# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Über die Mathematik eines Kiezes
       
       > Den Vorschlag einer Kiez-Mathematik machten bereits mehrere
       > Schriftsteller: Danach müsse man etwa auch 2 plus 2 gleich 5 akzeptieren.
       
 (IMG) Bild: Es gibt bereits eine „Kiezökonomie“: Diese ist aber nicht-mathematisch. Ein Beispiel: Bei Mietstreitigkeiten es bis zur Räumung kommen lassen und für eine Verhinderung derselben sorgen.
       
       Der Schriftsteller Thomas Kapielski zitiert in seinem neuen Buch „Leuchten“
       einen „klugen Spötter“, der vorschlug, dem „Kiezdeutsch“ eine
       „Kiezmathematik“ beizugesellen – und diese „gemeingültig“ werden zu lassen
       – mindestens sie als eine solche anzuerkennen, wie das bereits beim
       „Kiezdeutsch“ geschehen ist – durch die Fleißarbeit unter anderem der
       Potsdamer Linguistin Heike Wiese. Den Vorschlag einer anderen, einer
       Kiez-Mathematik machten bereits mehrere Schriftsteller, was sie mit dem
       Toleranzgebot begründeten: Danach müsse man etwa auch 2 plus 2 gleich 5
       akzeptieren.
       
       Es gibt bereits eine „Kiezökonomie“, diese zeichnet sich aber dadurch aus,
       dass sie nichtmathematisch ist, zum Beispiel: Bei einer Mieterhöhung nicht
       reagieren, es bis zur Räumung kommen lassen – und dann mittels
       Mundpropaganda für eine Verhinderung derselben durch eine Blockade-Demo
       sorgen. Oder bei der Bebauung eines riesigen Ufergrundstücks an der Spree
       alle Register ziehen: vom Brief an den Investor über Flugblätter, eine Demo
       mit Transparenten und das Anzünden einer Uferpfahlramme der Baufirma bis
       zur Hoffnung auf einen neuen Bau-Staatssekretär.
       
       ## Rechenmaschine Mensch
       
       Die nichtmathematische Kiezökonomie ist genaugenommen eine
       vormathematische: Wenn der Wissenssoziologe Bruno Latour noch vor die
       Moderne zurückwill, also vor die Unterscheidung von Objekt und Subjekt,
       Natur und Kultur, Fakt und Fetisch, dann will die Kiezökonomie noch einmal
       vor Pythagoras zurück, also genau genommen dem Äquivalententausch
       zuvorkommen – und auf den Gabentausch bestehen. Denn könnte es nicht sein,
       dass die Pythagoreer, einst erfolgreiche Kaufleute, die etwa den Vorläufer
       des „Euro“ kreierten, die Wurzel allen Übels sind? Der Soziologe Marcel
       Mauss schrieb in „Die Gabe“ (1923/24): „Erst unsere Gesellschaften haben,
       vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem ‚ökonomischen Tier‘ gemacht.
       Es ist noch nicht lange her, seit er eine Maschine geworden ist – und gar
       eine Rechenmaschine.“
       
       Als der Zoologe Konrad Lorenz kurz den Kant-Lehrstuhl in Königsberg
       einnahm, las er natürlich Kant. Dabei störte ihn vor allem das Apriorische,
       dass die Gesetze der reinen Mathematik für Kant von jeder Erfahrung
       unabhängig, denknotwendig sind und daher eine absolute Geltung besitzen.
       Dies nannte Lorenz die Verabsolutierung einer Abstraktion. Abstraktionen
       können aber prinzipiell niemals absolut gelten, weil sie im Wortsinne
       bestimmte Merkmale eines Gegenstandes von ihm „abziehen“ und isoliert
       herausstellen, das heißt „Abstraktionen sind immer inhaltsärmer als der
       ihnen zugrundeliegende Gegenstand“.
       
       Man denke nur an das Restaurant „Rocco und seine Brüder“ am Lausitzer Platz
       und den ihm zugrunde liegenden Film von Regisseur Luchino Visconti. Die
       Mathematik arbeitet mit Abstraktionen, die aber den realen Inhalten und
       Gegebenheiten nach Lorenz „grundsätzlich nur annäherungsweise angemessen“
       seien. „Zwei Einheiten sind sich nur deshalb absolut gleich, weil es
       ,genaugenommen' beide Male dieselbe Einheit ,nämlich die Eins‘ ist, die mit
       sich gleichgesetzt werde.“
       
       So sei die reine mathematische Gleichung „letztlich eine Tautologie“ – und
       die reine Mathematik wie die Kantischen apriorischen Denkformen
       inhaltsleere Verabsolutierungen: „Leer sind sie tatsächlich ‚absolut‘, aber
       ‚absolut leer‘. Die Eins, auf einen realen Gegenstand angewandt, findet im
       ganzen Universum nicht mehr ihresgleichen.“ Wohl seien „2 und 2 vier,
       niemals aber sind zwei Äpfel, Hammel oder Atome plus zwei weiteren gleich
       vier anderen, weil es keine gleichen Äpfel, Hammel oder Atome gibt“.
       
       Es gibt dafür aber noch viele Sprachen weltweit, in denen man nicht weiter
       als bis vier zählen kann. Einige brasilianische Völker können erst
       Mathematik betreiben, nachdem sie Portugiesisch gelernt haben.
       
       Diese vorpythagoreischen Sprachen der vom Aussterben bedrohter Völker
       kommen mitunter der hiesigen „Kiezlogik“ nahe. Ein Beispiel: „‚Vegetarier‘
       ist ein altes indianisches Wort für einen schlechten Jäger.“ Und ein
       Kapielski-Beispiel aus Charlottenburg-Nord: „Wenn der letzte Ölbohrturm
       versenkt und die letzte Shell-Tankstelle geschlossen ist, werdet ihr
       merken, dass man bei Greenpeace nachts kein Bier kaufen kann.“
       
       10 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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