# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Demokratische Enklave in Nordsyrien
       
       > Nach der Vertreibung des IS erklärten die kurdischen Parteien PKK und PYD
       > Rojava für autonom. Sie starteten ein politisches Experiment.
       
 (IMG) Bild: Eine demokratische Konföderation, in der Kurden, Araber und Jesiden friedlich leben
       
       Es ist Nacht, aber in Qamischli herrscht noch drückende Hitze. An dem
       kleinen Flughafen, der von Assads Polizisten und Soldaten kontrolliert
       wird, hat man uns rasch abgefertigt. Hier beginnt das Gebiet der
       Demokratischen Föderation Nordsyrien, das die Kurden Rojava (Westen)
       nennen.
       
       Mindestens 2 Millionen Menschen – zu 60 Prozent Kurden – wohnen in diesem
       Gebiet, das sich südlich der syrisch-türkischen Grenze vom Euphrat bis zur
       irakischen Grenze im Osten erstreckt. Seit Januar 2014 läuft in diesem Teil
       Syriens ein politisches Experiment, das Abdullah Öcalan angeregt hat, der
       seit 1999 in der Türkei inhaftierte Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans
       (PKK).
       
       Im Mai 2005 haben sich die PKK und die mit ihr verbündete kurdisch-syrische
       Partei der Demokratischen Union (PYD) vom Marxismus-Leninismus
       verabschiedet und bekennen sich seitdem zum „demokratischen
       Konföderalismus“. Das Konzept geht auf den Ökoanarchisten Murray Bookchin
       (1921–2006) zurück, mit dessen Schriften sich Öcalan im Gefängnis intensiv
       auseinandergesetzt hat. Nachdem die kurdischen Kämpfer Ende 2013 das Gebiet
       vom „Islamischen Staat“ (IS) zurückerobert hatten, erklärte die PYD im
       Januar 2014 die drei unter ihrer Kontrolle stehenden Kantone Afrin, Kobani
       und Cizre zu autonomen Gebieten und verabschiedete den
       „Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nordsyrien“. Mit diesem
       Dokument erteilen sie dem Nationalstaatsprinzip ein Absage. Ihr erklärtes
       Ziel ist eine egalitäre, paritätisch organisierte und Minderheitenrechte
       schützende Gesellschaftsform.
       
       In der ganzen Region, mit Ausnahme von zwei Enklaven nördlich von Hasaka
       und dem von Damaskus kontrollierten Flughafen von Qamischli, haben die
       Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) das Sagen: Zu diesem Militärbündnis
       gehören aber nicht nur die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer der
       Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Frauenverteidigungseinheiten
       (YPJ), sondern auch Kontingente sunnitischer, jesidischer und christlicher
       Milizen.
       
       ## Von Selbstmordattentätern bedroht
       
       In Quamischli gibt es überall Straßensperren, an denen Sicherheitskräfte
       unter riesigen YPG-Fahnen sämtliche Fahrzeuge akribisch durchsuchen.
       Dschihadistische Selbstmordattentäter stellen eine ständige Bedrohung dar,
       seit am 27. Juli 2016 bei einem Anschlag 44 Menschen getötet und 140
       verletzt wurden. In auffälligem Kontrast zu den voll beleuchteten Städten
       Nusaybin und Mardin jenseits der türkischen Grenze brennt in den Straßen
       von Quamischli kein Licht. Die Energiefrage ist in dieser an sich
       rohstoffreichen Region nur eine von vielen Herausforderungen für die neuen
       Autoritäten. In Rumailan, 100 Kilometer weiter auf der Landstraße Richtung
       Irak, sehen wir vor den Tankstellen lange Warteschlangen.
       
       Bis zum Beginn des Kriegs vor sechs Jahren wurden in dieser Gegend täglich
       380.000 Barrel Rohöl gefördert, das war ein Drittel der syrischen
       Gesamtproduktion. Wegen der Kämpfe ist das Volumen um 70 Prozent
       eingebrochen; seitdem herrscht massiver Kraftstoffmangel. Da die
       Autonomieregierung keine eigenen Raffinerien besitzt, ist sie gezwungen,
       einen Teil des Rohöls an das syrische Regime zu verkaufen, das dafür
       Kraftstoff zum überteuerten Literpreis von 80 Cent liefert.
       
