiltelefon aufzublicken.
       
       Touristen erkennt man hingegen daran, dass sich bei ihnen eine solche
       Gewöhnung noch nicht eingestellt hat. Sie filmen aus sicherer Entfernung
       begeistert noch den harmlosesten Spinner, um daheim in Biberach der
       staunenden Verwandtschaft Beweismaterial dafür vorlegen zu können, wie
       wahnsinnig es in der Metropole zugehe. Der Berliner wird aus seiner
       stoischen Haltung hingegen nur dann aufgerüttelt, wenn einer der
       Extremindividualisten anfängt, bedrohlich zu wirken.
       
       Jüngst stieg ich am Alexanderplatz in eine U-Bahn, die auf die baldige
       Abfahrt ins schöne Hönow wartete. Der Waggon war schon dicht besetzt, doch
       noch immer drängten weitere Fahrgäste ins Innere. Die Bahn hatte sich noch
       nicht in Bewegung gesetzt, da ertönte plötzlich ein fürchterliches Gebrüll.
       Ich blickte erschrocken umher. Am anderen Ende des Wagens stand ein
       deutscher Mann, unauffällig gekleidet, mit einer Mütze auf dem Kopf und
       einem Rucksack auf dem Rücken. Er hätte ganz gewöhnlich ausgesehen, wäre da
       nicht sein Gesicht gewesen. Dessen Züge waren seltsam verzerrt, der Blick
       aus seinen blauen Augen starr und hasserfüllt. Er war eine Weile still,
       dann machte er wieder den Mund auf: „Dreckfotzendreck! – Raus! Raus!“
       
       Die Menschen in der näheren Umgebung des Mannes entfernten sich
       unauffällig, ihnen war inzwischen wohl etwas unbehaglich zumute. Der
       Schreihals durchstreifte nun den Wagen von einem Ende zum anderen, immer
       wieder Flüche ausstoßend, die stets mit den Worten „Raus! Raus!“ endeten.
       Und tatsächlich: Es leerte sich nun der ganze Wagen.
       
       Unterdessen stand das Großmaul plötzlich mir direkt gegenüber und glotzte
       mich an. Kurz überlegte ich, dem wilden Mann zu sagen, er solle gefälligst
       den Kopf zumachen. Aber dann ließ ich es doch bleiben. Was hatte es für
       einen Sinn, sich mit einem Irren anzulegen? Ich stieg also auch aus und
       quetschte mich in den inzwischen heillos überfüllten nächsten Wagen. Der
       Irre hatte nun tatsächlich einen ganzen Waggon fast für sich allein.
       
       Als ich nach wenigen Stationen wieder aus der U-Bahn ausstieg, schaute ich
       noch einmal in den Wagen des Grauens. Aber der wilde Mann war schon vor mir
       ausgestiegen. Immerhin hatte ich eines gelernt: Die Wutbürger unserer Tage
       können das Maul nur weit aufreißen, wenn der Rest der Menschen aus Angst
       den Mund hält.
       
       21 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Bittner
       
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