# taz.de -- Buch über Ersten Weltkrieg: Im Stakkato blutiger Erfahrung
       
       > Patriotismus und Liebesschwüre: Die „Verborgene Chronik“ über den Ersten
       > Weltkrieg ist ein großes Werk der Mentalitätsforschung.
       
 (IMG) Bild: Heute werden die Schlachten nachgestellt, dem Ernst von damals kommen sie nicht nahe
       
       Die „Verborgene Chronik 1915–1918“ ist der zweite Band eines einzigartigen
       Kriegstagebuchs. Der Band enthält eine Notiz zu jedem Tag zwischen dem 1.
       Januar 1915 und dem 25. Januar 1919 – insgesamt 1.519 Eintragungen. Diese
       stammen allerdings nicht von einem Autor, sondern von 111
       Tagebuchverfasserinnen und -verfassern, deren Werke zum 18.000 Tagebücher
       umfassenden Bestand des seit 1998 existierenden Deutschen Tagebucharchivs
       in Emmendingen gehören.
       
       Unter den Autoren der „Chronik“ sind einfache Soldaten ebenso wie
       Offiziere, Kriegsgefangene und Zivilisten männlichen und weiblichen
       Geschlechts. Sozial entstammen die die Autoren unterschiedlichen Schichten,
       Klassen und Berufen. Zeitlich umfassen die Notizen die Kriegsphase von den
       erfolgreichen Schlachten im Osten (1915) über die Schlachten bei Verdun
       (1916) und an der Somme (1916) über die 11 Offensiven am Isonzo zwischen
       (1915–1917) bis zum Rückzug der deutschen Truppen im Westen (1917), der
       Abdankung Wilhelms II. und der Novemberrevolution.
       
       Die Tagebuchnotizen bilden ein facettenreiches, insgesamt bestürzendes
       Mosaik von Kriegserfahrungen in ihrer ganzen Bandbreite zwischen
       unvorstellbarer Grausamkeit, subjektiver Verblendung und alltäglicher
       Banalität. Am Neujahrstag 1915 hoffte ein Militärgeistlicher und Offizier,
       „Ostern, spätestens Pfingsten“ wieder „daheim“ zu sein, während sich ein
       kriegserfahrener Oberst a. D. vom „lieben Gott“ einen „milden Winter“ für
       „unsere Lieben“ in Russland und einen strengen Winter in Frankreich
       wünschte, „damit die Schwarzen“ (d. h. nordafrikanischen, französischen
       Soldaten) „und die Lumpen Inder“ (d. h. die aus Indien stammenden Soldaten
       in englischen Diensten) „erfrieren“. Der Kriegsveteran bewegte sich mental
       in einer brutal einfach zusammengereimten Kriegerwelt, in der es nur so
       wimmelte von „Sau-Amerikanern“, „Sau-Russen“, „Judenfratzen“ und anderem
       „Lumpengesindel“.
       
       Das war keine bloße Veteranenmentalität. Ein 35-jähriger Fabrikant und
       Hauptmann begründete die Notwendigkeit, den Gegner mit Artilleriegeschützen
       „mürbe zu bombardieren“, mit dem Hinweis auf die beschränkte Verfügbarkeit
       „unseres Materials“, d. h. der „einzigen Blutwaffe im wahrsten Sinn des
       Wortes“, und auf „die Höhe der erreichten Kultur“, denn: „Jeder einzelne
       Mann von uns ist mehr wert als zehn Russen“.
       
       Kriegsrechtliche Normen verschwanden im Krieg ebenso schnell wie
       alltägliche Moralvorstellungen. Ein Oberleutnant forderte seine
       Untergebenen auf, „rücksichtslos vorzugehen und ja keine Gefangenen zu
       machen“, und ein Leutnant zählte zum „Kriegserlaubten“ das
       „Brunnenverschütten oder mit Jauche ungenießbar machen“. Wie über die in
       der Freizeit beliebte Jagd auf Kaninchen berichtet ein Soldat über die
       „Rumänen-Rache“. „Nachts griff der Feind bei hellem Mondschein unsere
       Stellung an, wurde aber unter schweren Verlusten abgewiesen. Leider musste
       auch von den unseren manch einer ins Gras beißen. Bei den rumänischen
       Angriffen muss man wirklich lachen. (..) Wir lassen sie bis kurz vor die
       Stellung kommen, dann werden sie durch Schnellfeuer niedergemacht“.
       