       Zwar gibt es viele lokale Raffinerien, die sich in der Benzinherstellung
       versuchen. Aber der Stoff, den sie für 20 Cent pro Liter verkaufen, ist
       gefährlich: Schwarzer Rauch hängt über dem Land; die Menschen klagen
       zunehmend über Hautkrankheiten und Atemprobleme. „Wir haben zurzeit keine
       andere Lösung“, gesteht Samer Hussein, die Beauftragte des
       Energieausschusses mit Sitz in Rumailan. „Sobald wir dazu in der Lage sind,
       bauen wir moderne Raffinerien, die nicht die Luft verpesten. Und natürlich
       stellen wir dann auch die Leute aus den kleinen Raffinerien in den neuen
       Fabriken ein.“
       
       Als in anderen Regionen Rojavas die Benzinklitschen verboten wurden,
       protestierte die Bevölkerung, der man bereits den Strom rationiert hatte.
       Und das trotz der Rückeroberung der drei wichtigsten Euphrat-Staudämme, wo
       die Turbinen allerdings weniger Strom produzieren. Das liegt vor allem an
       der Türkei, die den Euphrat flussaufwärts kontrolliert. „Ankara hält sich
       nicht mehr an seine Verpflichtung, einen Durchfluss von 600 Kubikmetern pro
       Sekunde zu gewährleisten“, berichtet Ziad Rustem, Ingenieur und
       Beauftragter des Energieausschusses im Kanton Dschasira: „Als die Staudämme
       noch vom IS kontrolliert wurden, ließ die Türkei mehr Wasser durch; seitdem
       sie von den Demokratischen Kräfte Syriens befreit wurden, hat Ankara die
       Wassermenge reduziert. Zurzeit beträgt der Zufluss weniger als 200
       Kubikmeter pro Sekunde.“
       
       ## Leben unter dem Embargo
       
       Der Journalist Sherwan Youssef, der bei dem kurdischen Fernsehsender Ronahi
       TV arbeitet, war bei den Stromprotesten dabei: „In Qamischli sind einige
       hundert Menschen auf die Straße gegangen. Sie geben zwar der
       Autonomieregierung die Schuld und nicht der Türkei. Aber ich finde die
       Demonstrationen trotzdem richtig. Kritik muss erlaubt sein. Die Regierung
       sollte den Krieg nicht ständig als Entschuldigung für die mangelnde
       Versorgung benutzen.“
       
       Im Gesellschaftsvertrag wird der Umweltschutz zwar hochgehalten, doch die
       Umsetzung sei gerade schwierig, erklären unsere Gesprächspartner. Wie soll
       man auch neue Raffinerien bauen, die Wasserkraftwerke modernisieren oder
       die Entwicklung erneuerbarer Energien vorantreiben, wenn nicht nur die
       Türkei, sondern selbst ein Verbündeter wie die im Nordirak dominierende
       Demokratische Partei Kurdistans (PDK) ein Embargo über Rojava verhängt
       haben?
       
       Doch weder diese drängenden Probleme noch die anhaltenden Kämpfe konnten
       das kurdische Projekt in Nordsyrien aufhalten. Die drei Kantone Afrin,
       Kobani und Cizre verfügen jeweils über eine gesetzgebende Versammlung und
       eine eigene Kantonsregierung. Später sollen die drei Kantone, die ihre
       Politik schon jetzt koordinieren, von einem Demokratischen Rat Syriens
       verwaltet werden. Die ersten Wahlen fanden im März 2015 statt, weitere sind
       für Ende 2017 vorgesehen und Anfang 2018 sollen die Abgeordneten für die
       gesetzgebenden Versammlungen gewählt werden.
       
