# taz.de -- Debatte Kopftuch und Feminismus: Irans neue Protestkultur
       
       > Es scheint die Stunde der Frauen zu sein. Dabei wird über mehr als nur
       > das Kopftuch diskutiert. Wie viel Dissidenz verträgt das System?
       
 (IMG) Bild: Auch Frauen im Tschador machen sich dafür stark, dass das Kopftuchtragen keine Pflicht mehr ist
       
       Jahrelang haben die meisten Medien die Falschen abgebildet, wenn sie
       weiblichen Freiheitswillen in Iran illustrierten wollten: jene Schönen der
       Oberklasse mit perfekt gestylten (oder operierten) Gesichtszügen und
       eleganten schlanken Händen, die keine körperliche Mühsal kennen.
       
       Seit sechs Wochen klettern nun ganz andere Frauengestalten auf
       innerstädtische Verteilerkästen und halten das Kopftuch in einer Gebärde
       wortlosen Protests an einem Stöckchen in die kalte Winterluft. Es sind
       gewöhnliche Iranerinnen, ihre Kleidung wirkt eher billig, und in manches
       Gesicht haben sich die Beschwernisse des Alltags früh eingegraben.
       
       Natürlich gibt es Gründe, dass die Falschen zu Ikonen wurden, schienen sie
       doch ästhetisch die Imagination der edlen „Perserin“ zu erfüllen, die seit
       den Zeiten von Soraya und Farah Diba durch das deutsche Iran-Bild spukt und
       nach der Revolution von 1979 stets den Kontrapunkt zur verschleierten
       Düsternis der Islamischen Republik markierte.
       
       Nun stehen hier und da sogar Frauen im Tschador auf einem Verteilerkasten
       und plädieren mit der Stöckchen-Gebärde für Toleranz gegenüber einem
       Lebensstil, der nicht der ihre ist. Anders gesagt: Sie treten dafür ein,
       dass die Frau in der Schleierfrage selbst entscheiden kann – denn dies
       würde auch der Bejahung des Schleiers neue Würde geben.
       
       ## Mancherorts wird bereits ein neuer Feminismus ausgerufen
       
       Das klingt subtil, arg subtil für hiesige Ohren. Gewiss wird in manchen
       Redaktionen angesichts der jüngsten Fotos von Protestierenden bereits „ein
       neuer Feminismus“ ausgerufen. Denn so funktioniert die Berichterstattung
       zur Islamischen Republik: Wenn die Beobachter etwas mitbekommen, das ihnen
       selbst neu ist, erklären sie dies zum neuen spektakulären Trend in Iran.
       Das gilt selbstverständlich nur für Regungen, die irgendwie gegen die
       herrschende Ordnung gerichtet sind. Geschieht hingegen Ungewohntes auf
       Seiten der Regime-Fraktionen, wird dies in die alten Muster einsortiert.
       
       Zweifel, Zwischentöne, offene Fragen sind wenig erwünscht, auch bei jenen
       Iranstämmigen, die hierzulande oft die Kommentierung der Ereignisse prägen.
       Es laden aber nun gerade die jüngsten Aktionen von Frauen dazu ein, die
       gegenwärtigen Turbulenzen ergebnisoffen zu betrachten.
       
       Zunächst: Die Frauenaktionen sind keine Folge der jüngsten Sozialproteste,
       wie manche falsche Zeile in den Medien nahelegt, sondern sie begannen
       bereits davor. Genau genommen gibt es in Iran seit Längerem ein Kontinuum
       von Protesten verschiedenster Art, vor allem bei Arbeitern, aus denen
       manches plötzlich herausragt, weil es zur Kenntnis einer nationalen und
       internationalen Öffentlichkeit gelangt – und sich dann, ermutigt durch die
       Resonanz, erneut vervielfacht.
       
