# taz.de -- Essay zu Spannungen in Iran: Revolte gegen die Revolution
       
       > Die jüngste Rebellion zeigt einmal mehr: Die „Islamische Revolution“ im
       > Iran ist gescheitert. Bei einem Referendum wären siebzig Prozent dagegen.
       
 (IMG) Bild: Seit der Jahreswende kommt es wieder vermehrt zu Protesten, gegen die die Regierung hart vorgeht
       
       Hielte man heute in Iran ein Referendum zur Islamischen Republik ab, würden
       eindeutig über 70 Prozent sie ablehnen – Wohlhabende, Akademiker, Kleriker,
       Dorf- und Slumbewohner würden aus unterschiedlichen Gründen Nein sagen. Zu
       diesem bemerkenswerten Urteil kommt nicht etwa ein iranischer
       Oppositioneller im Exil, sondern der bekannte Teheraner
       Universitätsprofessor Sadegh Zibakalam in einem Interview während der
       Rebellion zur Jahreswende. Vor 15 Jahren erschien Zibakalam noch mit einem
       studentischen Basidschi (einem Paramilitär des Regimes) zum Interview mit
       Ausländern, damit dieser an seiner Stelle die Fragen beantwortet.
       
       Doch wie kommt es, dass sogar ein ehemals so begeisterter Anhänger der
       „Islamischen Revolution“ heute ein so vernichtendes Urteil fällt? Um diesen
       radikalen Stimmungsumschwung und die damit einhergehende Frustration zu
       verstehen, muss man sich die Hoffnungen vor Augen führen, mit denen die
       Revolution vor fast vier Jahrzehnten begann.
       
       Es gibt keine andere Revolution in der neueren Geschichte, an der so viele
       Menschen teilhatten wie an der in Iran von 1977–79: Säkulare wie
       Geistliche, Linke wie Basarhändler, Arbeiter wie die obere Mittelschicht
       richteten ihren Zorn alle gemeinsam gegen den „amerikanischen König“, wie
       der Schah oft genannt wurde.
       
       Denn mithilfe der CIA wurde 1953 gegen den demokratisch gewählten
       Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh geputscht und der Schah – von
       Amerikas Gnaden – auf den Pfauenthron gehievt. Was folgte, war eine im
       Westen hofierte Erbmonarchie, die Andersdenkende verfolgte, den Ölreichtum
       des Landes verschwendete und einen persischen Kulturchauvinismus betrieb.
       
       ## Der kurze politische Frühling endete jäh
       
       Wie kein anderer wusste der von Sartre in Paris beeinflusste Soziologe Ali
       Shariati diese Missstände öffentlich anzuprangern – er warderIntellektuelle
       des revolutionären Aufstands. Erst als Shariati plötzlich verstarb,
       übernahm ein greiser Geistlicher die Hauptrolle: Ruhollah Chomeini.
       
       Vom Pariser Exil aus stellte er einen vom Schah befreiten Iran in Aussicht,
       der von Menschenwürde und Gerechtigkeit geprägt sein werde, keine
       frauenfeindliche Theokratie. In einem der bemerkenswertesten historischen
       Momente wurde somit eine Diktatur durch eine gesellschaftlich breit
       getragene revolutionäre Bewegung gestürzt.
       
       Doch der kurze politische Frühling in Teheran endete jäh. Chomeini gelang
       es, nicht zuletzt mithilfe der stalinistischen Linken, denen
       Antiimperialismus wichtiger war als Menschenrechte und Demokratie, und des
       irakischen Angriffskriegs, die Macht an sich zu reißen. Die Besetzung der
       US-Botschaft nutzte Chomeini dazu, den auch in Iran damals herrschenden
       linken Zeitgeist zu vereinnahmen und revolutionäre Wegbegleiter brutal zu
       vertreiben. Was nun begann, waren die systematische Islamisierung von Staat
       und Gesellschaft sowie die Konsolidierung der Islamischen Republik im
       Windschatten des achtjährigen Krieges gegen den Irak.
       