       Kurden, die der PDK nahestehen, haben allerdings die Wahlen boykottiert.
       Das gilt etwa für Narin Matini, die im Vorstand der Partei der Kurdischen
       Zukunftsbewegung in Syrien und im Kurdischen Nationalrat (KNR) sitzt. Der
       KNR ist eine Koalition kurdischer Gruppen unter Vorsitz von Masud Barzani,
       dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die am 25.
       September ein [1][Referendum über ihre Unabhängigkeit] geplant hat.
       
       ## Eine antinationalistische Bewegung
       
       Wir treffen Matini in ihrem Haus im Arbeiterviertel von Qamischli. „Unser
       Projekt ist ein kurdisches Nationalprojekt, ein unabhängiges Kurdistan“,
       erklärt sie. „Wir teilen die Vorstellungen der Demokratischen Föderation
       Nordsyrien nicht. Die Behörden haben unsere Büros geschlossen und unsere
       Vorsitzenden festgenommen. Sie haben sie zwar wieder freigelassen. Aber die
       Autonomieregierung verlangt, dass wir uns als Partei registrieren lassen.
       Doch das würde bedeuten, dass wir sie anerkennen.“
       
       Die gesetzgebende Versammlung von Cizre hat ihren Sitz in Amude, etwa 20
       Kilometer von Qamischli entfernt. Das Gebäude ist stark bewacht; am Eingang
       werden unsere Taschen und Ausweise kontrolliert. Das Gremium hat 100
       Mitglieder, zur Hälfte Frauen, alle gehören politischen Parteien an, die
       den Gesellschaftsvertrag unterzeichnet haben. Auch zivilgesellschaftliche
       Vereinigungen entsenden jeweils zwei Mitglieder, und zwar stets eine Frau
       und einen Mann. Alle Abgeordneten werden von ihrer Gruppe vorgeschlagen und
       von der gesetzgebenden Versammlung bestätigt. Zudem gibt es etwa ein
       Dutzend kurdischer und arabischer politischer Organisationen, die auch
       finanziell unterstützt werden, ohne dass sie in der Versammlung
       repräsentiert sind.
       
       Die PKK sieht sich heute als antinationalistische Bewegung, strebt also
       nicht mehr die Gründung eines kurdischen Nationalstaats an. Öcalan hat die
       Ziele der PKK 2012 so definiert: „Sie beabsichtigt die Verwirklichung des
       Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Ausweitung der Demokratie in
       allen Teilen Kurdistans, ohne die bestehenden politischen Grenzen infrage
       zu stellen.“ Das gilt auch für die syrische PYD: „Wir wollen uns nicht von
       den anderen syrischen Gebieten abspalten“, betont Siham Queryo,
       Ko-Präsidentin des Komitees für auswärtige Angelegenheiten der
       Autonomieregierung im Kanton Cizre. „2013 einigten sich Kurden, Araber und
       Syriaker in der Region darauf, eine autonome Regierung zu bilden. Anfangs
       dachten wir nicht, dass das länger als vier Monate halten würde.“ Queryo
       ist Christin, sie zählt sich zu den Syriakern und erwähnt nebenbei, dass es
       in Rojova keine Staatsreligion gibt und die Religionsfreiheit garantiert
       ist.
       
       Die Syrische Nationalkoalition, die an sich ein Oppositionsbündnis sein
       soll, tatsächlich aber der Muslimbruderschaft nahesteht, betrachtet die PYD
       und deren militärischen Arm weiterhin als [2][„terroristische
       Organisationen“], die mit der PKK in Verbindung stehen. Prominente
       Vertreter der syrischen Opposition behaupten, die PYD spiele dem
       Assad-Regime in die Hände, das sie militärisch nicht bekämpfen.
       
