# taz.de -- Zwangsräumung mit Folgen: Aus der Wohnung in die Tiefe gerissen
       
       > Tatjana Schulepa und Edin Osmanovic haben ihre Wohnung in Hannover
       > verloren. Die junge Mutter hat danach versucht, sich das Leben zu nehmen.
       
 (IMG) Bild: Tatjana Schulepa und Edin Osmanovic in ihrer Notunterkunft in Hannover-Hainholz: Die Zwangsräumung habe sie „in die Tiefe gerissen“, sagt Osmanovic
       
       HANNOVER taz | Die Sofas, auf denen sie sitzen, sind wichtig. Eines braun,
       das andere rot, mit dicken, weichen Polstern. Tatjana Schulepa und Edin
       Osmanovic, den alle nur „Dino“ nennen, schlafen auf diesen Sofas im
       ansonsten noch recht kargen Wohnzimmer ihrer Notunterkunft in Hannover. An
       der Wand hängt in goldenen Schriftzeichen auf schwarzem Grund eine
       Koransure. Gegenüber stehen ein alter Kühlschrank, ein Herd und daneben
       eine Mikrowelle. Viel geblieben ist ihnen und ihrer neunjährigen Tochter
       nicht. Die Küchenmöbel seien bei der Zwangsräumung kaputtgegangen, sagt
       Osmanovic.
       
       Die neue Wohnung liegt am anderen Ende der Stadt, neben den
       Stacheldrahtzäunen der Justizvollzugsanstalt im Stadtteil Hainholz. Vor der
       Haustür rattert die Straßenbahn über die Gleise. Aber hinter dem
       Backsteinhaus gibt es einen kleinen Garten mit blauem Trampolin. Das Gras
       steht hoch.
       
       Drinnen setzt sich Schulepa neben ihren Mann auf das Sofa und fängt an zu
       erzählen. „Wir wollen, dass jeder sieht, dass das nicht richtig ist, was
       uns passiert ist.“ Andere Familien sollten nicht in die gleiche Situation
       kommen, sagt sie und knetet ihre Hände.
       
       Die 26-Jährige ist zu dünn, das ist unter ihrem weiten Karo-Hemd deutlich
       zu erkennen. Unter den Augen hat sie tiefe dunkle Schatten. Das schwarze
       Kopftuch lässt ihre Haut noch blasser erscheinen. Die Zwangsräumung ist nun
       mehr als drei Monate her.
       
       Schulepa hat versucht, sie zu verhindern. Ist mit Aktivisten des Netzwerks
       „Wohnraum für alle“, mit Konfetti und Transparenten in den Eingangsbereich
       des Wohnungsunternehmens Hanova gezogen, wollte mit Verantwortlichen
       sprechen und wurde von der Polizei hinausbegleitet, eine Anzeige wegen
       Hausfriedensbruchs inklusive. Vier Tage später rückten die Beamten an,
       sperrten die ganze Straße ab und setzten die Räumung durch.
       
       Angefangen hat alles mit dem Husten ihrer Tochter. Pseudokrupp, eine
       Entzündung der Atemwege, diagnostizierte ein Arzt, als das Mädchen sechs
       Monate alt war. Die Wohnung im Stadtteil Herrenhausen, in der die Familie
       fast zehn Jahre gelebt hat, sei nicht renoviert gewesen. Es habe Schimmel
       gegeben, die Heizungen hätten nicht richtig funktioniert, und die Haustür
       sei nicht dicht gewesen, sodass es immerzu gezogen habe, sagt Osmanovic,
       dem man ansieht, dass er früher Kampfsport gemacht hat und um dessen
       Oberarm sich ein Tribal-Tattoo schlängelt. Er will seiner Frau Sicherheit
       geben, übernimmt meist das Reden. Aber schützen konnte er sie nicht. Auch
       Schulepa habe Asthma und Magen-Darm-Erkrankungen bekommen.
       
       „Wir haben die Mängel gemeldet“, sagt Schulepa. Aber der Vermieter Hanova,
       ein Wohnungsunternehmen, dass zu 90 Prozent der Stadt Hannover gehört, habe
       sie nur vertröstet. Da hörte die Familie im Januar 2015 ohne Absprache auf,
       die Miete zu zahlen. Das Mietgeld vom Jobcenter behielten sie. Das
       Amtsgericht Hannover entschied später, dass das nicht in Ordnung war. „Aber
       warum soll ich zahlen, wenn nicht einmal die Heizung richtig geht?“, fragt
       Osmanovic.
       
