# taz.de -- Musiktheater über den Fall Appelbaum: Koketterie am Badewannenrand
       
       > „Fuck the facts“: Die Neuköllner Oper in Berlin bringt die
       > Vergewaltigungsvorwürfe gegen Jacob Appelbaum auf die Bühne.
       
 (IMG) Bild: Jay und Rache: „Warum, Schönste, willst du fliehen, Meinen Armen dich entziehen?“
       
       [1][„In der Neuköllner Oper führt man eine Heiligenverehrung des
       Vergewaltigers Jacob Appelbaum auf“], schrieb im Mai jemand auf Twitter.
       Diese Zeilen flackern nun auch über die große Leinwand, die hinter dem
       komplett weißen Bühnenbild im Studio der Neuköllner Oper in Berlin
       aufgebaut ist. Zwischen schwarzen Venen, die wie ein Netz verwoben sind,
       verläuft eine Zahlenmatrix, dazwischen immer wieder Tweets:
       
       „What the fucking fuck?“
       
       „What the acutal fuck?“
       
       Die vier DarstellerInnen treten auf die Bühne, zwei Frauen und zwei Männer,
       und singen im Chor „What the fuck?“, während hinter ihnen Hashtags über die
       Leinwand fliegen.
       
       #Macht #Anbiedern #Cyber #Fucking
       
       Das Musiktheater „Fuck the Facts“ unter Regie von Christian Römer basiert
       auf dem Fall von Jacob Appelbaum – auch wenn das Stück das nicht explizit
       erwähnt. [2][Gegen den berühmten US-amerikanischen Hacker, der an den
       NSA-Leaks beteiligt war und unter anderem den Angriff auf Merkels Telefon
       öffentlich machte, gab es im vergangenen Jahr schwere Vorwürfe wegen
       sexuellen Missbrauchs.]
       
       ## „Hier wohnt ein Vergewaltiger“
       
       Den härtesten Schlag gegen Appelbaum brachte [3][eine Website mit seinem
       Namen], die anonyme Statements von vermeintlichen Opfern und Zeugen gegen
       ihn sammelte. Appelbaum, der aus Angst vor den USA im Exil in Berlin lebt,
       musste nach den Vorwürfen seinen Job beim Verschlüsselungsnetzwerk „Tor“
       aufgeben und ein Großteil der Hackerszene schloss ihn komplett aus. An sein
       Haus in Berlin wurde „Hier wohnt ein Vergewaltiger“ gesprayt.
       
       Der Fall war kontrovers, weil, wie oft bei Vergewaltigungsvorwürfen, die
       Beweislage undurchsichtig war, aber die Netz-Community Appelbaum trotzdem
       für schuldig befand. [4][Medien wie die ZEIT zweifelten viele der
       Missbrauchsvorwürfe an.] Auch die taz recherchierte zu dem Thema,
       [5][zusammen mit der freien Autorin Anna Loll, die auch den Text für „Fuck
       the Facts“ verfasste.]
       
       Das Stück beschäftigt sich laut eigener Aussage mit einem „wahren Fall
       zwischen messianischer Heilserwartung und tribal justice im Global
       Village.“ Zu den Kontroversen gibt es einen Kasten auf dem Flyer des
       Stücks: „Noch bevor Text und Musik fertig geschrieben waren, gab es die
       ersten Tweets, Vermutungen, Beschuldigungen, Parteinahmen. Daher hier
       ausdrücklich: Uns geht es um Selbstermächtigung im Netz, die die Demokratie
       gefährdet.“
       
       Das Stück dreht sich um eine Gruppe Hacker, gespielt von Allen Boxer als
       Jay – eindeutig Jacob Appelbaum – Hrund Ósk Árnadóttir als Rache, Angela
       Braun als Unschuld und Mario Klischies als Jay Lo, ewig im Schatten des
       großen Jay. Bijan Azadian begleitet alles von der Arie bis zum harten
       Techno auf dem Keyboard.
       
       ## Alles eitle Narzissten
       
       Schon in der zweiten Szene wird deutlich, dass die Vier eine Gruppe
       besonders eitler Narzissten sind, die sich um den Platz auf der Bühne
       streiten. Immer wieder bricht das Stück auf und tut so, als würde es sich
       noch in den Proben befinden. Das alles bringt etwas sehr Komisches ins
       Stück. Es scheint zu funktionieren, das Publikum in dem kleinen Saal lacht.
       Aber vor dem Hintergrund des Falls wirkt dieser inszenatorische Kniff
       deplatziert.
       
       Das Stück begleitet den steilen Aufstieg von Jay zum Hacker-Messias. „Ich
       komme um euch zu erzählen, wir werden ausgespäht!“, verkündet er. Jay tritt
       bei einer Talkshow auf, die Leinwand zeigt kurz #Bei Illner. Appelbaum
       besuchte 2013 Maybrit Illners ZDF-Talkshow.
       