       ## Keine ethnischen Säuberungen
       
       Doch einige haben ihre Meinung geändert. Zum Beispiel Bassam Ishak, ehemals
       Exekutivdirektor einer Menschenrechtsorganisation aus Hasaka und einer der
       Gründer des Syrischen Nationalrats, der zur Anti-Assad-Koalition gehört.
       Heute setzt Ishak auf das Projekt Rojava: „Als die Revolution von
       friedlichen Demonstrationen zum bewaffneten Aufstand überging, zeigte sich,
       dass sie ein anderes Ziel verfolgten als ich. Diese Opposition will Assad
       verjagen und dann die Macht monopolisieren. Mir blieb also die Wahl
       zwischen dem religiösen Staat, den der Syrische Nationalrat anstrebt, ein
       arabisch-nationalistisches Syrien oder ein pluralistisches System. Einen
       neuen Diktator in Damaskus können wir am ehesten verhindern, indem wir die
       Macht auf die verschiedenen Regionen verteilen.“
       
       Wo immer wir mit Kurden ins Gespräch kommen, weist man den Vorwurf der
       Zusammenarbeit mit Damaskus zurück und betont die strategischen Fehler der
       Opposition. Der Lehrer Muslim Nabo hat mit Freunden eine klandestine
       kurdischsprachige Zeitschrift publiziert. 2007 wurden sie verhaftet. Drei
       Monate lang saßen sie in Damaskus in einer winzigen Zelle, ab und zu wurden
       sie verprügelt. Nach einem Jahr und einer Woche, der maximalen Dauer für
       Untersuchungshaft, wurde Nabo freigelassen. Heute empört er sich: „Manche
       sagen, wir würden Assads Regime unterstützen. Das ist eine Lüge. Wir haben
       sehr unter diesem Regime gelitten, das einige unserer politischen Führer
       gefoltert und umgebracht hat.“ Nabo sagt, dass die kurdischen Parteien eine
       gewaltsame Revolution ablehnen, die militärisch auf die Türkei,
       Saudi-Arabien und Katar angewiesen wäre: „Die Unterstützung dieser Länder
       für die dschihadistischen Gruppen war für die syrische Revolution eine
       Katastrophe.“
       
       2014 und 2015 geriet die Realpolitik der PYD in den vom IS befreiten
       Gebieten allerdings in die Kritik internationaler humanitärer
       Organisationen. Im Oktober 2015 erklärte Amnesty International zu den
       Übergriffen in der Gegend von Tall Abyad: „Mit der mutwilligen Zerstörung
       von Häusern, in einigen Fällen dem Niederbrennen ganzer Dörfer und der
       Vertreibung von Bewohnern ohne militärische Rechtfertigung missbraucht die
       Autonomieverwaltung ihre Macht und verstößt gegen internationales
       humanitäres Recht; solche Angriffe sind Kriegsverbrechen gleichzusetzen.“
       Ein Jahr zuvor hatte Human Rights Watch [3][über ähnliche Vorfälle
       berichtet].
       
       „Von ethnischen Säuberungen gegen Araber kann nicht die Rede sein“, sagt
       Siham Queryo. „Vor Kampfhandlungen haben die YPG die Bewohner immer
       aufgefordert, ihre Häuser vorübergehend zu verlassen. Ich habe viele
       befreite Dörfer um Tall Abyad und Rakka nach den Schlachten besucht. Die
       Leute haben mir alle erklärt, dass es sich genauso abgespielt hat. Nach 14
       Tagen sind sie in ihre Häuser zurückgekehrt.“
       
       Der Vorwurf ethnischer Säuberungen wird auch im [4][Report des
       UN-Menschenrechtsrats] vom März 2017 zurückgewiesen: „Die Kommission hat
       keine Beweise dafür gefunden, dass Kräfte der YPG oder der DKS jemals aus
       ethnischen Gründen gezielt gegen arabische Gemeinschaften vorgegangen wären
       oder dass die kantonalen Autoritäten der YPG versucht hätten, die
       demografische Zusammensetzung der von ihnen kontrollierten Gebiete durch
       Gewalttaten gegen bestimmte ethnische Gruppen systematisch zu verändern.“
       Der Menschenrechtsrat bestätigt zwar, dass manche Umsiedlungen notwendig
       gewesen seien, weil der IS das Gelände vermint hatte, kritisiert aber
       „Zwangsrekrutierungen“ und dass die YPG keine „adäquate“ humanitäre Hilfe
       geleistet habe.
       