       ## Berichterstattung im Stakkato
       
       Die Härte des Krieges verdrängte bei den Beteiligten – Befehlenden und
       Gehorchenden – nicht nur moralische Bedenken, sondern offensichtlich auch
       vernünftige Erwägungen. In lapidaren Sätzen notierte ein Unteroffizier:
       „Wir machten bei dem Sturm 300 Gefangene, Verluste beiderseits sehr schwer,
       rund 2.000 Mann, und das alles wegen eines Grabenstücks von rund 300 m
       Länge. Dreimal stürmten die Franzosen erfolglos, das vierte Mal bekamen sie
       unseren Graben“. Verstörend das Stakkato, mit dem blutige eigene Erfahrung
       aufs Äußerste reduziert und der Tod anderer beschönigt wird: „Gefecht,
       verwundet: Schrapnell, Unterschenkel. Übergabe. Hauptverbandplatz.
       Feldlazarett I. Strohsack. Abgang von Krauß (Kopfschuss)“. Ein Offizier
       nützte die freie Zeit nach dem Kampf im Schützengraben für eine
       ausgesprochen makabre Tätigkeit. „Für den Urlaub mache ich aus einem
       Granatsplitter einen Brieföffner und zwei Ringe. Eine Regimentskapelle
       spielt in der Nähe, die Mannschaften karteln und vorne donnern heute den
       ganzen Tag schwer die Kanonen“.
       
       Tagebuchschreiberinnen in der Heimat beklagten schon sehr früh die
       mangelnde Lebensmittelversorgung („Es darf kein Brot über 100 Gr. aus
       reinem Weizenmehl verkauft werden“.) Dieselbe Klage äußerten sehr früh auch
       Kriegsgefangene, gegen Kriegsende zunehmend auch Soldaten („zu wenig Essen,
       halbe Brot für zwei Tage“). Wie stark das Gefälle bei der Versorgung
       zwischen Offizieren und Mannschaften war, belegt eine Notiz eines
       Ingenieurs, Fabrikanten und Offiziers zu einem Gelage: „Abends bei Freiherr
       von Wechmar. Geladen waren außer mir der Regimentskommandeur Major Freiherr
       von Edelsheim und der Ortskommandant Bierhans. Speisefolge:
       Gänseleberpastete, Steinbutt, Hähnchen, Schneespeise, hinterher wie üblich
       Kaffee und Bier“.
       
       ## „Dass ich gefehlt“
       
       Die Auswahl der Herausgeber aus den Tagebüchern enthält – von
       hurrapatriotischen Bekenntnissen und platten Liebesschwüren abgesehen –
       wenig wirklich Privates, außerhalb der Kriegswelt Liegendes. Ein Hauptmann
       zitiert aus dem Brief einer Frau an ihren Mann an der Front: „Lieber, guter
       Josef! Ich teile dir mit, dass ich gefehlt. Ich kann nichts dafür. Ich bin
       in die Hoffnung geraten von einem anderen. (…) Verzeihe mir, lieber, guter
       Josef, vielleicht stirbt das Kind, dann ist alles wieder gut. Ich mag den
       Kerl nicht mehr, weil du noch am Leben bist. Bei uns ist alles sehr teuer,
       und es ist gut, dass du fort im Feld bist. Da kostet wenigstens das Essen
       nichts“.
       
       Ein Hauptmann der Reserve und Fabrikant vertraute seinem Tagebuch ein
       Geständnis an. „Am 11.8.1916 rücke ich vom Urlaub nach Brünn ein und gehe
       gerne, sehr gerne, wieder ins Feld, schon um von Marianne wegzukommen, die
       mir die Tage meiner Anwesenheit daheim nicht angenehm gestaltet. Die Frau
       faselt nur von Freiheit und sonstigem Blödsinn, ich opfere all meine Liebe
       umsonst, denn sie verdient sie nicht mehr. Geschäftlich wärs ein Vorteil,
       wenn ich daheimbleiben könnte, aber menschlich, im Verhältnis zu meiner
       Frau ist es besser, ich gehe wieder raus“.
       
       Zum Bedrückendsten der Tagebuchnotizen gehört der Grad an Verhetzung junger
       Menschen. Eine junge Frau von 18 Jahren notierte im Sommer 1918, als die
       Niederlage längst absehbar war. „O, wenn ich doch ein Knabe wäre, mit
       Freude würde ich, o Heimat, mein Leben für dich opfern.“
       
       Die Tagebücher von Frontsoldaten und -offizieren dokumentieren den
       Kriegsalltag in seiner Normalität und Drastik, die heroisierende und
       ästhetisierende Stoßtruppführerlegenden und Kriegermythen in der Manier der
       „Stahlgewitter“ bieder aussehen lassen. Die dichten Darstellungen eines
       19-Jährigen Tagebuchschreibers haben nichts von schmieriger
       Landsertumprosa. Die Dokumentation des Kriegsalltags von Lisbeth Exner und
       Herbert Kapfer bietet historische Aufklärung von unten und verdient viele
       Leserinnen und Leser.
       
       9 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Walther
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Erster Weltkrieg
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 (DIR) Kolumne Alles getürkt
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