# taz.de -- 68er-Proteste in Japan: Ausufernde Gewalt auf allen Seiten
       
       > Wer in Japan zum Studieren in die Städte zieht, muss enge Unterkünfte und
       > volle Hörsäle ertragen. 1968/69 entlud sich die Wut darüber in der
       > Revolte.
       
 (IMG) Bild: Gegen den Sicherheitsvertrag zwischen Japan und den USA: Eine Protest-Lesung aus der „Mao-Bibel“
       
       Ryu Murakami ist 16, als er zum 68er in Japan wird – auf dem Dach seiner
       Schule in Sasebo im Süden des Landes. Mit Mitschülern verbarrikadiert er
       sich dort kurz vor den Sommerferien. Sie wollen das nationale
       Schülersportfest boykottieren, Murakami ist ihr Anführer. Es ist ihr
       Protest gegen ein System der Drangsalisierung, der sich übers ganze Land
       erstreckt – und in Sasebo früh erprobt wurde, als junge Menschen dort am
       19. Januar 1968 gegen die Ankunft des Flugzeugträgers „USS Enterprise“ in
       der örtlichen US-Militärbasis demonstrierten, niedergeknüppelt von der
       Polizei.
       
       Ryu Murakami, 66, ist der stärkste Repräsentant des Aufstandes von damals.
       Politiker wie Joschka Fischer oder Intellektuelle wie Jürgen Habermas wird
       man in Japan vergeblich suchen, es gab auch keinen Rudi Dutschke; bis heute
       mangelt es an Reflexion über die Zeit.
       
       In seinen Büchern, Interviews und Filmen setzt sich Murakami für mehr
       Freiheit vor allem der Jugend ein und kritisiert Bürokraten und Politiker
       für ihre Fixierung auf Ordnung und Wachstum. Als er 1969 das Schuldach
       besetzt, haben sich binnen eines Jahres die Unruhen von den Unis der
       Hauptstadt Tokio auf Hochschulen und Schulen im ganzen Land ausgebreitet.
       Studenten gründen Kampfräte, Kennzeichen der Zenkyoto sind Helme und lange
       Kanthölzer. Darunter mischen sich linke Gruppen, die schon 1960 massiv,
       aber vergeblich gegen einen Sicherheitsvertrag mit den USA protestiert
       hatten.
       
       Seine Teilnahme an den Protesten verarbeitet Murakami in dem Roman „69“.
       Ken, der Protagonist, vergleicht Japans Erziehungssystem mit einer Fabrik
       für dressierte Tiere und begehrt dagegen auf. Damit trifft der Roman den
       Kern der Studentenbewegung.
       
       ## Wütend und orientierungslos
       
       Damals pauken Hunderttausende Oberschüler unter der Knute von Lehrern und
       Eltern jahrelang für die Aufnahmeprüfung der Universitäten. Das Studium
       soll ihnen eine lebenslange Anstellung bei einem Großunternehmen
       einbringen, bis heute das Maß aller Dinge. Wer zum Studieren in die Städte
       zieht, muss beengte Unterkünfte und überfüllte Hörsäle ertragen. Dort staut
       sich die Wut, die sich in der Revolte entlädt – in ausufernder Gewalt.
       
       Die Polizei reagiert darauf so massiv, dass die Bewegung nach zwei Jahren
       so plötzlich verschwindet, wie sie entstanden ist, nur eine Minderheit
       radikalisiert sich. Im Februar 1972 sterben bei einem Streit innerhalb der
       Vereinigten Roten Armee in einem Bergversteck zwölf Menschen. „Nach diesem
       Schock für die wenigen verbliebenen Aktivisten verfiel die Bewegung in
       völlige Stagnation“, sagt Eiji Oguma, Politologe an der Keio-Universität.
       Japans 1968 sei eine kollektive Reaktion auf wirtschaftliche Wachstumsraten
       von 10 Prozent und die Anfänge der Konsumgesellschaft gewesen. Der
       Vietnamkrieg habe keine große Rolle gespielt.
       
       Im Protestjahr gewinnen die regierenden Liberaldemokraten die Wahl, seitdem
       sind sie fast ununterbrochen an der Macht. Bis heute seien die Japaner
       wütend und orientierungslos, „weil wir nie diskutiert haben, was für ein
       Japan wir eigentlich bauen wollten“, sagt Murakami.
       
       9 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Fritz
       
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