       In den ersten fünf Jahren wurden fast 8.000 Menschen hingerichtet,
       schätzungsweise genauso viele beim „großen Massaker“ im letzten Jahr des
       Krieges von 1988. In einem vergleichbaren Zeitraum vor der Revolution
       wurden weniger als 100 politische Gefangene exekutiert. Bald wurde klar,
       dass die eine Diktatur nur durch eine andere, noch brutalere abgelöst
       worden war.
       
       ## Bis heute herrscht Apartheid
       
       Zu dieser politisch traumatisierten Gesellschaft gesellte sich eine
       Apartheid hinzu, die die Islamische Republik bis heute auszeichnet. Während
       die „Unsrigen“, die Regimeloyalen, Zugang zu den staatlichen Ressourcen und
       Privilegien genießen, sind die „Nichtunsrigen“ weitgehend davon
       ausgeschlossen.
       
       Die drei konstituierenden politischen Kulturen des modernen Iran –
       Nationalismus, Sozialismus und Islamismus – wurden zugunsten des Letzteren
       in den Untergrund getrieben. Der gesellschaftliche Pluralismus fand sich in
       einer ausschließlich islamistischen politischen Elite, aus der sowohl die
       heutigen Reformer als auch die Konservativen hervorgingen, nicht wieder.
       
       Stattdessen wurde ein kaum durchschaubarer Klüngel von Gruppierungen
       etabliert, die im politischen Tagesgeschäft um Pfründe, Macht und Einfluss
       konkurrieren. Sie schweißt ein De-facto-Klassenbewusstsein zusammen, die
       Erkenntnis, dass sie all das verlören, gäbe es die Islamische Republik
       nicht mehr. Das Überleben des Regimes – koste es, was es wolle – wurde
       somit zur unangefochtenen Priorität für Konservative und Reformer zugleich,
       die im Übrigen erstaunlich enge familiäre Beziehungen verbinden.
       
       Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass sich der
       Volkszorn, der sich zur Jahreswende Bahn brach, erstmals gegen das gesamte
       Regime richtet – gegen Hardliner ebenso wie gegen Reformer. „Reformer,
       Prinzipalisten: Das Spiel ist aus“, wurde skandiert. Denn die Iraner, im
       Gegensatz zu hiesigen Regime-Apologeten, haben längst durchschaut, dass
       Reformer und Hardliner gleichermaßen für ihre Misere verantwortlich sind.
       So ist das Besondere an der noch nicht erloschenen Rebellion, das sie die
       Systemfrage stellt. In Abwandlung des berühmten Slogans von 1979 hieß es
       diesmal: „Unabhängigkeit, Freiheit und iranische Republik“ – „iranische“
       statt „islamische“.
       
       ## Es bleibt die Wahl zwischen größerem und kleinerem Übel
       
       Ein weiterer Slogan lautete: „Wir wollen weder Mir [Hossein Mussawi, Führer
       der Grünen-Bewegung von 2009] noch [religiöse] Führer, wir wollen weder
       schlecht noch schlechter.“ Damit machten die Protestierenden deutlich, dass
       sie sich nicht mehr mit gelenkten Wahlen begnügen wollen. Das komplizierte
       politische System der Islamischen Republik basiert auf der vermeintlichen
       Koexistenz von Theokratie und Demokratie. Formell bestehen zwei Pfeiler:
       ein theokratischer mit dem Obersten Führer und ein republikanischer mit dem
       vom Volk gewählten Präsidenten an den Spitzen.
       
       Doch diese Unterscheidung ist nichts anderes als eine Farce. Alle zu Wahlen
       Kandidierenden werden auf ihre Systemtreue hin abgeklopft, sodass dem Volk
       lediglich die Wahl zwischen dem kleineren und dem größeren Übel bleibt.
       Somit bleibt das System trotz zahlreicher Wahlen erstaunlich
       reformresistent. Daher gelten die Wahlen in der Islamischen Republik in der
       Forschung als Faktor von deren Widerstandsfähigkeit.
       