       So erging es den Sozialprotesten der ersten zwei Januarwochen. Doch bereits
       einen Tag, bevor also diese Welle von Unruhen einsetzte, bestieg die erste
       Frau, eine 31-jährige Mutter, einer Eingebung folgend in der Teheraner
       Revolutionsstraße eben jenen Verteilerkasten und kreierte damit stilsetzend
       eine Art Instant-Bühne friedfertiger Dissidenz.
       
       ## Auf so viel zivilen Ungehorsam hat man lang gewartet
       
       Auf solcherart zivilen Ungehorsam im Alltag haben Frauenrechtlerinnen in
       Iran lange gewartet. Das scheint erklärungsbedürftig, denn die Iranerinnen
       haben das Land ja in den vergangenen drei Jahrzehnten durchaus nachhaltig
       verändert, auf jene langsame und beharrliche Weise, für die der
       Sozialwissenschaftler Asef Bayat den Begriff der „sozialen Nicht-Bewegung“
       erfand.
       
       Die Frauen waren die Meistbetrogenen der Revolution, aber sie nutzten die
       Umstände, die ihnen aufgezwungen wurden, letztendlich zum eigenen Vorteil.
       Durch das Gebot der Verschleierung entfielen die Vorbehalte konservativer
       Eltern gegen die Mädchenbildung; Millionen junge Iranerinnen machten sich
       im Tschador oder mit Kopftuch auf in eine Welt, die ihnen vorher
       verschlossen war.
       
       Als organisierte Kraft ist die iranische Frauenbewegung jedoch über die
       Grenzen des Bürgertums nie hinausgekommen. Kampagnen gegen rechtliche
       Diskriminierung verebbten, weil ärmere Frauen dafür nicht zu mobilisieren
       waren: Sie sorgten sich mehr um das tägliche Familieneinkommen.
       
       Könnte der zivile Ungehorsam auf der Straße nun ein Zeichen sein, dass
       Klassengrenzen bröckeln? Diese Grenzen spielen keineswegs nur für
       Frauenbelange eine Rolle. Es fehlt an klassenübergreifender Solidarität –
       das ist der eigentliche Grund, warum es in Iran keinerlei Führung oder
       Repräsentanz oppositioneller Strömungen gibt. Lebensweltliche Gräben
       klaffen bereits zwischen oberer und unterer Mittelschicht.
       
       Erstere trug die Grüne Bewegung von 2009; letztere, ständig weiteren
       Abstieg fürchtend, machte sich an der Seite von noch Ärmeren bei den
       jüngsten Unruhen Luft. Auch hier waren es Frauen, die versuchten, eine
       Brücke über den Graben zu schlagen: 200 Aktivistinnen verteidigten in einer
       namentlich gezeichneten Erklärung die Berechtigung der Proteste, denen
       andere Bürgerliche misstrauten.
       
       [1][Der Kopftuchzwang hat in der Bevölkerung keine Mehrheit]; das stellten
       sogar Befragungen durch Regierungsstellen fest. Dass solche Erhebungen
       überhaupt stattfanden, zeigt: Über eine Aufhebung oder Modifizierung des
       Gesetzes nachzudenken, ist kein Tabu mehr, jedenfalls nicht für die
       Moderaten und einen Teil der Geistlichkeit. Auch werden Verstöße nicht mehr
       so geahndet wie früher. Auf den Straßen der Städte gehen jetzt manche
       Frauen einfach ohne Tuch, ganz unspektakulär. Gerade das zeigt, wie ernst
       es ist.
       
       Die Frage, vor der die verschiedenen Fraktionen des Machtapparats stehen,
       lautet: Kann die Islamische Republik mit einer neuen sichtbaren Kultur von
       Protest und Dissidenz leben, so wie sie sich in der Vergangenheit damit
       arrangiert hat, dass die Iraner im Privatleben alles erdenkliche Verbotene
       tun?
       
       Die Antwort ist offen.
       
       7 Feb 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Wiedemann
       
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