# taz.de -- Streetart in Berlin: Dreist kommt durch
       
       > Das Kollektiv „Rocco und seine Brüder“ steht für spektakuläre
       > Installationen im öffentlichen Raum. Ein Treffen mit dem Initiator.
       
 (IMG) Bild: Bevorzugter Arbeitsplatz BVG-Schacht
       
       „Ist es die Fixerstube von Wilson Gonzales Ochsenknecht, Merkels Panic Room
       für CSU-Besuche oder doch Wowereits Traum einer Stadtvilla, die scheiße
       geplant war und nie fertig wurde?“ Sichtlich amüsiert, mit schüchternem
       Grinsen, fasst ein Berliner Künstler im Interview die Kommentare zusammen,
       die zu dem bislang außergewöhnlichste Kunstwerk seines Kollektivs
       kursierten.
       
       Das Werk, um das es geht, ist das [1][„geheimnisvolle Zimmer in der
       U-Bahn“], das im Februar 2016 die BVG verärgerte und zahlreiche Medien zum
       Rätselraten animierte. Im U-Bahnhof Schloßstraße, an der U9 fand sich
       plötzlich dieses kleine, komplett eingerichtete Zimmerchen. Was hatte das
       wohl zu bedeuten? Ein Zeichen gegen Wohnungsnot? Oder ein Rückzugsort vor
       der Reizüberflutung? Einig waren sich die Journalisten: Es musste sich um
       künstlerischen Protest handeln.
       
       Gänzlich falsch lagen sie damit nicht. Denn ein Kunstwerk, das war es, und
       mitverantwortlich für diese illegale Aktion war dieser junge Mann mit
       Käppi, Kopfhörern um den Hals und dem entwaffnenden Lächeln, der nun bei
       einem Bier im Görlitzer Park sitzt. Er wirkt wie das Gegenteil eines
       draufgängerischen Gesetzesbrechers. Ein entspannter Typ, der unaufgeregt
       von seinem Hobby und seinem Hang zu Adrenalinkicks erzählt.
       
       ## Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung
       
       [2][Rocco und seine Brüder] nennt sich sein
       Street-Art-/Interventionskollektiv; und erst Monate später, im November
       2016, sollte es sich mit einem Video zu dieser Aktion bekennen – anonym
       blieben sie dennoch. Denn ihre Kunst sprengt nicht nur den gewöhnlichen,
       sondern auch den legalen Rahmen. Ihre Aktionen fallen unter
       Hausfriedensbruch, Eingriff in den Schienenverkehr und Sachbeschädigung.
       
       Wie man so etwas durchzieht, ohne erwischt zu werden? Selbstsichere Mimik
       und routinierte Handlungen helfen, sagt Rocco. Kompetent und befugt wirken.
       Mitten am Tag spazierten sie bei ihrem Erstlingswerk mit selbst bedruckten
       BVG-Technikwesten mit Bett, Sessel, Topfpflanze, Tapete und Fernseher in
       die U-Bahn-Station, verschwanden über die Gleise im Schacht und
       installierten dort das vier Wochen später berühmte U-Bahn-Zimmer. „Dreist
       kommt eben durch“, kommentiert Rocco die Frage, warum sie keiner
       aufgehalten habe. Auch die Scheuklappen der Berliner würden ihnen bei den
       Aktionen oft zugutekommen.
       
       Die Spekulationen über das Zimmer, so erzählt Rocco, gehörten von Beginn an
       zum Kunstwerk, das er als Medienschelte verstehe: „Die Presse war hier
       Testobjekt und Mittelsmann zugleich.“ Ohne sie hätte ihre Kunst keine
       Aufmerksamkeit erlangt, doch die Künstler wollten auch zeigen, wie billig
       Boulevardmedien zu ködern sind.
       
       Vier Wochen stand das Zimmer bereits im U-Bahn-Schacht, als der vom
       Kollektiv erdachte BVG-Techniker Norbert Schmidt einen Tipp an den Berliner
       Kurier und die Bild schickte. Professionelle Fotos liefert er zuvorkommend
       direkt mit. Wenige Stunden später ist der Artikel online: „Entdeckt! Die
       Geheim-Wohnung im BVG-Schacht“.
       