       ## Die Mauer zur Türkei
       
       Wir verlassen Amude in Richtung Westen. Die Straße nach Kobani verläuft
       entlang einer endlosen 500 Kilometer langen Mauer, für deren Bau die Türkei
       syrisches Gebiet besetzt hat. Das mit Stacheldraht gesicherte Betongebilde
       verstärkt das Gefühl der Isoliertheit. Die Gegend war seit jeher die
       Getreidekammer Syriens. Jetzt im Juli sind die riesigen Weizenfelder längst
       abgeerntet; Schafherden ziehen über die Stoppelfelder. Auf den Hügeln
       wachsen junge Olivenbäume, die hier erst seit Kurzem angepflanzt werden.
       
       Die meist jungen Landarbeiter sind sehr früh auf dem Feld, um der größten
       Hitze zu entgehen. In der Nähe von Tall Abyad verläuft die Straße vorbei an
       einem rauschenden Bach. Vor Kurzem war hier nur ein dünnes Rinnsal, aber
       das hat sich geändert, seit die Türkei, um die Wassermengen des Euphrats zu
       drosseln, die winterlichen Regenfälle in kleinere Flüsse leitet. Das kommt
       der Bewässerung im syrischen Norden zugute.
       
       Am Ortseingang von Kobani stehen wie in allen Städten der Region auf dem
       Mittelstreifen große Stellwände mit den Fotos sogenannter Märtyrer,
       darunter viele Frauen. Auch das Porträt Öcalans ist allgegenwärtig. Die
       Stadt, die noch vor zwei Jahren weitgehend in Trümmern lag, macht einen
       sehr lebendigen und dynamischen Eindruck. Zwischen zerstörten Häuserblöcken
       ragen Kräne auf, wachsen Neubauten in die Höhe. „Wir wollen die Stadt
       möglichst schnell wieder aufbauen, damit die Menschen zurückkommen“,
       erklärt die Stadtplanerin Hawzin Azeez. Allerdings bleibe die humanitäre
       Hilfe von außen hinter den Erwartungen und Ankündigungen zurück. So erfolgt
       der Wiederaufbau „vorwiegend aus eigener Kraft“.
       
       Die Schlacht um Kobani, die von September 2014 bis Januar 2015 dauerte, war
       ein Wendepunkt im Kampf gegen den IS. Hier wurde die Expansion des
       „Kalifats“ zum ersten Mal aufgehalten. Und die westliche Welt erfuhr von
       einem neuen Rollenbild für Frauen im Nahen Osten.
       
       ## Ein neues Rollenbild für Frauen
       
       Das Frauenhaus von Kobani heißt „Kongra Star“, wie die Frauenbewegung von
       Rojava. Das große Gebäude liegt in einer ruhigen Nebenstraße. Im großen
       Versammlungsraum hängt die Reproduktion eines Wandgemäldes von einem
       Künstler aus Gaza: Eine junge Frau erhebt sich aus den Ruinen – ein Symbol
       für Zukunft und Hoffnung. Daneben hängen Porträts von Frauen, die in der
       Schlacht von Kobani umgekommen sind. Ein anderer Teil des Gebäudes, der
       über einen diskreten Nebeneingang verfügt, dient als Zuflucht für
       misshandelte und in Not geratene Frauen.
       