       Das Jobcenter zahlte die Miete ab September 2015 dann direkt an den
       Vermieter, damit nicht noch mehr Schulden entstehen konnten. Die Hanova
       bekam also wieder Geld – wenn auch nicht die ausgebliebenen Zahlungen –,
       setzte die Zwangsräumung aber Monate später im März 2016 trotzdem durch.
       Begründen will das Unternehmen die Räumung gegenüber der taz nicht.
       
       Der Pressesprecher Frank Ermlich gibt sich wortkarg. „Wir haben unsere
       rechtlichen Möglichkeiten ausgenutzt“, sagt er. Und die Hanova hätte dafür
       gesorgt, dass für die Familie eine Notfallwohnung bereitstünde. „Das ist
       das Entscheidende“, sagt Ermlich.
       
       Doch das stimmt so nicht ganz. Denn auch wenn die Familie nicht obdachlos
       geworden ist, hätte es für das städtische Unternehmen einen guten Grund
       gegeben, auf die Räumung zu verzichten. Schulepa ist suizidgefährdet, und
       die Hanova konnte das wissen. Die Familie hatte ein Attest eingereicht.
       Doch zurück kam ein Brief, der zeigt, dass das Unternehmen der Frau nicht
       geglaubt hat.
       
       Schulepa hat auf dem Stubentisch alle Dokumente ausgebreitet, die mit ihrem
       Fall zusammenhängen. „Es wird bestritten, dass die Schuldner, wie
       behauptet, erkrankt sind, und dass eine Suizidgefahr besteht“, schreibt die
       Hanova an das Amtsgericht Hannover, das über die Zwangsräumung entscheiden
       musste. Richtig in sich hat es vor allem der Nachsatz in Klammern: „(was ja
       gern von nahezu jedem Schuldner behauptet wird, der im Räumungsverfahren
       geräumt werden soll)“.
       
       Das Unternehmen bezweifelt also nicht nur die Glaubwürdigkeit von Schulepa,
       sondern auch die aller anderen Betroffenen einer Räumung. Zudem sei das
       vorgelegte Attest rund neun Monate alt gewesen und von einem Internisten
       erstellt worden. „Der Arzt behandelt mich schon lange und kennt meine
       Geschichte“, erwidert Schulepa.
       
       Die 26-Jährige hat Zwillinge verloren, nachdem diese zu früh auf die Welt
       geholt wurden. Eine Fehldiagnose des behandelnden Arztes, sagen die Eltern.
       Eines der Mädchen wurde sechs Wochen alt, das andere sechs Monate. Als sie
       starben, wollte auch Schulepa nicht mehr leben. Nach ihrem ersten
       Selbstmordversuch wurde sie psychologisch betreut. Das war im Jahr 2010.
       Ihr Arzt attestierte ihr, dass sie weiterhin gefährdet ist.
       
       Osmanovic schickt die gemeinsame Tochter, die bisher eng an ihre Eltern
       gekuschelt auf dem Sofa saß, ins Nebenzimmer. „Das letzte Mal war es
       knapp“, sagt er leise, als sie durch die Tür gegangen ist. „Drei Minuten
       später, und Tatjana wäre weg gewesen“, sagt er über seine Frau.
       
       Die junge Mutter hat wieder versucht zu sterben, zwei Monate nach der
       Zwangsräumung, als sie schon in der neuen Wohnung gelebt haben. Die
       Räumung, ein jahrelanger Streit mit einem Nachbarn im alten Zuhause, erneut
       eine völlige Hilflosigkeit, das war zu viel für sie.
       
       „Ihr geht es gar nicht gut. Sie schläft nachts nicht“, sagt Osmanovic. Er
       schaut besorgt, streicht sich über den dichten, braunen Bart. Ihre Probleme
       sind nicht gelöst. Die Zwangsräumung soll das Paar selbst bezahlen – rund
       10.000 Euro. Hinzu kommen die Mietschulden und die Kosten für das Gericht.
       „Sie wollen 26.000 Euro von uns“, sagt Osmanovic. „Wie sollen wir das
       bezahlen?“
       
       Während Schulepas Risiko-Schwangerschaft mit den Zwillingen habe er sie
       unterstützt und aufgehört zu arbeiten, sagt der gelernte Maschinenführer.
       Vorher hatte der 41-Jährige oft auf dem Bau gejobbt. Seitdem es seiner Frau
       schlecht gehe, kümmere er sich um die gemeinsame Tochter.
       
       Schon vor der Zwangsräumung haben die beiden nach einer neuen Wohnung
       gesucht. Nicht nur wegen des „dramatischen Zustands der Wohnung“, wie
       Osmanovic sagt, sondern auch weil der Streit mit einem Nachbarn eskaliert
       war. Die Familie fühlte sich bedroht, der Mann habe sie rassistisch
       beleidigt. „Meine Tochter hatte Angst, an seiner Tür vorbeizugehen“, sagt
       Osmanovic. Der Nachbar habe „Geht in euer Land, ihr Zigeuner“ hinter ihnen
       her geschrien.
       
