# taz.de -- Der Fall Jürgen N.: Zwangsgeräumt, obdachlos, tot
       
       > Zwei Jahre nachdem er seine Wohnung verlor, starb in Hannover ein Mann.
       > Welche Rolle spielte die Zwangsräumung bei seinem Tod?
       
 (IMG) Bild: Kein Einzelfall: Demonstration nach einer Zwangsräumung mit Todesfolge im April 2013 in Berlin
       
       HANNOVER taz | Die Todesanzeige klingt wie eine Anklage: „Im Alter von 64
       Jahren erlag unser langjähriger Freund und Genosse ‚Bauer‘ der Kälte dieser
       Stadt“, das schreibt die Partei Die Linke im hannöverschen Stadtteil
       Linden.
       
       Am 12. Februar ist Jürgen N. tot aufgefunden worden. Der Obdachlose, der
       „Bauer“ genannt wurde, lag hinter einem städtischen Freizeitheim. „Eine
       widerrechtliche Zwangsräumung vor zwei Jahren raubte ihm seine Wohnung.
       Wohnungslosigkeit und Krankheit raubten ihm seinen Lebenswillen und die
       Kraft zur Veränderung“, schreiben seine Freund*innen in der Anzeige weiter.
       
       N. ist unverschuldet in die Obdachlosigkeit gerutscht. „Er wurde
       getäuscht“, sagt Holger Rosemeyer, der N. in der Phase der Zwangsräumung
       als Anwalt vertreten hat. Die Wohnung im Kötnerholzweg, Ecke Limmerstraße,
       in der N. gelebt hatte, war eigentlich nur ein ehemaliger Kiosk: rund 25
       Quadratmeter, drei winzige Zimmer, ein Bad, aber nicht mal eine Küche.
       
       Ein Mieter aus dem Haus hatte den Kiosk zusätzlich zu seiner eigenen
       Wohnung angemietet. Aber anstatt ihn wie mit dem Eigentümer abgesprochen
       als Kiosk wiederzubeleben, habe er ihn an N. und einen weiteren Mann
       untervermietet, sagt Rosemeyer. Den Mietvertrag habe er aber so aussehen
       lassen, als wäre es ein Hauptmietvertrag. „Er hat eine Firma mit ‚Immo‘ im
       Namen konstruiert“, sagt der Anwalt. „Es hatte den Augenschein, als wäre
       das eine Immobiliengesellschaft.“ Nicht nur N. fiel darauf herein – auch
       das Jobcenter, das die Miete für die Räume übernahm.
       
       „Die Konditionen waren völlig überhöht. Die beiden Männer haben jeweils
       fast 400 Euro mit Nebenkosten für die geringe Wohnfläche bezahlt“, sagt
       Rosemeyer. Er glaubt, dass diese Masche noch Jahre hätte funktionieren
       können, wenn der „betrügerische Vermieter seine eigene Miete nicht
       irgendwann selbst nicht mehr gezahlt hätte“. So aber sei auch dieser
       zwangsgeräumt worden. Da erst fiel dem Hauseigentümer auf, dass der Kiosk
       bewohnt war: Jürgen N. und sein Mitbewohner hatten über zwei Jahre lang
       ihre Miete bezahlt – aber eben nicht auf das richtige Konto.
       
       Zweimal verhinderte Rechtsanwalt Rosemeyer die Räumung, weil es formale
       Fehler in dem Verfahren gab. Beim dritten Versuch waren die
       Gerichtsvollzieher*innen trotz Protesten erfolgreich. Laut der
       [1][Hannoverschen Allgemeinen Zeitung ] wurden sie dabei von einem
       Großaufgebot der Polizei unterstützt. Rosemeyer ist überzeugt, dass auch
       diese Räumung rechtswidrig war. Für N. war die Zwangsräumung, die an seinem
       63. Geburtstag stattfand, der Anfang vom Ende.
       
       ## Ein Leben lang hoch politisch
       
       Jürgen Otte war 43 Jahre lang mit N. befreundet, gemeinsam mit ihm bei der
       Linken aktiv. Wenn er über den Verstorbenen spricht, entsteht das Bild
       eines schwierigen Charakters: still, nachdenklich, seit einem Schlaganfall
       auch manchmal grantig und unzugänglich – aber sein Leben lang hoch
       politisch. „Er ist innerlich daran zerbrochen, dass niemand sah, dass ihm
       Unrecht getan wurde“, sagt der 63-Jährige. Er nennt die Räumung einen
       „Gewaltakt“.
       
       Monatelang hätten verschiedene Freunde N. aufgenommen, so Otte, auch er
       selbst. Eine dauerhafte Lösung konnte das nicht sein, auf dem freien
       Wohnungsmarkt hatte der Hartz IV-Empfänger mit dem Schufa-Eintrag aber
       keine Chance. „Wir haben ihn einzeln nicht retten können“, sagt Otte, und
       dabei bricht ihm die Stimme. „Es beschämt mich.“
       
       N. hatte dann Kontakt zu Sozialarbeitern und schlief nachts in einer
       Notunterkunft der Stadt. „Aber irgendwas um Weihnachten muss den Schalter
       umgelegt haben“, sagt Otte: Er habe bemerkt, dass sein Freund draußen
       geschlafen habe. „Er hat den Kontakt vermieden und sich zurückgezogen.“
       
       Mitarbeiter*innen des Freizeitheims fanden am 12. Februar seine Leiche. Die
       Polizei geht von einer natürlichen Todesursache aus. „Ohne diese
       Zwangsräumung wäre er älter geworden“, glaubt Otte und fordert: „Es muss
       ein einklagbares Grundrecht auf eine eigene, bezahlbare Wohnung geben. Dann
       müsste der Staat für sozialen Wohnungsbau sorgen.“
       
       Steffen Mallast vom Mieterladen in Hannover kannte N. aus den Beratungen
       vor der Räumung. „Er hat sich danach aufgegeben“, das hat auch Mallast
       beobachtet: Einem Mann über 60 werde mit einer Zwangsräumung auch die
       Perspektive für das weitere Leben genommen. Ein paar Habseligkeiten habe N.
       auf dem Dachboden des Mieterladens untergestellt – mehr sei ihm nicht
       geblieben.
       
       Doch auch für jüngere Betroffene bedeute die Zwangsräumung einen großen
       Einschnitt und eine starke psychische Belastung. „Dass jemand keinen Weg
       mehr in eine Wohnung findet, ist nicht häufig“, sagt Mallast. „Aber sie
       müssen dann in einem völlig anderen Umfeld leben, meistens am Stadtrand, wo
       die Mieten günstiger sind.“ Der Berater lehnt das Instrument daher
       vollkommen ab. „Es ist auch nicht in Ordnung, dass man die Vermieter so
       leicht aus der Verantwortung lässt“, sagt der 31-Jährige. Denn für
       diejenigen, die zwangsgeräumt würden, gehe es um mehr als eine Wohnung.
       
       Am kommenden Donnerstag wäre Jürgen N. 65 Jahre alt geworden. An diesem Tag
       jährt sich auch seine Zwangsräumung. Seine Freund*innen wollen ab 17 Uhr
       eine Mahnwache abhalten – „vor der Wohnung, die ihm entrissen wurde“.
       
       4 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Grossaufgebot-der-Polizei-soll-Wohnungsraeumung-sichern
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrea Maestro
       
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