       Die Leiterinnen des Hauses betonen die zentrale Bedeutung, die das Prinzip
       der Gleichberechtigung für den Gesellschaftsvertrag von Rojava hat. „Die
       Gesetze legen zum Beispiel fest, dass Sohn und Tochter zu gleichen Teilen
       erben, das islamische Recht sieht für die Tochter nur den halben Anteil
       vor“, erklärt Sarah al-Khali. „Es ist nicht einfach, diese neuen Regeln in
       einer traditionellen Gesellschaft durchzusetzen. Doch nach und nach werden
       sie von den Leuten akzeptiert.“
       
       Die Autonomieregierung verbietet auch Polygamie, allerdings mit einer
       Ausnahme: Wegen des „Mangels an jungen Männern“, erklärt eine andere
       Mitarbeiterin von Kongra Star, würden sich einige Frauen auch auf eine Ehe
       mit bereits verheirateten Männern einlassen: „Wenn alle Beteiligten
       einverstanden sind, kann der Richter dieses Recht ausnahmsweise gewähren.“
       
       Sarah al-Khali spricht ein weiteres Problem an: „In dieser Region gibt es
       einen schrecklichen Brauch: die Blutrache.“ Sie berichtet stolz, dass das
       Frauenhaus für die Ächtung sogenannter Ehrenmorde eintritt. „Wenn zum
       Beispiel jemand deinen Bruder tötet, muss sich deine Familie rächen und ein
       Mitglied der anderen Familie umbringen. Kongra Star hat ein
       Versöhnungskomitee gegründet, um die Blutrache zu verhindern. Darin werden
       Vertreter aus beiden Familien entsandt. Gibt es in einer Kommune ein
       Problem, greift ein Frauenkomitee ein und versucht es zu lösen. Schaffen
       sie es nicht, kommen sie hierher. Finden wir auch keine Lösung, landet der
       Streitfall vor dem Gericht.“
       
       ## Kommunen für alle
       
       Hier werden Prinzipien, die von Murray Bookchins Kommunalismus inspiriert
       sind, in die Praxis umgesetzt. „Jede Straße, jedes Viertel kann eine
       Kommune gründen“, erzählt Ibrahim Mussa. „Es ist eine Art Basisregierung,
       die von den Einwohnern gewählt wird und wieder abgesetzt werden kann.
       Letztes Jahr wurden im Kanton Kobani 2300 Kommunen registriert. Sie konnten
       9700 Anzeigen bearbeiten. Nur 500 kamen vor Gericht.“ Mussa erwähnt ein
       weiteres Beispiel: „In jedem Viertel überprüfen die Anwohner, ob das
       Antimonopolgesetz eingehalten wird, damit die Händler das Embargo nicht
       für Preistreibereien ausnutzen.“
       
       In Kobani lässt sich auch studieren, wie schwer es ist, das Zusammenleben
       verschiedener Bevölkerungsgruppen zu organisieren, die zwar im Kampf gegen
       den IS vereint waren, aber ansonsten nicht unbedingt die gleichen Ansichten
       teilen. Unter dem Assad-Regime wurde in den Schulen nur auf Arabisch
       unterrichtet. Seit der umfassenden Schulreform sind die drei Amtssprachen –
       Syrisch, Arabisch und Kurdisch – gleichberechtigt, erklärt uns Dildar
       Kobani, der im kantonalen Bildungsausschuss sitzt: „Unsere Gesellschaft ist
       ein Mosaik aus lauter bunten Rosen. Einige werfen uns vor, wir würden die
       Gesellschaft ‚kurdisieren‘, das ist absurd. Die Hälfte der 20 000
       Lehrkräfte ist arabisch. In Kobani ist der größere Teil der Verwaltung
       kurdisch, wie die Bevölkerung. Aber in Tall Abyad, einer gemischten Region,
       ist die Verwaltung zur Hälfte kurdisch, zur Hälfte arabisch.“
       
       Unser vorletzter Halt ist Manbidsch. Die Stadt wurde im August 2016 von
       DKS-Einheiten befreit, die es bei den Kämpfen gegen den IS auch mit
       türkischen Truppen und der Freien Syrischen Armee (FSA) aufnehmen mussten.
       Auf dem Suk sieht man Frauen mit Ganzkörperschleiern und mit und ohne
       Kopftuch, kurdische Metzger, tscherkessische Bäcker und arabische
       Obsthändler. Ein turkmenischer Pizzabäcker namens Ahmed fegt die
       Behauptung vom Tisch, die turkmenische Bevölkerung sei für eine türkische
       Intervention. „Wir leben hier zusammen wie Brüder. Die Beziehungen zwischen
       den turkmenischen, kurdischen, arabischen und tschetschenischen
       Gemeinschaften sind sehr gut. Es gibt sogar gemischte Ehen. Was soll denn
       die Türkei hier zu suchen haben?“
       