       Manche mögen nun einwenden, dass doch nicht alles negativ sei, immerhin hat
       die Islamische Republik viel Positives vorzuweisen: Eine hohe
       Alphabetisierungsquote, bessere Bildung für Frauen, die in den Hochschulen
       die Mehrheit stellen, und insgesamt eine Zivilgesellschaft, die sich im
       regionalen Vergleich sehen lassen kann. Was all diese Beschöniger –
       darunter eine Reihe von politischen Analysten in Deutschland –
       geflissentlich ignorieren, ist, dass all diese Errungenschaften nicht etwa
       den fortschrittlichen Vorstellungen der Herrschenden entsprangen. Vielmehr
       war es der Druck von unten, der all dies ermöglichte, getrieben von einer
       couragierten Zivilgesellschaft.
       
       Zur politischen Unmündigkeit der Mehrheit und der Reformresistenz des
       Regimes gesellt sich die damit verzahnte soziale Misere: Die Mehrheit der
       Bevölkerung hatte während der Herrschaft des Schahs nichts vom Ölreichtum,
       heute jedoch hat sie genauso wenig. Eine herrschende Klasse wurde lediglich
       durch eine andere ersetzt. Die Hälfte der Iraner lebt am Armutslimit.
       Gleichzeitig schwelgen die Regimefunktionäre und ihre auch im Westen
       verstreuten „Edelgeborenen“ in immensem Reichtum. Nicht nur wurde der
       revolutionäre Ruf nach Freiheit verraten, sondern auch der nach
       Gerechtigkeit. Der goldbestückte Thron des Monarchen wurde durch den Turban
       der Ajatollahs ersetzt.
       
       ## Der Westen hält die islamische Republik mit am Leben
       
       Die von Armut betroffenen Iraner, zu denen auch große Teile der
       Mittelschicht gehören, sind der Motor der jüngsten Rebellion. Sie galten
       bisher als soziale Basis des Regimes. Was aber passiert, wenn sich noch die
       15 Millionen Slumbewohner hinzugesellen? Die für die Interessen der
       „Barfüßigen“ angetretene Islamische Republik muss nun vor ebendiesen
       zittern. Und so kommt es zum Schulterschluss: Der im Westen gelobte
       Ex-Reformpräsident Chatami belegt die Protestierenden mit denselben
       abschätzigen Worten wie die Hardliner. Die Arroganz der Macht zeigt ihr
       wahres Gesicht.
       
       Der Westen hat mit seiner von Egoismus geleiteten Politik geholfen, die
       Islamische Republik am Leben zu erhalten. Die aggressive Politik des
       regime change der Bush-Ära, gekoppelt mit lähmenden Sanktionen, hat nur den
       Machtvorsprung des autoritären Staates gegenüber der Zivilgesellschaft
       zementiert und Letztere in einen ausweglosen Belagerungszustand
       hineinmanövriert. Die mit dem Atomdeal einsetzende Entspannung hat Europa
       wiederum für eine Annäherung lediglich an das Regime genutzt, um seine
       wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele durchzusetzen.
       
       So verkam die Politik des Wandels durch Handel zu einer der autoritären
       Stabilität. Die zögerlichen Reaktionen auf die Rebellion aus Brüssel und
       Berlin waren Ausdruck eines perfiden Schmusekurses. Eine wertebasierte
       Außenpolitik blieb indes aus. Dabei wäre sie besser geeignet,
       realpolitische Ziele nachhaltig umzusetzen. Soziale und politische Misere
       macht kein Land zum Stabilitätsfaktor, das hat nicht zuletzt die jüngste
       Rebellion gezeigt.
       
       Aufgrund ihrer unüberbrückbaren Missstände ist die Islamische Republik in
       eine Ära der Turbulenz und Instabilität geraten. Als historisches Projekt
       ist sie gnadenlos gescheitert. Der Beginn des letzten Kapitels ihrer
       Geschichte wurde mit der Revolte eingeläutet.
       
       3 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ali Fathollah-Nejad
       
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