       Auch eine Installation, die sie im März dieses Jahres einrichteten,
       prangert die Arbeitsweise im Boulevardjournalismus an: Rocco und seine
       Brüder zeichnen für einen „Walk of Shame“ gegenüber des Springer-Gebäudes
       verantwortlich. Dort widmen sie Menschen einen Stern, die Opfer
       reißerischer Springer-Presse wurden – Personen wie Benno Ohnesorg und Rudi
       Dutschke sind darunter, aber auch der „gierige Grieche“. Aus der Sicht der
       Künstler seien solche Schlagzeilen ein fahrlässiger Machtmissbrauch. Die
       silber-schwarzen Platten schrauben Rocco und seine Brüder erneut in aller
       Ruhe mitten am Tag vor dem Springer-Koloss auf den Boden. Zuletzt hat sich
       das Kollektiv auch dem Thema [3][Zwangsprostitution] gewidmet.
       
       Aus der Graffitiszene kommend, zieht es die Künstler häufig für ihre
       Installationen in den Berliner Untergrund. Das Betreten der Bahnschächte,
       zitiert Rocco eine Reaktion seitens der BVG auf ihre Aktionen, sei aufgrund
       der Starkstromschienen hochgradig gefährlich. Er grinst. Vermutlich, so
       sagt er, kennen er und seine Brüder den Berliner Untergrund inzwischen
       „besser als viele BVG-Mitarbeiter“.
       
       Ein bisschen „kribbelt es“ zwar bei den Aktionen noch, aber im Tunnel
       hätten sie schon viele gute Stunden verbracht. Er will es nicht
       romantisieren, tut es aber natürlich doch. Die BVG sei für ihre Kunstwerke
       ein guter Ort, da dort alle Berliner zusammenkämen. Alt, Jung, Reich, Arm.
       Ein klares Tabu sei für das Kollektiv Vandalismus – wie etwa das Besprühen
       von Autos von Privatpersonen.
       
       Seinen Namen will Rocco natürlich nicht verraten, aus seiner Biografie aber
       berichtet er: Aufgewachsen in Westberlin, sei er durch den linken
       Jugendtreff „Die weiße Rose“ politisiert worden. Später aktiv auf
       Gegendemonstrationen bei Naziaufmärschen.
       
       Seit Anfang der nuller Jahre in der Graffitiszene Berlins aktiv. Schon als
       Kind habe er zum Leidwesen seiner Eltern Tische und Wände vollgekritzelt.
       Die glauben, das verwächst sich noch: „Aber von wegen, ich spraye
       inzwischen länger als die Hälfte meines Lebens. Ich glaube, man nennt es
       das Peter-Pan-Syndrom, oder?“
       
       Schelmisch ist auch ihre Kunst häufig, etwa ihr „Urban Gardening“ vom März
       2016, als sie einen spießigen Vorgarten in die U-Bahn-Station Yorckstraße
       bauten: „Uns reicht es schon, wenn die Leute wenigstens kurz zum Nachdenken
       angeregt werden. Oder wir dem zur U-Bahn rennenden Schlipsträger auf dem
       Weg zu seinem Nine-to-five-Job ein Lächeln aufs Gesicht zaubern“, sagt
       Rocco.
       
       Seine Brüder, das ist sein Freundeskreis, viele von ihnen kommen ebenfalls
       aus der linken Sprayerszene. Zwischen 26 und 45 seien sie, die Kunst ist
       für sie Hobby. Im Alltag arbeiteten sie in unterschiedlichen Berufen, oft
       „mit einer Affinität zum Kreativen“, sagt Rocco.
       
       Bei ihren Aktionen sind wechselnde Personen dabei, meistens jedoch – wie
       ihr Kollektivname vermuten lässt – zieht eine rein männliche Gruppe los.
       Mit der gleichnamigen Kreuzberger Pizzeria haben die Jungs nichts zu tun,
       „auch wenn die wegen uns bestimmt jetzt ein paar mehr Klicks haben“, sagt
       der Street- Art-Aktivist und lacht.
       