       Abeer al-Abud gehört zu dem großen arabischen Stamm der Bani Sultan. Sie
       hat gute Chancen auf einen Sitz in der Zivilregierung von Manbidsch. Die
       praktizierende Muslimin spricht sich ebenfalls gegen die mutmaßlichen Pläne
       Ankaras aus: „Wir protestieren entschieden gegen die türkischen
       Unterstellungen, die Kurden würden die arabischen, turkmenischen,
       tschetschenischen und tscherkessischen Mitbürger unterdrücken. Im großen
       Rat sind alle fünf Bevölkerungsgruppen vertreten, in allen anderen Gremien
       haben die Araber die Mehrheit. Die Türkei versucht unserem Ansehen zu
       schaden. Wenn sie die Kurden auf diesem Gebiet bekämpfen will, werden wir
       Araber uns mit ihnen verbünden und unser Mosaik von Volksgruppen
       verteidigen.“
       
       ## Schutz vor Rache und Selbstjustiz
       
       Unweit des Markts begegnen wir Ali Hatem, einem Araber, der sein ganzes
       Leben als Fahrer für ein Bauunternehmen gearbeitet hat. Jetzt verkauft er
       Zigaretten, worauf unter dem Zwangsjoch des IS die Todesstrafe stand. Aber
       schon vorher war es schlimm, als die Freie Syrische Armee und die
       Al-Nusra-Front das Sagen hatten, erzählt Ali: „Sie mischten sich in alles
       ein, wollten alles bestimmen. Außerdem haben sie uns bestohlen und sich
       untereinander bekämpft. Aber unter dem IS war es noch schlimmer. Wir haben
       uns nicht mehr getraut, uns offen zu unterhalten, wir dachten, die Wände
       hören mit. Wenn wir heute ein Problem haben, gehen wir zum Stadtteilrat.“
       
       Schon vor der Befreiung von Manbidsch hatten die Einwohner einen Zivilrat
       mit allen Bevölkerungsgruppen gegründet, darunter die kurdische Minderheit,
       die 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Nach der Befreiung übertrug der
       Militärrat der DKS alle politischen Kompetenzen an diesen Rat.
       
       Die lokalen Behörden vor Ort müssen allerdings auch die dramatischen
       Ereignisse der jüngeren Vergangenheit aufarbeiten, damit nicht neuer Hass
       entsteht. Abeer Mahmud gehört dem Rat für Versöhnung und Integration an.
       Seit ihr Mann vor drei Jahren vom IS verhaftet wurde, hat sie nichts mehr
       von ihm gehört. Aber auch sie betont, wie notwendig das Bemühen um
       Versöhnung sei.
       
       „Als Manbidsch befreit wurde“, erzählt die Frau, „gingen viele Leute zu den
       DKS, um Kollaborateure zu denunzieren. Die wurden dann vom Militärrat
       festgenommen, um Racheakte ohne Gerichtsverhandlung zu verhindern. Im
       Rahmen unserer Versöhnungsarbeit wurden 250 Männer, die kein Blut an den
       Händen hatten, nach Fürsprache angesehener Persönlichkeiten und der
       offiziellen Repräsentanten ihrer Bevölkerungsgruppe freigelassen. Die
       Todesstrafe gibt es hier nicht.“ Dschihadisten, die wegen Bluttaten
       angeklagt oder verurteilt sind, sitzen in Gefängnissen, in denen die von
       den YPG unterzeichnete Genfer Konvention offiziell eingehalten wird.
       