       Die beiden Moderatorinnen im Stück kichern hysterisch und bringen keinen
       Satz zu Ende – zu beeindruckt sind sie von dem Hacker-Messias. Das Stück
       macht sich über die Heldenverehrung lustig, nicht aber über die
       Selbstdarstellung des Helden. Dass Appelbaum narzisstische Züge hatte,
       schreiben viele über ihn. Zumindest seine Optik lässt ihn lächerlich
       erscheinen, mit Glatze und engem Muskelshirt sieht er aus, als könnte er
       für Scooter singen.
       
       Dann feiert die Gruppe in Mozartkostümen, die Party wird zur Sexorgie. Hier
       setzt die eigentliche Handlung an. Irgendwann ist Jay allein mit einer der
       Frauen, Rache. Er legt sich in eine Vertiefung im Boden, es sieht wie eine
       Badewanne aus. Sie sitzt am Rand, die beiden flirten, fangen an zu singen,
       aus dem Stück „Acis und Galathea“ von Georg Friedrich Händel.
       
       Jay: „Warum, Schönste, willst du fliehen,Meinen Armen dich
       entziehen?“Rache: „Ja, läd't zu seinem Mahl der Leu,So flieht das Lamm in
       kluger Scheu.“
       
       Das Stück von Händel handelt von einem Gott, der eine Frau gegen ihren
       Willen verführen möchte. Doch was man auf der Bühne sieht, sieht aus wie
       Koketterie. Rache räkelt sich verführerisch, berührt Jay, entfernt sich
       wieder. Zwischendurch sieht es aus, als könnte sie ihm kaum widerstehen.
       
       ## „Nein heißt Nein, du Hanswurst“
       
       Dann zieht Jay sie in die Badewanne. Auf einmal schreit sie: „Nein heißt
       Nein, du Hanswurst.“ – “Ich nehme mir nur, was du mir versprochen hast“,
       sagt er. Unverständlich, warum in einer solchen Situation mit lustigen
       Schimpfwörtern gespielt wird. Auch sonst vermittelt die Szene nicht die
       Ambivalenz, die solche Situationen in der Realität oft haben können.
       
       Die Situation ist direkt aus einem der Berichte gegen Appelbaum auf der
       Website genommen: Eine Frau mit dem Decknamen „Forest“ beschreibt eben
       diese Szene und wirft Appelbaum vor, sie gegen ihren Willen in die
       Badewanne gezogen und angefasst zu haben.
       
       „Bin ich denn allein mit all dem Leid?“, singt sie danach. „Opfer, herbei!“
       Und schon findet sie ein zweites Opfer. Soll das darauf hindeuten, dass
       Opfer herbeigerufen wurden, die es eigentlich nicht gibt? „Gedacht habe ich
       Nein“, sagt die zweite Frau, Unschuld, die nach Rache mit Jay Sex hatte.
       Allein die Namen der beiden Frauen scheinen zu urteilen: „Rache“ und
       „Unschuld“.
       
       Eine der Frauen, die Vorwürfe gegen Appelbaum erhob, schrieb auf Twitter:
       „[6][I wonder who plays me and my friend who witnessed my assault, who one
       of the authors of this trash play fact-checked my story with. Classy!]“
       
       ## Die TäterInnen sind gefunden
       
       Das Stück setzt seinen angeblichen Fokus, die „Selbstermächtigung im Netz,
       die die Demokratie gefährdet“, ganz ans Ende. Es schließt mit einer
       brutalen Beerdigung des vom Internetgericht Verurteilten. Rache schwingt
       ihren Baseballschläger. „Wir sprechen unser eigenes Recht: schuldig“, sagt
       sie. „And if you're abusive to women, then get the fuck out of our
       community. Fuck the Facts!“, alle im Chor.
       
       Die zentrale Frage aber, nämlich was diese Form von Selbstjustiz im
       Internet mit der Demokratie macht, kann gar nicht mehr gestellt werden. Das
       Stück hat die TäterInnen schon gefunden. Es ist nicht Jay, der einem einen
       Schauer über den Rücken jagt, wenn er nach längerem Geplänkel eine Frau zu
       sich in die Badewanne zieht und danach unambivalent einvernehmlichen Sex
       mit einer anderen Frau hat. Es ist die Frau mit Baseballschläger und
       Racheagenda, die am bedrohlichsten inszeniert ist und den Mob hinter sich
       vereint.
       
       #Digitale Hinrichtung #Hexenjagd #Mob Justice #Internetpranger steht auf
       der Leinwand.
       
       14 Sep 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/tante/status/860446534156115968
 (DIR) [2] /!5312220/
 (DIR) [3] http://jacobappelbaum.net/
 (DIR) [4] http://www.zeit.de/kultur/2016-08/jacob-appelbaum-vergewaltigung-vorwuerfe-zweifel
 (DIR) [5] /!5361578/
 (DIR) [6] https://twitter.com/i/web/status/907983975636803585
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tanya Falenczyk
       
       ## TAGS
       
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