       Den Mantel der Anonymität, den sie sich mit „Rocco und seine Brüder“
       geschaffen habe, passe nicht nur aufgrund seines Vornamens perfekt zu
       ihnen: „Einerseits ist es eine Hommage an den italienischen 60er-Jahre-Film
       [Rocco e i suoi fratelli, Luchino Visconti; Anm. d. Red.], aber unsere
       Freundschaft ist auch familiär.“
       
       Das sei entscheidend, denn bei ihren Aktionen, etwa der Installation von
       32 Überwachungskameras in einem U-Bahn-Abteil als Kritik an der zunehmenden
       Alltagsüberwachung, müssten sie sich hundertprozentig aufeinander
       verlassen können.
       
       ## Airbnb boykottieren
       
       „Wir sind nicht so naiv, zu glauben, dass wir mit unserer Kunst direkt
       etwas verändern“, sagt Rocco. Und doch, ihre Plakataktion gegen die
       Vermietungsplattform Airbnb, bei der sie mit über 500 Postern zum Boykott
       aufriefen und Gentrifizierung anprangerten, bekam in den sozialen
       Netzwerken so viel Aufmerksamkeit, dass sich die Plattform zu einer
       Stellungnahme gezwungen sah.
       
       Rocco erzählt das nicht ohne Stolz, besonderen Wert legt er jedoch auch
       darauf, dass die Kunst handwerklich gut gemacht sei: So waren die Plakate
       nicht etwa im Kopierladen, sondern mit Siebdruck gedruckt, auch die Logos
       fraßen viele Stunden Zeit.
       
       Eines ist ihm noch wichtig zu erwähnen: „Wir wollen nicht den Moralapostel
       spielen. Es wäre zu leicht, aus unserer anonymen Position nur Rügen zu
       verteilen. Es gibt immer Themen, bei denen wir auch keine weiße Weste
       haben. Denn auch wir konsumieren den Dreck, den wir vorwerfen.“
       
       Die Selbstkritik, man nimmt sie ihm ab, wie er da im Park sitzt und
       erzählt, während er mit den Fingern an den Bierkronen rumspielt.
       
       30 Jun 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://vimeo.com/193154707
 (DIR) [2] http://www.roccoundseinebrueder.com/about-us/
 (DIR) [3] https://vimeo.com/223657640
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Linda Gerner
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Street Art
 (DIR) Berlin
 (DIR) Dokumentation
 (DIR) Streetart
 (DIR) Graffiti
 (DIR) Antifaschismus
 (DIR) Blu
 (DIR) Kunst
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Graffitisprayer in Berlin: Vom Tunnel aufs Dach
       
       Eine Doku folgt den Graffitisprayern „Rocco und seine Brüder“ durch Berlin.
       Zum Glück ignoriert sie die langweiligste aller Fragen.
       
 (DIR) Prominenz in Osnabrück: Besuch von Dalí, Lindenberg und Björk
       
       Kunst braucht Demokratisierung: Die italienische Street-Art-Künstlerin Roxy
       in the box konfrontiert das Osnabrücker Rosenplatzviertel mit fremden
       Welten
       
 (DIR) Kunstprojekt „The Haus“ in Berlin: Warum liegt hier eigentlich Laub?
       
       Die Street-Art-Ausstellung „Das Haus“ ist bunt, witzig, kreiert die eine
       oder andere Halluzination – und wirft seltsame Fragen auf.
       
 (DIR) Biografie des Rebellen Jack Bilbo: Gangster und Ehrenbürger
       
       Jack Bilbo war Künstler, Abenteurer, Antifaschist. Sein Werk wird nun mit
       Bildern von Daniel Richter in Berlin präsentiert.
       
 (DIR) Protest gegen Kunstraub: Blu übermalt erneut Gemälde
       
       Der Street Artist übermalt mit schwarzer Farbe seine Kunstwerke – diesmal
       in Bologna. Ein wichtiges Stück Stadtgeschichte geht damit verloren.
       
 (DIR) Neue Banksy-Graffiti in Gaza: „Sie gucken nur Katzenbilder an“
       
       Der Graffiti-Aktivist Banksy hat mit neuen Kunstwerken die Lage der
       palästinensischen Bevölkerung kritisert. Er fordert die Menschen auf,
       Position zu beziehen.