       „Wir wollten da weg“, sagt der Familienvater. Doch die Wohnungssuche sei
       schwierig gewesen. „Keiner wollte uns haben.“ Die Vermieter hätten sofort
       abgewinkt, wenn sie sagten, dass sie keine Arbeit haben. Bis heute suchen
       sie eine dauerhafte Wohnung.
       
       Der Nachbarschaftsstreit könnte auch ein Grund für die Zwangsräumung
       gewesen sein. Die Hanova jedenfalls führt „Probleme mit anderen Mietern im
       Haus“ dafür an, dass die Familie nach der Räumung in allen Häusern in der
       Straße, die der Hanova gehören, ein Hausverbot bekommen hat. „Wir wollen
       Ruhe in der Hausgemeinschaft“, sagt der Hanova-Sprecher Ermlich.
       
       Das Haus, in dem die Familie früher gewohnt hat, sieht ein bisschen aus wie
       ein amerikanisches Motel. Statt über Hausflure erreicht man die Wohnungen
       von draußen über Laubengänge. Eine ehemalige Nachbarin kann sich nicht
       daran erinnern, dass es mit der Familie Probleme gab. „Zu mir waren sie
       immer freundlich“, sagt sie. „Die Tochter war eine kleine Prinzessin.“
       
       Auch ein anderer Nachbar hat die Familie als „freundlich“ in Erinnerung.
       „Die sah nur so islamistisch aus“, sagt er und meint damit Schulepas
       Kopftuch. Ob islamisch oder islamistisch, könne man schließlich erst sagen,
       „wenn man die Nagelbombe unterm Arsch hat“, erklärt der Mann.
       
       Der Nachbar, mit dem Schulepa und Osmanovic Probleme gehabt haben sollen,
       ist nicht zu Hause. Vor seiner Haustür blühen Blumen. Alles sieht sehr
       ordentlich aus.
       
       Am Tag der Räumung standen hier überall Polizisten. Aktivisten hatten auf
       Flyern zum Protest aufgerufen. „Wir finden Zwangsräumungen generell
       problematisch“, sagt Anna vom Netzwerk Wohnraum für alle, die ihren
       richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Häufig würden ohne
       Konsequenzen juristische Spielregeln überschritten, und davon seien
       Menschen betroffen, die kein Geld für gute Anwälte hätten, fügt ihr
       Mitstreiter Arthur hinzu.
       
       Das Netzwerk unterstützt deshalb Betroffene von Zwangsräumungen, schafft
       öffentliche Aufmerksamkeit und hilft auch ganz praktisch. Am Abend vor der
       Räumung holten die Aktivisten Geschirr sowie die Sofas aus der Wohnung und
       stellten sie bei Freiwilligen unter, damit sie nicht kaputtgehen.
       
       „Wir haben auch ein Zimmer für die Familie organisiert“, sagt Anna. Denn
       bis zum Tag der Räumung sei nicht klar gewesen, wo die Familie hin solle.
       „Wir vermuten, dass es mit dem öffentlichen Druck zusammenhing, dass sie
       eine Wohnung bekommen haben“, sagt Arthur.
       
       Die Stadt Hannover äußert sich zu dem konkreten Fall nicht. Sie sei aber
       verpflichtet, Menschen, die von einer Zwangsräumung betroffen sind,
       unterzubringen, damit sie nicht obdachlos würden, sagt Michaela
       Steigerwald, die Sprecherin der Stadt. In der Regel erführen die
       Betroffenen von der Not-Wohnung einige Tage vorher.
       
       Die Zahl der Zwangsräumungen ist in Hannover seit 2015 leicht rückläufig.
       Damals waren es fast 400, im Jahr 2016 noch 367 Fälle und bis Mai 2017
       mussten 126 Mieter und ihre Familien ihre Wohnungen gegen ihren Willen
       verlassen, darunter auch Schulepa und Osmanovic mit ihrer Tochter.
       
       Die Familie fühlt sich nach der Zwangsräumung und dem Hausverbot hilflos
       und kriminalisiert. In der früheren Nachbarschaft haben sie Bekannte, und
       ihre Tochter geht dort zur Schule. Der Vermieter und das Amtsgericht hätten
       die Familie mit der Entscheidung „in die Tiefe gerissen“, sagt Dino. „Aber
       was sind wir schon? Nichts.“
       
       24 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrea Scharpen
       
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