# taz.de -- Russisches Biopic auf der Berlinale: Geflüsterte Verse
       
       > „Dovlatov“ von Alexej German jr. erzählt von einem Dichter der späten
       > UdSSR. Zu Lebzeiten nicht gedruckt, wird er später zur Kulturfigur.
       
 (IMG) Bild: Leningrad im Oktober
       
       Ein junger Mann mit ängstlichem Gesicht steht im Türrahmen und flüstert
       einem anderen (korpulent, dunkel, gut aussehend) Konspiratives zu. Nein,
       nicht um ein geheimes Treffen geht es hier, nicht um Perversionen oder eine
       Verschwörung. Der junge Mann rezitiert nur leise Verse. Eigene Verse.
       Ungedruckte Verse. Verse über die Kälte und damit verbundene Gefühle, die
       wie ein Brand im Ofen der Schmerzen seien in dieser schmucklosen Welt.
       
       Dass sein Zuhörer ihm beipflichtet, das Gedicht gut findet und ihn darüber
       hinaus in seinen Freundeskreis am Küchentisch einweiht, wo noch weitere
       nicht publizierte und nicht ausgestellte Leningrader Künstlergenies
       versammelt sind, macht ihn glücklich, vielleicht: erst zum Menschen. Vom
       physischen Rekordarbeiter im Schacht wird dieser Anton Kusnetsov, innerlich
       zumindest, zum metaphysischen Dichter.
       
       Gespielt wird er von dem Schauspieler und Poeten Anton Schagin, der schon
       2011 den Berlinale-Wettbewerb beehrte, in der Hauptrolle des leider von
       kaum jemand verstandenen Meisterwerks „An einem Samstag“ („V subbotu“), als
       Widerständler im Tschernobyl-Irrsinn.
       
       ## Revolution und Depression
       
       Der schweigsame, sanfte Zuhörer ist Sergei Dovlatov: 1941 in der Evakuation
       in Ufa geboren, 1990 in der Emigration in New York gestorben (ein typisches
       Sowjetschicksal). Er ist der Protagonist dieses atmosphärisch großartigen
       und minutiös arrangierten Biopic-Films, der im November 1971 den durch ein
       trübes Leningrad ziehenden und in den Redaktionen der
       Literaturzeitschriften erfolglosen Schriftsteller sechs Tage lang
       begleitet.
       
       Die Vorbereitungen zur großen Oktoberfeier sind in vollem Gang, Lenin, rote
       Banner und Marx dazu, kurz danach wird sich ein weiteres Mitglied besagter
       Dichterclique (Joseph Brodsky) zur Emigration gezwungen sehen. Als Parasit
       saß er davor schon in Haft. Druck und Depression wurden selbst dem Halbgott
       zu viel. Dovlatov gibt erst 1978 auf. Der Film beschreibt sein Ringen um
       seine Existenz.
       
       Dovlatov war Halbjude, Halbarmenier und galt vielen als der populärste
       unter den Schriftstellern der späten UdSSR. Was für eine Bedeutung er als
       Kultfigur für die in den postkommunistischen 90er Jahren initialisierte und
       sozialisierte Generation hatte, wird er selbst nie erfahren. Seine Prosa,
       die alltagsdicht und einfach geschrieben ist, ironisch, treffsicher und
       trotzdem gutmütig, werden Millionen lesen, allerdings erst nach seinem Tod.
       
       ## Die Intelligenz am Küchentisch
       
       Zu Lebzeiten wurde das, was er wirklich schreiben wollte, nicht gedruckt.
       Davon handelt „Dovlatov“: von einer Intelligenz, die nicht abgehoben über
       dem angeblich einfachen Bürger schweben, sondern high and low fließend
       versteht, Brücken bauen will zwischen Kunst und Lebensrealität, von der
       Antike über die Moderne bis in die Zeit der soviet beatniks. Gemeinsam mit
       Schmugglerfreunden bringen sie Pink Floyd und Rothko in die Welt jenseits
       des Vorhangs (der Freund muss dran glauben, der KGB greift durch).
       Gemeinsam mit der Generation ihrer Mütter sitzen sie am
       Kommunalka-Küchentisch und verstanden sich mit ihr, besser, als es dem
       Sowjetregime lieb sein konnte.
       
       Warum sich der Regisseur und Dovlatov-Fan Alexei German jr. diesem
       moralischen Rückgrat seiner Heimat jetzt widmet, hat viel mit den
       Veränderungen zu tun, die Russland heute ereilen. Sein fünfter Langfilm
       schließt völlig stimmig an sein Œuvre an, besonders an den Gewinner des
       Silbernen Bären von 2015 „Under Electric Clouds“, in dem die verlorene
       Intelligenz des Postsozialismus im Nebel des finnischen Meerbusens
       umherirrte.
       
       „Dovlatov“ ist eine große Allegorie: auf eine Zeit, die bleiern ist und
       zermürbend. Gehen oder bleiben? Der Weg der Fehler, Enttäuschungen und
       Hoffnungen ist der richtige, sagt am Ende Dovlatov. Und mit ihm Alexei
       German.
       
       25. 2., 17.15 Uhr, FSP
       
       25 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Wurm
       
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