       ## Eine Armee aus Jesiden, Arabern und Kurden
       
       Auf der Straße nach Rakka halten wir in Ain Issa, dem Hauptquartier der
       DKS. Ein Milizionär malt gerade mithilfe einer Schablone „Demokratische
       Kräfte Syriens“ auf eine Mauer – auf Arabisch, Kurdisch und Syrisch
       (Aramäisch). Die Autonomieregierung hat einen neunmonatigen Militärdienst
       beschlossen. Dabei sind die meisten Kämpfer ohnehin freiwillig an der
       Front. Unter ihnen finden sich auch Brigadisten aus dem Ausland wie Robert
       Grodt. Der kalifornische Occupy-Aktivist kam am 6. Juli 2017 beim Sturm der
       YPG auf einen Vorort von Rakka ums Leben.
       
       Auf den kleinen Straßen des Kantons zirkulieren Militärkonvois mit leichten
       Panzerfahrzeugen aus US-amerikanischen Beständen. Nach zwei Stunden Fahrt,
       vorbei an zerstörten Gebäuden und verbrannten Autowracks, nähern wir uns
       Rakka. Scharfschützen und Angriffe der Dschihadisten halten den Vormarsch
       der DKS auf. Am Stadtrand sehen wir eine Garage, in der Leichtverletzte
       provisorisch behandelt werden. Etwas weiter bereitet sich eine Gruppe
       junger [5][Jesidinnen auf ihren Einsatz an der Front] vor. Eine von ihnen
       erzählt uns, sie wolle Rache üben für alle Frauen, die in die Fänge des IS
       geraten sind. „Egal ob die Gefangenen Jesidinnen, Araberinnen oder
       Turkmeninnen sind – wir sind hierhergekommen, um sie zu befreien. Dann
       gehen wir wieder nach Hause, wir sind keine Besatzungsmacht.“
       
       Von der Dachterrasse des Häuserblocks, in dem die Kämpferinnen und Kämpfer
       untergebracht sind, hat man eine eindrucksvolle Sicht auf die Stadt, in der
       früher 200 000 Einwohner lebten. Die Straßen zwischen den zerstörten und
       den noch intakten Häusern sind menschenleer. Das ganze Viertel wurde
       vorsichtshalber evakuiert. Vereinzelt sind Schüsse und Explosionen zu
       hören. Ein Stockwerk tiefer sitzt eine Gruppe von Kämpfern um eine große
       Schüssel Reis mit Gemüse und Hühnerfleisch. Nur an den Uniformabzeichen
       kann man die jesidische, arabische oder kurdische Zugehörigkeit erkennen.
       Alle lauschen konzentriert den Funksprüchen aus der DKS-Kommandozentrale,
       über die jedes Mitglied der Gruppe seine Anweisungen bekommt.
       
       Die Pause dauert nicht lange. Der IS leistet erbitterten Widerstand. Seine
       Niederlage scheint unabwendbar. Jenseits von Rakka stehen weitere Kämpfe
       bevor. Und vielleicht wird man dann eines Tages auf den Landkarten der
       Region tatsächlich die Namen Rojava oder Demokratische Föderation
       Nordsyrien lesen.
       
       Aus dem Französischen von Inga Frohn
       
       15 Sep 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.thearabweekly.com/Opinion/9116/Kurdish-independence-prospect-cements-a-Turkish-Iranian-alliance
 (DIR) [2] https://www.amnestyusa.org/reports/we-had-nowhere-else-to-go-forced-displacement-and-demolitions-in-northern-syria/
 (DIR) [3] https://www.hrw.org/news/2014/06/18/syria-abuses-kurdish-run-enclaves
 (DIR) [4] https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwiU-42P_6HWAhUQZVAKHS93AFMQFggmMAA&url=http%3A%2F%2Fwww.ohchr.org%2FDocuments%2FCountries%2FSY%2FA_HRC_34_CRP.3_E.docx&usg=AFQjCNEAaNeHYSkN7kOOsXf8eR0TywWsUw
 (DIR) [5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5370261
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mireille Court
 (DIR) Chris Den Hond
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       beurteilt die Syrien-Politik der Türkei und berichtet von den eigenen
       Zielen.